Wild gefährdet den Bergwald
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Wild gefährdet den Bergwald

In den Bergen tummelt sich mittlerweile so viel Wild, dass es die Waldverjüngung gefährdet. Der Forstverein fordert Massnahmen, in Kritik geraten auch Wildruhezonen und Jagdbanngebiete.

Den Schweizer Wildtieren geht es gut. Sehr gut. 86 500 Gämsen, 36000 Rothirsche und 132000 Rehe lebten 2016 in den Schweizer Wäldern, mehr als je zuvor. Die Jagd vermag die Bestandeszunahme kaum zu bremsen. Und das nächste Schutzgebiet ist nie weit. Rund sechs Prozent der Fläche der Schweizer Alpen sind eidgenössische Jagdbanngebiete, jedes Jahr kommen Wildruhezonen dazu, in denen die Tiere den Winter über ungestört fressen können. Was nach einer naturschützerischen Erfolgsgeschichte klingt, hat aber eine Schattenseite: «Der Wald leidet», sagt Peter Brang, Leiter des Forschungsprogramms Wald und Klimawandel bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). In einem Artikel in der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen findet er deutliche Worte: «Weshalb hast du nichts getan?», werde man sich in 30 Jahren fragen. Denn die seit den 10er-Jahren konstant hohen Wildbestände setzten der Waldverjüngung vielerorts stark zu.

Angenommen hat sich der Sache der Schweizerische Forst- verein. Mit dem Positionspapier «Unser Wald braucht die Jagd» fordert der SFV Jäger und Behörden auf, sich verstärkt gegen den Verbiss einzusetzen. «Die Wildtierhufbestände strapazieren die Waldverjüngung durch Verbiss in Teilen der Schweizer Wälder so stark, dass einzelne Baumarten ganz ausfallen», so der SFV in seinem Schreiben. Wissenschaftliche Rückendeckung erhält er durch andere Arbeiten der WSL. Andrea Kupferschmid forscht dort seit Jahren nach den Zusammenhängen zwischen Wildverbiss und Waldstrukturen. Nach den Untersuchungen auf insgesamt 49 Waldflächen unter anderem in den Kantonen St. Gallen, Thurgau und Schwyz kommt sie zum Schluss: «Es gibt eine lineare Zunahme des Endtriebverbisses bei steigender Wildpopulation.» In ihrer 2015 erschienenen Studie schreibt sie ausserdem: «Auf einem Drittel der beurteilten Waldfläche (ca. 250 000 ha) ist der Wildeinfluss für die Waldverjüngung ein wichtiges Thema.»

Jagdbanngebiete überdenken

Besonders drastisch sind die Auswirkungen des Wildschutzes im Jagdbanngebiet und Pro-Natura-Schutzgebiet Aletsch­wald. Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH) und die WSL halten fest, dass er bei der momentanen Entwicklung langfristig nicht in der heutigen Struktur erhalten werden kann: Aufgrund des hohen Verbisses kommen zu wenig junge Bäume nach.

Dass sich der Wald ausgerechnet in einem Schutzgebiet kaum verjüngen kann, ist symptomatisch für den Konflikt zwischen Wald und Wild. Brang sieht einen Graben zwischen einem Teil der Jäger und Tierschützer einerseits und den anderen Nutzniessern des Waldes andererseits. Dabei hätten die Tierfreunde seit Jahren die Oberhand. «De facto ist in erheblichen Teilen des Schweizer Waldes die Lebensraumfunktion für wenige Wildhuftierarten zur Vorrangfunktion geworden, ohne dass dies in den Planungsdokumenten festgehalten ist», kritisiert er.

Der Wildtierverbiss verhindert auch die Anpassung des Waldes an die Klimaerwärmung, wie Sandro Krättli, Mitglied der Kommission Umwelt und Raumentwicklung des SAC, erklärt: Bei den gegenwärtigen Schalenwildbeständen kämen in zu vielen Gebirgswäldern ohne Schutzmassnahmen nur Fichten bei den Nadelbäumen und Buchen bei den Laubbäumen auf, die an die wärmeren Temperaturen besser angepassten Baumarten, etwa die Weisstanne, der Bergahorn und die Vogelbeere, fielen den Wildtieren zum Opfer. Die Folge: Der Wald kann sich nicht anpassen und ist langfristig gefährdet.

Brang fordert ein Umdenken. Es brauche Lebensraumverbesserungen und Bestandesreduktionen bei Wildhuftieren. Zudem müsse man die Wildschutzgebiete, insbesondere die Jagdbanngebiete, überdenken: «Sie waren das richtige Instrument, als Wildhuftiere selten waren», sagt er. Der ursprüngliche Zweck der Jagdbanngebiete sei es gewesen, die Wildpopulationen wieder aufzubauen. Tatsächlich lebe man aber nun seit bald 50 Jahren mit für den Wald kaum mehr tragbaren Überbeständen. Ein Ende sei trotz der Rück- wanderung einzelner Grossraubtiere nicht in Sicht.

Den Einzelfall betrachten

Beim Bundesamt für Umwelt (BAFU) sieht man die Sache völlig anders. Gerade Jagdbanngebiete und Wildruhezonen seien geeignete Mittel zur Vermeidung von Wildschäden.

«Sie helfen, im Winter das Nahrungsbedürfnis von Wildtie- ren, insbesondere das von Hirschen, herunterzufahren, und können somit auch zu einer Reduktion des Verbissdrucks führen», sagt Claudine Winter, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim BAFU. Während der Hochjagd im September könne es in Jagdbanngebieten zu Kumulationen von Hirschen kommen, weil diese dem Jagddruck ausserhalb des Gebiets ausweichen würden. In solchen Situationen könne man aber bereits heute in diversen Regionen auch innerhalb von Jagdbanngebieten in die Wildbestände eingreifen.

Dem widerspricht Sandro Krättli: «Schutzgebiete führen nicht zwingend zu weniger Wildverbiss, entscheidender ist viel mehr, wie viel Tiere es in einem bestimmten Gebiet hat», sagt der Bündner Forstingenieur. Letztlich dürfe es nicht sein, dass man auf einen Anstieg der Population nur mit einer Ausweitung der Schutzgebiete reagiere, seien dies Wild­ruhezonen oder Wildschutzgebiete. Klar hätten die Tiere in ungestörten Gebieten weniger Stress, aber der Zusammenhang zwischen solchen Schutzgebieten und weniger Wildverbiss sei wissenschaftlich nicht geklärt, so Krättli. Er stellt Wildruhezonen nicht per se infrage. «Aber die Gebiete sind teilweise zu gross ausgeschieden und werden dann ungenügend kontrolliert, was ihre Wirkung schnell verpuffen lässt», moniert er. Sowohl die Wildruhezone in St. Antönien als auch diejenige in Conters bei Klosters sind Beispiele, die man optimieren müsste, so der Prättigauer Forstingenieur weiter. Letztlich sollen mehr Tiere nicht zu mehr Ruhezonen führen, sondern die Bestände müssen zwingend an die Lebensraumkapazität angepasst werden – und nicht umgekehrt. Und auch WSL-Forscherin Andrea Kupferschmid, die sich von einer fundamentalen Kritik an Jagdbanngebieten und Wildruhezonen ausdrücklich distanziert, sieht Bedarf für ein genaueres Hinschauen: «Man müsste letztlich im Einzelfall überprüfen, wo sie aus Sicht der Erhaltung der weiteren Waldfunktionen Sinn ergeben», sagt sie.

Quelle

Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 168 (2017) 4: 195–199

Durch Verbiss besonders bedrohte Arten

Die Wildhuftiere fressen diverse Pflanzenarten. In den höher gelegenen Wäldern sind vor allem die Weisstanne und der Bergahorn vom Verbiss betroffen. Im subalpinen Raum und in tiefer gelegenen Zonen kommen neben anderen Arten auch die Vogelbeere, die Eibe und die ­Eiche als Nahrung infrage. Laut Andrea Kupferschmid von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) ist insbesondere die Bedrohung für die Weisstanne ernst zu nehmen: «Denn diese bietet den Tieren im Gegensatz zu anderen Arten auch im Winter eine Nahrungsmöglichkeit.» Dabei sei sie weniger konkurrenzstark als beispielsweise die Fichte. Ihr Vorkommen leidet dementsprechend mehr. In tiefer gelegenen Regionen ist speziell die Eiche schützenswert. «Zu ihr gilt es Sorge zu tragen, weil sie besonders resistent gegen Trockenheit ist», so Kupferschmid. In Zeiten des Klimawandels sei dies eine wichtige Eigenschaft.

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