Wildhorn und Wildstrubel im Winter
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Wildhorn und Wildstrubel im Winter

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Arthur Nägelin, Basel

Bilder yy bisyg DAS WILDHORN, 3264 METER An einem Samstagabend im Februar ziehen wir mit geschulterten Ski vom Bahnhof Lenk aus bergwärts. Ringsum tiefer Schnee; noch leuchtet er sonnenhell von den Hängen und Gipfeln, und sein Widerschein übergiesst das schattige Dorf mit mildem Licht. Das Gehen auf dem matschigen Schnee der Strasse ist mühsam. Zwei unserer fünf Kameraden kaufen noch Proviant ein; wir andern beschauen uns unterdessen das ins Dorf heimkehrende Ski- und Schiittelvolk. Das löst bei mir die Erinnerung an einen Spätsommerabend in S-chanf aus: Eine buntscheckige Herde, die den Tag auf fetter Weide genossen hatte, zog dort meckernd, blökend und muhend gemächlichen Schrittes stallwärts; hie und da « läppte » ein Tier aus dem Brunntrog den Schlummertrunk. Ja, so mutet mich jetzt die bunte Schar der Feriengäste an, welche plaudernd, lachend oder auch selbstgefällig in die Hotels zurückpendelt. Einige genehmigen noch einen « Drink », verabreden ein Rendez-vous; jene stattliche Schöne dort, in leidlich passendem Après-Ski, wendet sich uns zu und ruft ihrem überzüchteten « Foxli », das gerade mit einem einheimischen Köter anbändeln möchte: « Fuss! ». Die aus dem Laden tretenden Gefährten unterbrechen meinen Gedankenflug. Wir schreiten tüchtig aus; es wird kälter, und der Strassenpflotsch gefriert. Der Weg wird einsam, mit Schellengebimmel fahren ein paar Holzer-schlitten in flottem Gleitlauf zu Tal.

Fünf Stunden bis zur Wildhornhütte! Während ich ein wenig stumpf die trottenden Füsse meines Vordermannes fixiere, schweifen meine Gedanken nochmals zum bunten Gewimmel im Dorf zurück; eigentlich hätte ich gern noch ein Weilchen dort zugeschaut und die Trachten der Weiblichkeit bewundert: straffe Hosen, farbenfrohe Pullover, Blusen und Jäckchen, grelle Tüchlein um frische Gesichter, hübsche oder abwegige Frisuren und dergleichen mehr. Plötzlich merke ich, dass ich ja gar keine Männer ins Auge gefasst habe. Frauen sind offenbar mehr darauf aus zu gefallen oder wenigstens aufzufallen; getan wird da allerlei, und alles vielleicht für uns Männer -ja, so sind wir!

Bereits nähern wir uns dem Wald, der- sich schwarz von den goldglänzenden Halden des Laufbodenhorns abhebt. Wir schnallen die Ski unter die Füsse.Vor uns stellt sich ein Hang mit einzelnen Tannen auf, zwischen denen sich soeben eine Kolonne von Offizieren hindurch-schwingt. Sie berichten, wegen schlechter Witterung und Lawinengefahr sei ihr Gebirgskurs von der Wildhornhütte nach Lenk verlegt worden. Wir wünschen Ihnen einen fröhlichen Abend im Dorf unten und begutachten ihre Abfahrt, bis sie unseren Blicken entschwinden.

Das Gelände steigt an, die Gespräche verstummen. Eine tiefe Skispur führt uns zum Iffigental; aus dem weichen Dämmerlicht des Waldes gleitet der Blick aufwärts zum blauen, fast violetten Abendhimmel; dort oben segeln ein paar rosige Schäfchen dahin. Ein dicker, frostiger Schneeteppich bedeckt alles Jungholz am Weg, Wildspuren kreuzen den Pfad und verlieren sich im geheimnisvollen Dunkel... Wie gerne möchte ich einmal als einsamer Beobachter dem Tun und Treiben im Winterwald nachspüren! In langen Zügen atme ich die mit Tannenduft gesättigte Luft ein, freue mich am Rhythmus des Steigens, weiss mich mit den Kameraden « im gleichen Schritt und Tritt ». Froh sehe ich dem Abend in der Clubhütte und der morgigen Fahrt entgegen; auch denke ich an meine liebe Frau, die mit grosszügigem Verstehen den Mann immer wieder zu Berg ziehen lässt. Friede und stilles Glück erfüllen mich. Vielleicht ist dies der wahre Reichtum, und die Ruhe hier ist mehr wert als der Lärm der Welt.

Schal und fad erscheinen mir jetzt die Rummelplätze städtischen Strebens und Vergnügens.

Dafür gibt es dort unten im Dunst eingebildete Kranke und Nervenbündel, die essen und trinken, was Gaumen und Gurgel erheischen, die um-herrasen, rastlos Geschäfte tätigen, ungern Treppen steigen ( denn Zeit ist Geld ), telefonieren und kabeln. Ihre Zwischenverpflegung besteht aus Gesundheitstabletten mancherlei Art, und spät in der Nacht hilft eine Schlafpille darüber hinweg, sich unnützerweise über einen oft sinnlos vergeudeten Tag zu grämen. Immerhin: am Tag des Herrn fährt man ins Grüne, picknickt zu Füssen des Autos oder Rollers, jagt weiter, belächelt den Fussgänger und begrüsst ihn mit Lärm, Staub und Gestank, fädelt sich auf der Heerstrasse in die endlose Kolonne der Benzingenossen ein, sucht listig zu überrunden und gefährdet dabei Menschen, Hühner und Katzen. Gewiss, es gibt auch zartbesaitete Fahrer, die den Staubpilger gütig aufnehmen; dann kommst du dir selbst als wertvolle Fracht vor und stellst fest, dass noch Leute mit Herz unter der Sonne leben. Aber alles rollt und ändert sich, und kaum mehr wirst du in Wald und Flur einen wackeren Männerchor antreffen, der « Schäfers Sonntagslied » erschallen lässt und dir mit seiner Pianostelle « Ich bin allein auf weiter Flur noch eine Morgenglocke nur... » ans Herz greift. Tempi passati!

Hoch überm Walde thront, wie eine Riesenburg, der Berg. Die Zinnen stehen in Abendglut; aber an den Flanken aus Eis und Schnee geistern in anmutigem Wechselspiel die Pastellfarben der Dämmerung; in den Talgründen gehen sie in ein sattes Violettgrau über. Ja, hier oben wird der Wandel vom Tag zur Nacht zu einem harmonischen Ausklingen. Zu Hause knipst man den Schalter und zerreisst mit brutalem Licht das geheimnisvolle Farbenspiel des Eindämmerns. Überhaupt, so kommt es mir vor, geschieht in der Stadt alles plötzlich; jede Begebenheit überfällt uns schlagartig, es fehlt der harmonische, organische Übergang.

Kurze Rast auf der Iffigenalp, auf dem trockenen Holzboden der Terrasse eines Ferienhauses. Jeder kramt im Rucksack; es bietet mir Kurzweil, die aus dem Dunkel an mein Ohr dringenden Geräusche zu analysieren: Gewiss, da beisst einer herzhaft in den Apfel, dort wird eine spröde Wursthaut abgezogen oder ein Ei geschält... Bei einem dritten muss vermutlich eine Schokolade-tafel dran glauben, und ein spezifisch mahlendes Kaugeräusch verrät das Knäckebrot. Meine « Nüstern » wittern den Duft einer enthüllten Orange. Ein leichtes Beben des Holzbodens und ein wohliger Seufzer tun mir kund, dass einer sich behaglich ausstreckt. Mit der trockenen Mahnung « wir müssen weiter » breche ich meine De-tektivtätigkeit ab. Tiefe und dennoch heitere Nacht. Scharf und klar steht der wachsende Mond über dem Tannenwald, funkeln unzählige Sterne im unergründlichen Samtdunkel des Himmels.

Der Schnee knirscht, und die Finger kleben am Strammer; nur langsam kommt wieder Rhythmus in die kleine Kolonne. Die alte Spur zieht weit hinauf, bis sie plötzlich im Schatten eines Rückens verschwindet. Gewaltig reckt sich die blauweisse Wand des Mittaghorns empor, ein Nanga Parbat im kleinen; zur Rechten stehen schweigend die letzten Tannen des Iffigcnwaldes. Kalt und beissend streicht der Bergwind um Ohren und Nase. Ich werte ihn als Gutwetterzeichen und erfreue die Gefährten mit meiner Prognose.Gleich einer kleinen dunklen Wolke taucht die Erinnerung an das nervöse Stadtgetriebe auf; ich denke an drängende Arbeiten, an hetzende Kunden, an Dispute mit dem Chef und den Untergebenen. Aber jetzt geht es ganz gelassen und regelmässig schrittweise bergwärts; die Wolke verzieht sich, das Herz wird leicht. Gerade vor uns liegt der schwarze Bergschatten, schon hat er den vordersten Mann verschluckt; der Lichtkegel meiner Taschenlampe holt ihn ein. Endlich ist der Steilhang erklommen.

Welche Märchenpracht! Im Mondlicht schimmert, wie eine weiche weisse Spielwiese der Elfen, der Iffigensee. Ich möchte bleiben, auf die Elfen warten und ihren nächtlichen Tanz belauschen. Ringsum ein Flimmern von Kristall, Schnee und Sternen. Windstille und Ruhe; ich erahne die Nähe und die Grösse Gottes.

Es ist halb neun Uhr; nach kurzer Abfahrt durch tiefen Pulverschnee steigen wir zur Hütte an. Wir jodeln - Lichtsignale und Antwort folgen. Kurz nach neun Uhr stehen wir vor der verschneiten Wildhornhütte und begrüssen unsere Kameraden. Sie haben vor 2 Vi Stunden das leere und kalte Obdach erreicht und bewillkommnen uns mit Wärme, heisser Suppe und dampfendem Tee. Hüttenleben nach Brauch und Recht. Schliesslich erlaubt es die gesamte Mannschaft mit Dank, dass ich sie mit zarten Maulorgelklän-gen einschläfere und ihr acht Stunden später ebenso behutsam melodisch die Tagwache verkünde.

Klar ist der Sonntag angebrochen. Um acht Uhr ziehen wir von dannen, an der Spitze Edi als Leiter; ihm folgen Albi, Jean, Hans Beat, Kurt, Heini, Pfarrer Matthis, Thuri und Max. Eigentlich, denke ich, hat so ein Pfarrer in der Rüstung des alpinen Kriegers gar nichts Pfarrherrliches an sich; schon gestern abend war er mit seinem Humor und seinem Hüttenarbeitsgeist durchaus « einer der unsern ». Ich selber lasse ja meinen Beruf auch nicht jederzeit durchschimmern, und die nämliche Tugend zeigt auch unser geistlicher Clubkamerad.

Wir erreichen das Schneidejoch; die Gipfel leuchten im Frühgold. Der glitzernde Schnee und die Pracht der Landschaft nähren den Frohmut der Kolonne. Bevor wir den fleckenlosen Silbermantel des Wildhorns betreten, halten wir kurze Rast. Unsere Freude ob dem gloriosen Morgen lässt unversehens die Frage laut werden, warum eigentlich meist nur wenige Mitglieder an den Sektionstouren teilnehmen. Angesichts der strahlenden Bergwelt entspinnt sich eine lebhafte Diskussion. « Liegt es an den Leitern, am Tourenziel, am Tempo — oder etwa an der Kameradschaft? » Es kommt zu Sanierungsvorschlägen vielerlei Art. Tatsache ist, dass auf den Clubfahrten beinahe immer die gleichen Gesichter zu sehen sind. Wohl wagt es hie und da ein mutiger Neuling, sich un- serm Kreis zu nähern, und merkt dann bald, dass er sich harmonisch einfügt und im wahren Sinne des Wortes Teilnehmer wird, Teilnehmer an der Freude, an den Strapazen, am Bergerlebnis, und dass er auf die Kameradschaft der Gefährten zählen kann. Es sollte keinem schwerfallen, einen Versuch zu wagen, zumal das Tourenprogramm jeder Neigung Rechnung trägt. « Kommt jetzt », wirft Albi ein, « sonst schmilzt der Schnee weg, bevor wir mit dem Problem fertig sind! » Noch nie traf ich bis zum Wildhorngipfel hinauf solch flaumig weichen Schnee an. Zwei Farben dominieren: das tiefe Blau des Himmels und der blendend weisse Teppich des breiten Bergrückens mit der leicht ausgeprägten Spitze. Für diese zahme Südflanke passt kaum das Wort « wild ».

Wir sind am Ziel. Windstille auf hoher Warte ist ein besonderes Geschenk. In der fast unermesslichen Runde ragt Berg an Berg in klarer Pracht. Das Rätseln und Raten beginnt, das Bestimmen der Zacken und duftblauen Talfurchen - aber was sind schliesslich Namen! Ich halte es mit jenem biedern Bergführer, der auf die für ihn heiklen Fragen seines wissensdurstigen Herrn die schlichte Antwort gab: « Das sind halt Bärgen. » Und nun, auf zum Gleitflug! « Sammlung bei unserm Rastplatz am Fuss des Horns. » In wiegenden Schwüngen, mit eingeblendeten Schussfahrten, geht es zur Tiefe. Der Wind saust um die Ohren; es überkommt uns eine Art von Rausch bei den Rhythmen des Schwebens und Schwingens über das flaumig zerstiebende Weiss. Und zuletzt der eine Schneewolke aufwirbelnde Halte-schwung. Edi, der Leiter, ist auch schon am Ziel, und beide schauen wir aufatmend dem frohen Treiben der Kameraden zu. Bumms! das war ein Prachtsstück von einem Stern, der reinste Komet! Nach geraumer Zeit schält sich so etwas wie ein Urschneemensch aus der Wanne hervor, äugt « stürm » umher und schüttelt sich. Gottlob, er lacht, hascht nach den Stöcken und startet von neuem. « Hesch das gseh? » fragt er bei seiner Ankunft. « Ja, ja, mer hänns gseh! » - Die Jagd geht weiter - zum Rawilpass. Das breite Gelände lässt jedem Raum, eine ihm genehme Variante zu wählen. Alle neun kosten das Hochgefühl aus, welches das Dahintreiben im Sonnenglanz und stiebenden Schnee beschert. Mit Vergnügen erlebe ich auch heute wieder das Phänomen, Leute singen und jauchzen zu hören, die das sonst nur selten oder nie tun. Ungehemmte Freude ist ein Geschenk.

Beim Rawilpass sitzen wir unter einem besonnten Felsen beisammen, essen und rühmen begeistert die Abfahrt. Wörter wie « rassig », « phantastisch », « maximal », « s' isch z'viel » und dergleichen kann man als wahrheitsgetreu gelten lassen. Ich bestaune die durchgepflügte Strecke und treibe ein wenig Stilkunde: Der romanische Rundbogen herrscht vor, doch sieht man auch strenge gotische Schnörkel, und - schau, schau -dort aussen rechts hat ein Verehrer von Paul Klee seiner Sympathie fürs Abstrakte Ausdruck verliehen und eine lange, lange, mit Sternpunkten durchsetzte Gerade in die weisse Fläche graviert.

Plötzlich hebt mich ein lästiger Frager auf mein meteorologisches Steckenpferd; er weist nach oben, auf die Feder- und Schleierwolken, auf den milchigen Halo, der die Sonne verziert - Vorboten einer Störung. Mir kommen sie harmlos vor, dennoch weht der Ostwind, und der Westen ist heiter. Und dann kreuze ich unversehens in sprühendem Wortgefecht die Klinge mit Pfarrer Matthys und Lehrer Kurt. Es handelt sich um die Begriffe « Egoismus », « Besitz », « Eifersucht », « Treue ». Ich behaupte, der Mensch besitze in Wirklichkeit nichts, es seien denn seine Gedanken, seinen Glauben, die eigenen Freuden und Leiden. Sogar die Mutter besitzt ihr Kind nur so lange, als sie es unter dem Herzen trägt; bei der Geburt wird es zum Einzelwesen, gehört nur sich selbst -oder Gott. Wir können eine Blume pflücken, bewundern, zertreten - aber besitzen? Nie! Wir achten oder lieben einen Menschen, doch wird er nicht in unsern Besitz übergehen; er wird sich selbst bleiben und seiner eigenen Eingebung gehorchen. Irdische Güter können wir kaufen, verdienen, stehlen, uns an ihrer Schönheit freuen; sie gehören uns aber nur scheinbar. Es ist klar, dass wir nichts wirklich besitzen, was ausserhalb des kleinen Kreises des « Selbst » liegt, woraus sich ergibt, dass man auch nichts verlieren kann, was jenseits dieses Selbst vorhanden ist. Am Anfang und am Ende sind wir allein, in der Zwischenzeit nur Nutzniesser an den Dingen des Daseins. Alles ist und gehört sich selbst. Da merke ich soeben, dass ich meinen angebis-senen Apfel noch immer in der Hand halte, dass alle schweigen und nur ich allein predige, mit Glut und Feuer, gleich einem Rufer in der Wüste. Sogar der Herr Pfarrer ist still geworden. Mit träfen Sprüchen und wohlgezielten Schneebällen bringen mich die Kameraden auf den Rawilpass und in die winterliche Wirklichkeit zurück. Die Felle werden aufgezogen; es folgt der lange Aufstieg zur Wildstrubelhütte. Auf drei Varianten erstreben alle das gleiche Ziel, und natürlich glaubt jede Gruppe, die beste erwischt zu haben. Die Wolkendecke sinkt und wird dicht; bald werden wir mitten drin stecken. Hoch oben pflügt einsam der Tourenleiter eine steile Spur.

Um vier Uhr abends erreichen wir die Hütte bei leichtem Schneefall. Sie ist leer, feucht und kalt; im Essraum liegt sogar Schnee. Die Kälte weckt den Arbeitsgeist; der eine wischt, der andere holt frischen Schnee, der Pfarrer macht eifrig Kleinholz - für den Leiter, der heizt, was das Zeug hält, und, umbrandet von Rauch und Dampf, rüstig mit seinen Pfannen hantiert. Draussen Nebel und Flockengewirbel. Aber auch hier drinnen gibt 's Dampf und Frost. Kaum hat man den ersehnten Tee geschlürft -schon glitzert eine Eisglasur im Bauch der Tasse. Stundenlang wird gekocht, gegessen und getrunken. Endlich ein wenig Wärme! Aber an unsern beklagenswerten Max will sie nicht ran; noch immer sitzt er schlotternd in seiner Wolldecke da und gleicht auffallend dem Mahatma Gandhi während einer Fasten- und Bussperiode. Die Arbeitsfreudigen reissen sich ums Abwaschen ( wohl des warmen Wassers wegendann spiele ich mit meiner Maulorgel zum Tanz auf, und bald wird gehüpft, gestampft und gesungen, dass es eine helle Freude ist.

Vor dem Einnachten halte ich draussen in der Kälte stumme Zwiesprache mit dem Wetter. Gewiss, Scharfsinn, Phantasie und Glück in solidem Verein werden meine Prognose mit Erfolg krönen. Beim Wiedereintritt in die Hütte prophezeie ich dem Chor der ungestümen Frager:

« Morgen Höhen unter Föhneinfluss heiter bis leicht bewölkt. Nebel in den Niederungen. » « Und wenn 's nicht stimmt? » « Tja, dann vierteilt mich halt... » DER WILDSTRUBEL, 325I METER Gegen o Uhr ist Lichterlöschen. Beim Gedanken an den Holzpreis erlischt leider auch das Herdfeuer. « Und lass uns ruhig schlafen. » In dieser Nacht ohne Ende bleibt es beim frommen Wunsch. Bis jetzt habe ich den geduldigen Leser das Hochgefühl ahnen lassen, das mich überkam beim Erleben der Wunder der Landschaft, beim gloriosen Schwingen und Gleiten auf meinen Brettern, ja sogar beim Spintisieren und Diskutieren. Kurz, ich habe mich so stolz und quicklebendig gebärdet wie eine Forelle im Quellbach, erhaben über Weh, Raum und Zeit. Aber in dieser Nacht bringen es ein lumpiges Manko von ein paar Wärmegraden und ein nichtsnutziges Plus an Luftfeuchtigkeit fertig, die Forelle in einen zittrigen Klumpen zu verwandeln und überhaupt das gesamte Neuner-Team ins Reich des Heulens und Zähneklapperns zu verweisen. Denn gleich frischen Früchten oder Gemüsen werden wir in Bälde « tiefgekühlt », vielleicht erhöht dies zwar unsere Haltbarkeit. Alles Verfügbare ist auf dem Leib, und drum herum lasten vier bis sechs Wolldecken als feuchte Kompressen. Der Atem erstarrt zu Reif, und dieser bestickt die kopfnahen Deckenenden mit zierlichen Eiskristallen. Wir sind jedoch ihrer kalten Pracht wenig gewogen. Ich krümme mich gleich einem Embryo, aber das gibt Atem- und Herzbeschwerden. Was ist denn los? Bin ich alt und morsch geworden? Ich grüble nach allfälligen Symptomen der letzten Wochen, zum Glück ohne Ergebnis. Ich schnappe nach Luft, und das Herz schlägt wie verrückt. Noch nicht einmal Mitternacht; einige scheinbare Schläfer erwecken meinen Neid. Ich döse, bis meine Uhr die dritte Stunde zeigt. Also doch eine Spur von Schlummer; ihn zu erneuern gelingt mir freilich nicht. Allenthalben ist leichte Unruhe, denn auch in den andern acht Deckenwül-sten regt sich heimlich ein unfrohes Leben. « Man sollte sich entspannen, tief atmen. » - Kunststück; die Hundekälte lähmt solches Tun. Schiebe ich, gleich einer Schildkröte, den Kopf aus dem Dek-kenpanzer hervor, so murrt darob mein Skalp, welcher der Lockenfülle entbehrt; verkrieche ich mich in den Graus der Umhüllung, so geraten Lunge und Herz in Aufruhr. Daher wechsle ich ab und denke zur Erbauung an die früheren Clubtouren dieses Winters:

Balisalp: 7 Mann, wovon 5 Mitglieder des Exkursionskomitees ( jetzt werde ich hellwachWäggital: io Mann, wovon 5 vom Exkursionskomitee Jochpass: 8 Mann, wovon 4 vom Exkursionskomitee Rotsandnollen: 12 Mann, wovon 7 vom Exkursionskomitee Heute: 9 Mann, wovon 4 vom Exkursionskomitee - und für die bald fällige Tourenwoche im Britanniagebiet haben sich 6 Mann gemeldet, wovon 4 vom ExkursionskomiteeSiehe, daraus ergibt sich ja die Lösung des heiklen Exkursions-problems: wir erhöhen einfach die Mitgliederzahl des Exkursionskomitees auf, sagen wir, i oo Mann. Schätzungsweise wird ein Viertel dieser Belegschaft an den Sektionsfahrten teilnehmen; somit würde spielend eine durchschnittliche Zahl von 25 Mann pro Tour gewährleistet. Ei des Kolumbus! Nur wird mir nicht wärmer dabei.

Da blitzt erlösend eine Taschenlampe auf; Edi, der Leiter, tappt behutsam zur Küche hinab. Es ist halb sechs Uhr, und drunten am Herd wird es lebendig. Im Nu sind alle neun mobil und lärmen wie ein aufgescheuchter Spatzenschwarm. Ein erfrischendes Schimpfen über die verteufelt kalte Nacht ertönt und verrät mir tröstlich, dass auch die Kameraden nicht besser dran waren als ich. Das stärkt wiederum mein Selbstgefühl. Nun wird wacker dem Frühstück zugesprochen; trotz den aus Mund und Nase brodelnden Dampfwölkchen erwärmt sich die Tafelrunde sichtlich und wird dem Meteorologen gegenüber sogar aggressiv: « Thuri, du hesch versait, pass uff... » Draussen herrscht nämlich Nebel mit leichtem Schneetreiben. « So, so, ich habe versagt - und trotz allem Gemurre werden wir Sonnenschein bekommen! Wie einst der schwerbedrohte Galilei, bleibe auch ich bei meiner Überzeugung. Schon einmal seid ihr über mich hergefallen, damals am Rotsandnollen, als wir dank meinem topographischen Lapsus zu weit abfuhren, wieder ansteigen durften und dadurch zu zwei Abfahrten kamen, der falschen und der richtigen. Das war doch gewiss eine Bereicherung, und heute bereichert euch meine Prognose. » « Vielleicht auch nicht! » Um sieben Uhr marschierten wir ab in Richtung Wildstrubel. Bald beginnt es zu tagen, und der Nebel verfliegt. Glitzernder Pulverschnee liegt auf der Riesenfläche der Plaine morte. Stetig zieht der Leiter seine Spur, nicht genau Richtung Lämmernjoch, sondern zu einer bequemen Senke weiter östlich am Grat. Bereits leuchten an der Himmelskuppel da und dort blaue Flecken auf, zusehends zerreisst die Wolkendecke. Am südlichen Horizont schimmern in Pracht und Würde die Bergmassive des Penninischen Grenzwalls. « Deine Kamera ist viel zu klein, um diese Grösse einzufangen; das musst du, lieber Freund, mit Hilfe von Auge und Herz versuchen, dann wirst du noch in späten Jahren zu deiner Freude in jenem Album blättern können, das man Erinnerung heisst. » Wir kommen zum Südsporn des Wildstrubels. Die Sonne drückt durch; nur im Norden schwimmen noch Föhnfische umher. Kurze Rast. Blendend weiss strahlt der Lämmerngletscher herauf; östlich davon ragen die wuchtigen Klötze der Rinderhorn-, Altels-, Balmhornkette mit ihren Trabanten ins tiefe Blau. Über hartgepressten Schnee ersteigen wir schliesslich den Wildstrubelgipfel. Zu Häupten leuchtet der leicht umflorte Himmel, in den Tälern wogt ein Nebelmeer. Laut preisen die Gefährten den herrlichen Tag; ich stimme in den Jubelchor ein, und in aller Stille entfaltet sich in meines Busens Tiefe, bescheiden knisternd, ein schlichtes Pfauenrad. Mir ist beinah ', als hätte ich nicht nur eine flotte Prognose gebaut sondern als wäre dies Wetterwunder geradezu mein Werkja so sind wir.

Auf, zur Abfahrt! Wie wir aus alten Mären wissen, scharrt und stampft mutig das brave Schlach-tross und kann es kaum erwarten, bis ihm der Reitersmann die Zügel freigibt zum Sturm ins Kampfgewühl. Ähnlich ergeht es mir, nur dass ich, statt mit den Hufen, mit meinen straff montierten, langen Brettern herumscharre und die Weggenossen zur Eile ansporne. « Treffpunkt unten am Fuss des Lämmernhorns !» Endlich fahrt Edi los, die Meute folgt. Die starke Besonnung liess den Schnee feucht und schwer werden; trotzdem meistern wir ihn in beachtlicher Form, und unsere Arabesken vermöchten selbst der Nachwelt etwas zu bieten, wäre ihnen nicht ein unrühmliches Dahinschmelzen beschieden.

Dieses wiegende Gleiten zur Tiefe ist etwas anderes als der endlose, Knie und Fuss zermürbende Abstieg über Schrofen, Moränen, dachjähe Grashänge und steinige Alpwege - ein Abstieg, der zumeist das heisse Finale einer sommerlichen Bergfahrt bedeutet. Jetzt ist der Schnee der gefeierte Begleiter bis hinab ins Tal, derselbe Schnee, der bisweilen als Riesenbrett, als Staub- oder Grundlawine verheerend über Wald, Weiden und Wohnstätten dahinzufegen und in wilder Laune Breschen und Narben zu reissen beliebt. Gegensätze allerorten! Freilich, das Ding an sich ist weder gut noch böse, nur wir geben solche Werturteile ab, von unserer Perspektive aus. Wir wundern uns über so viel krassen Antagonismus, wie: hoch-tief, schwarz-weiss, heiss-kalt, Licht-Schat- ten, oben-unten, gut-böse, Seele-Körper, Leben-Tod und so fort, und kommen allenfalls zur verschwommenen Einsicht, dass das eine mit dem andern irgendwie verkettet ist, gerade dadurch an Relief gewinnt und verständlich wird - verständlich?

Hoppla! Ums Haar wäre ich mit dem wuchtig und keck daherrauschenden Albi zusammenge-stossen. Noch ein paar weitausholende Schwünge, und dann sind wir alle am Treffpunkt, lagern auf trockenem Fels am Fusse des Lämmernhorns. Dank der Windstille und Wärme darf man sich ruhig entblättern und die Haut der Sonne preisgeben.

Welch ein Kontrast zum kalten Grauen der letzten Nacht, zum Pessimismus, der sich noch heute früh in Unkenrufen verlautbarte! Vor kaum acht Stunden lagen neun ebenso missför-mige wie unfroh zuckende Puppen oder Larven auf den Pritschen der Wildstrubelhütte. Und jetzt - was für Prachtskerle von Sommervögeln sind herausgeschlüpft! Schwalbenschwanz, Apollo, Fuchs, Bär, Schwärmer, Pfauenauge und wie die farbigen Flügeltierchen alle heissen; jeder möge sich nach Belieben das ihm zukommende Namensschild umhängen; ich will nicht vorgreifen. Dieser hochgemute, neunköpfige Schmetterlings-schwarm ist beim Flattern durch Luft und Licht, entlang den blendenden Halden der Plaine morte und des Lämmerngletschers sprunghaft und le-benstüchtig geworden, hat sich soeben auf warmem Felsschutt zur Siesta niedergelassen und nascht sich genüsslich durch die offenen Rucksäcke, selbstvergessen und uneingedenk des im Tiefland lauernden Nebels, in den es binnen kurzem einzutauchen gilt. Aber lassen wir es bei dem schönen Vergleich bewenden, denn: « ...zu des Geistes Flügeln wird so leicht Kein körperlicher Flügel sich gesellen. » Ein munteres Geplätscher von Worten, Witzen und Sprüchen begleitet die Rast. Jeder verleiht seinem Hochgefühl Ausdruck auf die ihm gemässe Art. Doch selbst hier geht es nicht ohne leichte Trübung ab; eben wird ein guter Kamerad vom Zahnweh geplagt, und doch steht dort, wo es rupft und zuckt, überhaupt keine Zacke mehr. Der mitgeführte, bewährte Exkursionskomitee-Zahnarzt Max ist voller guten Willens; aber das Vollbringen bleibt aus. Es ist schon so: Zahn-ärzte, fern von ihrem blitzblanken und metall-funkelnden Marterkabinett, sind in der rauhen Natur draussen machtlos. Das gilt natürlich für alle Berufstätigen, die auf irgendwelche Utensilien angewiesen sind. Glücklich die rein geistigen Arbeiter; denn die führen im sichern Safe des Gehirns alles mit sich, was ihnen frommt - so sagt man. Der Patient wird mit einer Tablette aus der Küche der chemischen Industrie abgespiesen; er freut sich der kurzfristigen Aufhellung.

Noch liegen Fels und Schnee im Glanz des Mittags, und wir selber ledig aller Grillen und Sorgen. Aber irgendwo im Nordosten lauert auf uns eine kräftige Gebirgsfurche. Ohne viel Umschweife, einmal sogar in kühnem Tiefsprung, streicht sie aus einer Höhe von etwa 2900 Metern abwärts und erwischt den Talboden von Kandersteg bei der Kote 1200 Meter. Jenes Gefälle beschert eine mit Recht vielgerühmte Abfahrt; nur vermute ich, es sei in der Tiefe bereits frostige Luft und es woge dort - sofern meine so oft besungene Prognose noch immer stimmt - ein schiefergraues Wolkenmeer, das wohl bis zur Stadt am Rhein und in den dunklen Alltag hinein fluten wird.

Endlich gilt es die heitere, warme und so unbeschwerte Siesta aufzuheben, dem Südhang des Steghorns entlang über gleissenden Schnee den Roten Totz zu erklimmen und damit, als letzten Höhepunkt, den obersten Teil der Ueschinen-Furche zu betreten. Ein wenig lässig und zaudernd erstellt man die Marschbereitschaft; gegen das Ende einer Tour, besonders in unserer Sektion, schiesst der Individualismus ins Kraut. Jeder trottet einsilbig und versunken auf eigene Rechnung daher und frönt einer reichlich lockeren Marschdisziplin. Schliesslich sind wir ja keine Militärpatrouille! Hier mag freilich mit Recht der Tourenleiter Einspruch erheben; geht es schief aus, zumal bei Nacht und Nebel, bleibt die Verantwortung doch an ihm hängen. Nun, bis 93 « Chilchli »; Aufstieg zum Schnidejoch Photo Kurt Blattner, Basel 94 Ueschinentäli, Richtung Kandersteg 95Vom Simmental, Lenk, zum Wildstrubel Photos Max Frutiger, Basel 96 Aufstieg zum Wildhorn. Blickrichtung Rawilpass-Wild-strubel Photo Max Frutiger, Basel zum Roten Totz hinauf übt Edi, der Leiter, alle Nachsicht mit unserm Schlendrian.

Bissige Kälte herrscht auf dem Übergang zum Ueschinenthäligletscher; ohne Verzug treten wir an zur letzten und längsten Abfahrt. Rechter Hand streuen die schrägen Strahlen der Sonne ihren gedämpften Glanz über das Gehänge aus. Zur Linken liegen blaue Schatten über dem wunderbaren Kristallschnee. Unten lastet, beinahe bis zum Ueschinenseelein, wuchtig ein lilagraues Nebelmeer. Noch einmal gibt es stiebende Schussfahrten, noch einmal berauscht die Skiläufer der ungehemmte Rhythmus des Schwingens. Man taucht vom glitzernden Schnee der Sonnseite hinab in den blauen Schatten und erwischt in sausender Querfahrt wiederum den goldklaren Osthang. Es ist ein Wiegen, Federn und Gleiten von hüben nach drüben, sondergleichen, fast gar wie im Traum! Aber unerbittlich braut dort unten der Nebel; schon tauchen wir in den Kaltluftsee ein und spüren den feuchten Atem des Wolkenun-getüms.

Nördlich des kleinen Ueschinensees bleibt eine kurze Strecke weit die Furche beinahe eben; es ist, als zaudere sie vor dem Ansatz zum gewaltigen Tiefsprung dort vorn beim Felsenzirkus am Schwarzgrätli. Unschlüssig verlaufen hie und da ein paar Einschnitte oder Gräben, stehen oder liegen zerspaltene Felsklippen und ungefüge Klötze umher; jetzt vergoldet sie die sinkende Sonne, und seltsam grell stechen sie ab vom Wulstrand der Wolkenflut, von welcher uns nurmehr ein Dutzend Schritte trennen. Ja, diese schweigsamen Steinzacken sind so etwas wie eine unheimliche Pforte zur Unterwelt. Wir rasten dort eine Weile, klammern uns an Licht und Glanz der Höhe, an ein unerbittlich fliehendes Glück. Mutig ermannt sich der Tourenleiter, stösst nordwärts vor, und einer nach dem andern entweicht lautlos und schemenhaft ins Dunkel. Zuletzt muss auch ich dran glauben; was nützt das Zaudern und Zagen? Ich stosse ab, tauche im Nebel unter und fädle mich ein in die kleine Kolonne der Schicksalsgefährten.

97 Aufstieg zum Wildhorn Pholo Edi Ballisbeiger, Basel 98 Plaine-Morte-Gletscher ( Glacier de la Plaine Morte ) 99 Aufstieg zm Wildstrubelhütte l' hotosKurl Bl.mner. Basel Lebt wohl, ihr grauen Schatten, die ihr getrost ins Unvermeidliche hinabschwebt - und alles Gute! Sie können es wohl brauchen, wenn sie im fahlen Dämmerlicht sich mit den jäh zur Tiefe stürzenden Hängen beim Schwarzgrätli auseinandersetzen; wenn sie dem dunklen, dunstfeuch-ten Ueschinental ein wenig zögernd und schwankend entlanggleiten und weit unten, im steilen schwarzen Tannenwald, nach dem Ausschlupf zum Talboden von Kandersteg tappen müssen.Aber lassen Sie, geneigter Leser, Ihrem Berichterstatter noch etwas zu eigen von seinem Erinne-rungsgut! Es genügt ihm, Ihnen noch die « glück-sel'ge Heimkehr » aller Teilnehmer von dieser so trefflich geratenen Clubfahrt zu melden. Glauben Sie ihm: Es war eine grossartige Tour.

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