Winterliche Irrfahrt am Faulhorn
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Winterliche Irrfahrt am Faulhorn

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Otto Bucht ( Bern ) Längst wusste ich, dass ich mich nicht als seetüchtig bezeichnen darf. Sicher wäre ich der erste, der die leidigen Auswirkungen der Seekrankheit bei einer Meerfahrt zu spüren bekäme. Dazu hätte es keines neuen Beweises gebraucht. Überflüssigerweise versuchte an einem grauen Februarsonntag der Wind seine Kraft an den in regelmässigen Abständen die Station verlassenden Doppelsesseln der Firstbahn. In einer der « Schaukehl » kämpfte ich gegen das wachsende Unbehagen und hatte einmal keine Lust, in den wilden Gletscherzirkus des Kalli zu staunen, und die abweisende Fiescherwand liess mich gleichgültig. Als die bezuckerten Gipfel der Engelhörner über der Grossen Scheidegg auftauchten, atmete ich auf. Auf First wurde mir der Entschluss über das Tagesprogramm nicht schwer. Wohl versprach das Faulhorn keine sonnige Gipfelrast und keinen eindrücklichen Ausblick auf die blauen Seen von Thun und Brienz, aber wenigstens wäre ich dort fern vom Marterinstrument Sesselbahn.

In der langen Hangtraverse zum Bachalpsee, die leider den Aufstieg von First aus so eintönig erscheinen lässt, belebten sich meine Lebensgeister wieder, und die letzten 400 m Höhendifferenz zum Gipfel waren rasch zurückgelegt. Das Wetter hatte sich verschlechtert; bei unserer Ankunft auf dem Gipfel reichte die Sicht kaum mehr in den Sattel zwischen Faulhorn und Simelihorn. Ein Einzelgänger riss deshalb rasch die Felle von seinen Brettern und stach ins graue Nichts hinunter. Um das sonst an schönen Sonntagen so bevölkerte Berghaus strichen nur die Dohlen, nach den ab und zu hingeworfenen Bissen haschend. Ein langer Nachmittag lag vor uns beiden einsamen Tourenfahrern. Auch meine Begleiterin spürte offensichtlich keinen grossen Drang nach den verschiedenen Pisten der Firstabfahrten, obschon wir noch eine Fahrt vom Dorf bis zur Bergstation zugut hatten. So hatten wir keine Eile, sondern schützten uns vorläufig in einer Mauerecke vor dem immer stärker werdenden Wind. Heisser Kaffee trug zum trügerischen Schein der Geborgenheit bei, und die klammen Finger wärmten wir-abwechslungsweise am Borde-Feldflaschenkocher. Den Plan, über Bussalp nach Grindelwald hinabzufahren, mussten wir aber doch wegen ungenügender Streckenkenntnis fallen lassen. Der einsetzende Schneefall zwang uns zur Rückkehr auf bekannter Route. Eine Stunde nach Mittag richteten wir die Skispitzen talwärts. Aus einer stiebenden Fahrt wurde nichts. Wo wir sonst, weit vorausschauend, in flüssigem Lauf wenige Christianias hinlegten, tasteten wir uns, Bogen an Bogen reihend, durch das Schneegestöber zurück. Ob dem See fanden wir die ausgetretene Spur, die uns am Morgen hierher geleitet hatte, und gerne folgten wir ihr als sicherem Wegweiser zu Wärme und Geborgenheit. Vorläufig peitschte uns der Wind eisige Schneekristalle entgegen, und die wenigen ungeschützten Gesichtsteile schmerzten bald. Zu allem Unglück hörte auch die tiefe Spur auf, weggefegt vom Sturm. Nagende Zweifel über die Richtigkeit der eingeschlagenen Route kamen auf. Die Himmelsrichtung war ja durch den Verlauf des Hanges gegeben. Aber die Höhe? Gerne hätte ich den Kompass gegen einen Höhen- messer eingetauscht. Instinktiv war ich bestrebt, keine Höhe zu verlieren. Als wir dann plötzlich vor einem von Norden nach Süden laufenden Felsgrat standen, war die Überlegung nahe, zu hoch hinauf gespurt zu haben. Also rutschten wir ab, bis der horizontale Weiterweg möglich war. Verschiedene Male wiederholte sich das gleiche Manöver, bis plötzlich aus dem Schnee ein gelber Wegweiser mit Standortangabe auftauchte. Bachläger, 1980 m, hiess es auf dem Rettungsanker. Gross war mein Erstaunen, befanden wir uns doch rund 250 m tiefer als die richtige Route. Nach eingehendem Kartenstudium entschloss ich mich zum Wiederaufstieg. Der Abstieg nach den Hütten von Zum-Stein schien mir wegen Felsbändern nicht ratsam. Über Waldspitz wäre wohl ein Ausweg möglich gewesen, doch fürchtete ich die anschliessende « Abfahrt » durch den Wald. Nach der Karte zu schliessen, versprach dagegen der Aufstieg in NW-Richtung ein müheloses Zurückfinden auf die richtige Route und damit auch noch eine richtige Abfahrt auf einer der First-Routen und nicht ein mühsames Durchkämpfen durch die Wälder ob Grindelwald. Einen Faktor stellte ich aber zu wenig in Rechnung: die Zeit. Unbemerkt waren die Stunden vergangen, und es wäre angezeigt gewesen, so rasch als möglich auf irgendeinem Weg tiefer zu fahren und nicht nochmals aufzusteigen. Glücklicherweise bestand keine Lawinengefahr. Trotzdem suchte ich so rasch als möglich Höhe zu gewinnen, die steilen Hänge immer wieder abschätzend. Als endlich das Dach des Stadels bei Punkt 2262 aus der Schneedecke auftauchte, atmeten wir auf. Aber zu früh! Alle Spuren waren unter dem Neuschnee verborgen. Auf gut Glück spurte ich weiter in der Richtung, wo ich die Bergstation vermutete. Jetzt nach dem Kompass zu greifen, schien mir unnötiger Zeitverlust. Die Dämmerung war angebrochen, und ich wollte so rasch als möglich die kurze, noch unmarkierte Strecke zurücklegen. Im letzten Tageslicht brach plötzlich die Schneedecke vor mir zackig ab. Vorsichtig schob ich mich an den Rand, erblickte aber unter mir die gleiche grauweisse Masse, die uns seit Mittag umgab. Befanden wir uns am Abbruch des Widderfeldes, direkt nördlich der Bergstation? Nur wenn sich diese Vermutung bestätigte, konnte ein unfreiwilliges Biwak in einer Schneehöhle oder im günstigsten Fall in der kurz vorher passierten, verschneiten Hütte vermieden werden. So schnell es die Verhältnisse und die gebotene Vorsicht zuliessen, fuhren wir südwärts. Da, ein Windstoss riss ein Loch in die eintönige Mauer, und unter unserem Standort erblickten wir das Dach der Bergstation. In aller Eile wurde der Kompass auf eine Umgehung des Gratabbruches nach Westen eingestellt, und bei völliger Dunkelheit fanden wir uns zum Haus zurück.

Wenig genussreich war die Abfahrt von hier ohne Licht, stets die Abfahrtszeit des letzten Zuges als Mahner vor Augen. Am Bahnhof konnten wir nur rasch unseren aufatmenden einheimischen Freund aufklären. Da wir mit ihm auf 17 Uhr einen « Hock » vereinbart hatten, war er sichtlich besorgt um unser Verbleiben, und eine halbe Stunde später hätte er die Rettungsstation benachrichtigt.

Verständnislos bestaunten uns im Zug die vom Thé dansant kommenden Pistenhirsche und Pistenhasen. Bis wir Karte und Kompass verstaut und unsere nassen Kleider in Ordnung gebracht hatten, mussten wir manche nur schlecht versteckte, überhebliche Bemerkung hören. Uns bekümmerten die verständnislosen Spötter nicht, hatten uns doch die Berge einmal mehr bewiesen, dass selbst nur wenig abseits der weltbekannten Pisten das wahre Bergerlebnis gefunden werden kann. Die Erfahrung dieses Sonntags bewies auch die Richtigkeit meiner Auffassung, selbst Skitouren auf harmlose « Kuhberge » nur mit Reservekleidern, Karte und Kompass zu unternehmen. Skifahrer nur mit einer Tafel Schokolade in der Blusentasche gehören nicht auf Touren, sondern nur auf überwachte Pisten. Und trotzdem bestiegen z.B. letzte Ostern bei unsicherem Wetter Einzelgänger ohne jegliche Ausrüstung den Titlis!...

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