Zeit der Sanduhren
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Zeit der Sanduhren

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Text: Emil Zopfi, Obstalden ( Gl_ ) Photos: Robert Bosch, Oberägeri ( ZG )

Dann zog es uns in die Wand. Man kann nicht immer nur im Klettergarten klettern, sagten wir uns. Es läuft sich tot, die Zwanzig-meterrouten mit Umlenkung oben. Man musste wieder einmal das Wandgefühl erleben, den Weg zum Einstieg, den Blick in die Tiefe und in die Weite, den Berg und die Angst. Wir wählten den Schafberg oberhalb von Wildhaus im Alpstein mit einer netten, plattigen, sonnigen Südwand, durch die eine grosse Zahl von neuen, sportlichen Routen führt.

Heinz allerdings hatte uns gewarnt, von gesprochen und der Schwierigkeit, die Route zu finden. Wir gingen trotzdem.

Am Radio, im Auto, hörten wir Nachrichten aus Moskau, wo ein Putsch konservativer Kommunisten gegen Präsident Gorbatschow im Gang war. Panzer rollten durch die Stadt, Bürger hatten Barrikaden errichtet, es hatte Tote gegeben in der Nacht, doch die Truppen hatten nicht, wie erwartet, das russische Parlamentsgebäude gestürmt, in dem sich Boris Jelzin verschanzt hatte und Widerstand leistete.

( Glaubst du? Warumlch hab so das Gefühl. Sie zögern. Wahrscheinlich widersetzen sich die Truppen den Befehlen der Putschführer. ) Wir sassen in Grabs im Rheintal in einem Café, tranken Kaffee, assen Gipfeli. Aus dem Morgendunst ragten die Kreuzberge auf, ein zerbröckelndes Gebiss mit sieben Zähnen.

( Alpstein ), meinte Chris,

Wir dachten an Moskau, an den Putsch, und was wohl geschehen würde auf der Welt. Wir stiegen weiter, das Helikopterge-dröhn im Ohr, dachten auch daran, dass wir früher, vor vielen Jahren, im Kommunismus eine Utopie gesehen hatten, das Modell einer besseren Welt, in der jeder für jeden da war. Doch die Utopie war verkommen, verraten, zusammengekracht. Nichts Neues war mehr in Sicht, für uns nicht mehr. Für unsere Jungen vielleicht, das war unsere Hoffnung. Wir würden nicht mehr auf Barrikaden steigen.

In Sicht geriet jetzt die Wand, auf die wir steigen wollten. Eine graue Platte, ziemlich steil, durchsetzt von Grasbändern. Eines führte zu zwei Fichten, schon ziemlich über Grund, dann schien es grasbesetzte Felsstufen hinaufzugehen, in einen Trichter. Dort begann die Route. Ich schluckte, sagte nichts, marschierte los.

Schwer drückte der Sack, die Sonne trieb den Schweiss aus den Poren, das Herz klopfte. Wie schön war es doch auf der Galerie, mit dem Auto anfahren, aussteigen, klettern.

Doch ich liess mir nichts anmerken. Erzählte Heldengeschichten von früher, wie wir mit dem Velo nach Wildhaus geradelt waren, über den Ricken, das Toggenburg hinauf, mit Rucksäcken für eine Woche. Da unten auf Alp Tesel hatten wir im Heu geschlafen, draussen fegten Schneestürme durchs Tal. Doch heimgekehrt wären wir nicht. Wir hockten am Feuer, schlotterten durch die kalten Tage, redeten uns heiss übers Klettern.

Schau nicht zurück, schau hinauf. Die Tiefe wuchs, Tannenspitzen versanken im Abgrund, das Grasband wurde schmal, wir brauchten die Hände. Ruhig atmen, nicht zittern. Es ist alles halb so schlimm, wie es von weitem aussieht. Wir stiegen langsam hinauf, griffen ins Gras, hielten uns an Wurzeln fest. Wir waren allein.

Tief unter uns Wildhaus, drüben die sieben Gipfel der Churfirsten, die wir sonst jeden Tag von Süden betrachteten, wo sie in senkrechten Felswänden abstürzen zum Walen-see.Von hier aus waren es zahme Grasrücken, Skihügel. So hatte alles seine zwei Seiten. Auch das Knattern des Helikopters, der unentwegt vom Wind gefällte Fichten ab-transportierte. Denn wenn ich diese Arbeit tun müsste, erklärte ich Chris, würde ich auch lieber mit dem Funkgerät herumtanzen, als mit Muskelkraft die Bäume von Hand aus der Wildnis herauszerren.

Meine Muskelkraft sparte ich lieber für die Wand, denn nun standen wir am Einstieg, den eine dicke Seilschlinge markierte, die durch eine Sanduhr gefädelt war. Sanduhren sind ausgewaschene Löcher im Fels, geformt wie Henkel von Kaffeetassen. Äusserst praktisch für den Kletterer. Von der Natur zur Die Südwand des Wildhauser Schafberges Alpstein mit Säntis und Altmann Verfügung gestellt, gratis und franko. Die Sanduhr ist der Beweis, dass Klettern in der Schöpfung vorgesehen ist. Wenigstens hier und dort. Hier auf jeden Fall, denn die Route hiess: . Heinz hatte mir abgeraten.

Zu Recht vielleicht, denn steil stieg die Platte in den Himmel, hoch oben hing eine Schlinge, alt und dünn, in eine kleine Sanduhr gefädelt. Das war alles. Keine Haken, nichts, nur Natur weit und breit.

Oh Hans, dachte ich, was hast du mir da eingebrockt. Denn Hans Howald, der die Route entdeckt und eingerichtet hat, war ein Freund aus Hartschuhtagen. Zufällig hatte ich letzthin sein Gesicht in einer Computer-zeitschrift gesehen, er war nun Abteilungsleiter bei Unisys, ein Topmanager, und die Zeitschrift hatte von einer weiteren Beförde- rung berichtet. Ob Hans noch klettert? fragte ich mich. Und stellte mir vor, wie er jetzt in einem klimatisierten Büro mit verspiegelten Fenstern am ovalen Konferenztisch sass, Akten vor sich auf der Nussbaumfläche, rundum Herren in Dunkelblau mit Krawatte und weissem Hemd, Geruch von Seife und dem Parfüm der Sekretärin in der Nase, während ich seine Route in Angriff nahm, die Griffe prüfte, die er als erster Mensch berührt hatte.

Hans war ein Freak gewesen, einer der ganz grossen Kletterer, eine Zeitlang vielleicht der beste in der Schweiz. Monatelang hatte er im Yosemite Valley in Kalifornien

Ich musste Klemmkeile legen. Eine Leiste links, da müsste nur mein Fuss drauf, dann würde es weitergehen. Ich zwängte noch einen Friend in einen Spalt. Doch ich traute weder Friend noch den Klemmkeilen. Das waren keine Bohrhaken wie im Klettergarten. Die Stelle war leicht, doch die Angst wog schwer. Ich zitterte, atmete tief, suchte nach Griffen, ein Move. Weiter ging 's.

Links von mir hörte ich Steine fallen. In einer steilen Rinne hinter einem Felsturm, der aus der Wand ragte, stand eine Gemse, hoch oben auf einem Absatz, und schaute herüber. Setzte einen Huf vor, zog ihn wieder zurück. Hatte auch die Gemse Angst? Hatten wir sie vertrieben, oder suchte sie nur den Schatten der Rinne? Wir waren also nicht allein in der Wand, das beruhigte mich. Die Gemse schien alle Zeit der Welt zu haben, versuchte es hier, versuchte es dort, setzte dann mit einem Sprung auf einen höheren Absatz, rupfte dort bedächtig an einem Grasbüschel, der aus einer Spalte ragte.

Langsam stieg auch ich weiter. Ein Haken. Ein Baum. Dann ein Grasband. Stand.

Chris folgte langsam, die Querung zur ersten Sanduhr war für sie noch schwieriger, weil ich rechts eine Schlinge eingehängt hatte. Doch sie folgte, langsam kam das Seil. Sie habe sich die Gemse als Vorbild genommen, sagte sie am Stand. Ganz ruhig, habe sie sich gesagt, ganz sacht klettern. Tief durchatmen, warten, ruhen, weitersteigen. Die Unrast, die in uns steckt, die Hektik ablegen, ein neuer Mensch werden, nein, eine Gemse.

Zur Linken der Altmann, rechts der Säntis Sie zog sich aus, stand ( oben ohne> in der Wand, denn es war Mittag und die Sonne prallte nun direkt und unbarmherzig auf die weisse Felsplatte, die die Hitze fing wie ein Spiegel. Ein Überhang, nicht schwer, wieder ein Stand.

Die Tannen, tief unten, ragten auf wie Nadelspitzen. Dort sah ich einen jungen Burschen durchs Tal wandern, während ich Chris sicherte, einen kleinen braunen Rucksack trug er, ein Hanfseil aufgeschnallt, plumpe Militärschuhe mit Profilgummisohlen, dicke Socken, Windjacke. Man schreibt das Jahr 1959, es ist Pfingstsamstag. Der Bursche bricht auf zu seiner ersten Kletterfahrt mit der Jugendgruppe. In der Chraialp werden sie übernachten im Heu, am Sonntag Kletterübungen an kleinen Felsen, Sichern lernen und klettern, immer drei Punkte müssen in Ruhe sein und sicher, einer nur darf sich bewegen. Am Montag dann Besteigung des Altmann durch das Schaffhauserkamin. Da geht er, aufgeregt und voller Angst. Wie wird es sein in der Wand, werde ich überhaupt klettern können, bin ich schwindelfrei? Viel hat er darüber gelesen, Bücher verschlungen, die Serie über die Eigernordwand von Heinrich Harrer in der Schweizer Illu- strierten. Oh, er möchte grosse Berge besteigen, Fels- und Eiswände bezwingen, ein Bergsteiger werden, zeigen, dass er Mut hat und Kraft, obwohl er immer der Kleinste ist, der Geschundene und Getretene. Laufbursche in einer Fabrik, gehetzt und verhöhnt. Er möchte einen Sinn finden in seinem Leben und einen Weg zu sich selber. Klettern! Das war der Ausweg aus dem finsteren Tunnel, als der ihm der Alltag in der Fabrik erschien.

Stumm wandert er dahin, während die andern rundum von den Bergen erzählen, lachen, bluffen. Lass sie reden. Bald wird er den Altmann besteigen, durchs Schaffhauserkamin. Zum Westgrat nehmen sie ihn nicht mit, den Anfänger. Noch trägt er die Traurigkeit der schweren Jugend mit sich, doch vielleicht, so spürt er, ist der Berg sein Weg ins Leben, der Ausweg aus der Nacht. Er schaut links, er schaut rechts, die Wände, schroff und glatt, machen ihm angst. Doch er schweigt, er geht, der Rucksack drückt, er schwitzt, und in der Nacht im Heu friert er. Er geht seinen Weg, schaut nicht zurück.

Und ich sehe ihm zu aus der Wand, und es sind mehr als dreissig Jahre vergangen, als wäre es nur eine Sekunde gewesen. Braune Arme tauchen auf, der Heim, hennafarbene Haarsträhnen, das schwarze Leibchen. Chris hat es geschafft.

Jetzt schwang sich die Platte senkrecht und glatt auf, doch hoch oben steckten zwei Bohrhaken. Ich arbeitete mich auf feinen Reibungstritten höher, querte zu einem Riss, stieg in der Platte weiter, gesichert nun durch die Bohrhaken. Ein , weit unter mir die letzte Sicherung, und immer noch war die Platte schwer. Ein Loch mit einem Grasbüschel, feuchte Erde drin, war der letzte Griff. Ich steckte einen Friend hinein, der nicht sehr vertrauenerweckend sass, ich steckte ihn noch tiefer, kletterte weiter, endlich, der Stand. Meine Nerven waren am Ende, Müdigkeit überfiel mich beim Sichern. Chris folgte langsam, sehr langsam. , rief sie einmal.

( Natürlich halte ich>, versuchte ich mit ruhiger Stimme hinabzurufen. Obwohl der Stand nicht einmal einen Haken hatte, bloss eine kräftige Sanduhr, doch ich sagte mir, die Sanduhr, gewachsener Fels, hält mehr als jeder von Menschen gesetzte Haken. Das sagte ich mir immer wieder. Und schaute hinab über die ausgesetzte Wand, sah wieder Menschen wie Ameisen auf dem Alpweg, sah den jungen Burschen der Chraialp Mondaufgang über Säntis ( links ) und Altmann ( rechts )

zustreben. Drei Jahre sind vergangen. Da geht er, sein Herz zittert, doch nicht aus Angst vor dem Fels, denn er ist ein hervorragender Kletterer. Neben ihm wandert eine junge Frau. Die erste heimliche Liebe. Doch nie, niemals hätte er den Mut gefunden, ihr das zu sagen. Denn sie stammte aus einer andern Welt, sie hatte lange, perlmutterfar-bene Fingernägel, dunkle Haare, warme Augen, auf den Wangen ein Muttermal. Tochter aus gutem Haus, er ein kleiner Lehrling, ohne Geld, ohne Kultur, nur mit den Bergen im Kopf. Nein, nie wollte er eine Frau heiraten, die nicht kletterte.

Sie krochen auf der Chraialp ins Heu, froren, kletterten über den Westgrat auf den Altmann, für ihn eine kinderleichte Route, auch die junge Frau schaffte sie mühelos. Auf dem Gipfel drückten sie sich die Hand, kein Kuss, keine Nähe. Der Himmel war grau, ein kühler Herbsttag. Der Altmann blieb ihre einzige gemeinsame Klettertour. Bald schon verloren sie sich aus den Augen.

( Lass ihn. Ich hole ihn. Komm zum Stand. ) Flüche und Tränen, Endlich kletterte Chris weiter.

Erst viel später hatte ich sie wieder getroffen. Ich las an einer Mittelschule aus einem Buch vor. Während ich vorn auf dem Podium sass, schweifte mein Blick durchs Publikum. Die Frau war mir sofort aufgefallen, sie sass allein zwischen den Studenten, die sich hinten drängten, und der Reihe von Professoren mit ihren Gattinnen vorn. Sie sass allein, umgeben von leeren Stühlen, aufmerksam und einsam. Sie gehörte nicht zum Publikum, sie stammte aus einer andern Welt.

Nach dem Signieren kam sie auf mich zu. , sagte sie, , sagte ich. ( Deine Fingernägel waren lang, perlmutterfarben lackiert. Du hast keinen einzigen abgebrochen. Du warst ein Talent im Fels. ) Sie streckte mir ihre Hände hin. Die Fingernägel waren kurz, nicht mehr lackiert.

( Wie lang ist es herÜber zwanzig Jahre.Vieles hat sich geändert. ) ( Damals war ich noch jung und schüchtern ), sagte ich. ( Ich traute mich nicht einmal, dir einen Gipfelkuss zu geben. ) ( Die Erinnerungen an die Berge haben mir viel geholfen, später ), sagte sie. ( In schweren Zeiten habe ich mich immer wieder an den Fels, an all die schönen Tage erinnert. ) ( Ich habe deinen Namen manchmal noch in Hütten- oder Gipfelbüchern gelesen. ) ( Dann weisst du ja alles ), sagte sie.

( Ja>, sagte ich.

Ich packte meine Bücher zusammen. Draussen fiel Schnee, es war Winter. Wir schritten zu ihrem Wagen, standen eine Weile in der Kälte. Redeten dies und das. Bevor sie einstieg, holten wir den Gipfelkuss nach, den versäumten vom Altmann.

Chris kam zum Stand. Die Lust zum Weiterklettern war uns vergangen. ( Heinz hat doch recht gehabt ), sagte Chris. Wir seilten ab.

Die Gemse war ebenfalls tiefer geklettert. Sie schaute neugierig zu uns herüber, schien sich nicht zu fürchten. Wir sassen auf dem Grasband am Einstieg, assen, tranken, schauten in die Ferne. Einmal sagte ich: ( Wenn ich zurückblicke auf mein Leben, hier von der Wand aus, dann scheint es mir, als habe es nur aus Berg und Fels und Klettern bestanden. So nah sind mir all die Erfahrungen und Erlebnisse, wenn ich den Stein rieche, das dürre Gras, wenn ich den Wind höre in den Rinnen und den Bäumen da unten. Neben diesen Bildern verblasst alles andere, es scheint zu einem andern Leben zu gehören, einem längst vergangenen, einem, das so weit weg ist, als kenne ich es nur aus Büchern.

( Bist du traurig, dass wir umgekehrt sindNein>, sagte ich. ( Auch das Umkehren gehört dazu. Ich bin glücklich, dass wir ein paar Seillängen geschafft haben. ) Wir küssten uns. Gut, dachte ich, dass ich mir vorgenommen hatte, niemals eine Frau zu heiraten, die nicht klettert. Es war der beste Vorsatz meines Lebens.

Wir stiegen ab. Der Helikopter startete wieder, sein Dröhnen hallte von der Wand. Wir sassen in einer Gartenbeiz, tranken Kaffee. Am Autoradio hörten wir, dass der Putsch in Moskau gescheitert war. Junge Leute hatten Barrikaden errichtet, hatten sich den Panzern entgegengestellt. Es war ein historischer Tag.

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