Zoologischer Streifzug mit Jung England durch die Schweizeralpen
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Zoologischer Streifzug mit Jung England durch die Schweizeralpen

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durch die Schweizer Alpen.

I.

Es war ein trüber Februarabend des nassen englischen Winters 1923. Um die gotischen Bögen der ehrwürdigen Universitätstadt Cambridge floss der Nebel; er träufelte in tausend Tropfen über die Efeuteppiche, die die weiten Höfe bekleiden, und liess Türme und Erker in einem missfarbenen Zwielicht versinken. Grau und müde schlich der kleine Fluss durch den Wiesenplan, und der weite Grund, auf dem sonst im hellen Sonnenlicht die bunten Sportanzüge der Ruderer und Spieler leuchteten, lag tot und verlassen.

Meine Stimmung entsprach der nebelgrauen Umwelt. Es schien mir eine Ironie des Schicksals, ein grausamer Beschluss einer nicht allzu gütigen Vorsehung, dass ich gerade an einem solchen Abend einer löblichen Bürgerschaft der guten Stadt Cambridge vom schweizerischen Nationalpark im sonnigen Unterengadin erzählen sollte, von im Licht des Hochgebirges glitzernden Gletschern, von unbegrenzten Ausblicken über Berge und Täler und von Arvenhainen und Lärchenwäldern, die Harzgeruch durchströmt und in deren leicht bewegten Ästen Wind und Sonne spielen.

Es stiegen mir schüchterne Gedanken auf vom Auskneifen im letzten, entscheidenden Augenblicke; wäre es doch so leicht gewesen, sich in das Dunkel einer Seitengasse zu drücken oder in einen verschwiegenen Hof. Doch eine unrühmliche Flucht war ausgeschlossen. Vor mir stand drohend das unerbittliche Gesetz vom A- und B-sagen, und ich war umringt von teilnehmenden Freunden und Bekannten, die gekommen waren, mich zur Richtstätte zu begleiten. Von liebenswürdigen englischen Damen wurde mir eine Tasse Tee gereicht. Mein Henkersmahl. Ich würgte an Cakes, und dazu mussten meine Lippen fortwährend versichern, ich sei « very pleased indeed » und ich finde es « very nice and delightful » einen Vortrag halten zu dürfen. Unwahrscheinlich genug mag es freilich geklungen haben.

Dann kam der Gang zur Opferbank. Neben mir gingen der « Vice-chancellor », der Rektor der Universität und meine Cambridger Kollegen von der Zoologie und Botanik im wallenden Seidentalar und auf dem Haupt das Barett. Ich dachte an Scharfrichter.

Durch den Nebelvorhang schimmerte verschwommen rötlichgraues Licht aus den Fenstern des grossen Hörsaals, und jetzt stand der Delinquent auch schon in dem weiten, hellen Raum, als « Swiss Professor » den neugierigen Blicken des Publikums preisgegeben. Einen Moment tanzten vor meinen Augen die Köpfe der Hörer in wirrem Durcheinander. Ich fühlte mich zurückversetzt in die ersten Stadien des Privatdozententums mit all seinen Ängsten und Freuden. Dann aber ordnete sich das Chaos. In der vordersten Stuhlreihe sass der Mayor von Cambridge mit seiner Gattin. Und dann Bank über Bank, Professoren der Universität, « Fellows » aus den zwanzig Colleges, Bürger der Stadt, rotwangige Backfische und weisshaarige, hagere Misses, die vielleicht vor Wochen erst das Matterhorn erklettert oder sich in St. Moritz im Skilauf geübt hatten. Vor allem aber waren vollzählig da meine Studenten, die helläugige englische Jugend, alle in ihrer Tracht, in « Cap and Gown », mit ruhiger, gelassener Miene, hinter der sich so viel empfängliche Begeisterungsfähigkeit verbirgt. Was immer Interesse für die Schweiz fühlte und Liebe zu ihren Bergen, hatte sich in den Saal gedrängt; die Gemeinde der Verehrer unseres Landes aber ist in der intellektuellen Stadt Cambridge eine ganz besonders grosse.

Und diese englische Sympathie für die Schweiz und die Begeisterung für die Alpen ward mir zum Retter. Sie liess vom ersten Augenblicke an den verbindenden und belebenden Funken überspringen vom Redner auf die Hörer und von diesen wieder auf den Vortragenden. Sie half dem nachsichtigen Publikum über die Steine des Anstosses des schlechten Englisch hinweg und belohnte jeden Anlauf zum bescheidensten Witz mit lachendem Beifall. Die am Schirm aufsteigenden Projektionsbilder wurden mit lautem Jubel begrüsst, die neuschneegebänderte Pyramide des Piz Linard, das ragende Schloss Tarasp und die Bergeinsamkeit von Scarl. Als aber auf der Leinwand eine Gemsherde das Schneefeld querte und auf dem Rasen des Piz Terza die Steinböcke weideten, durfte ich zu meiner freudigen Erleichterung minutenlang schweigen und das Wort dem jubelnden Publikum überlassen. Ein Student versicherte mir nachher, es sei gut, dass der Vortrag nur eine Stunde gedauert habe, man hätte sich sonst noch vor lauter Beifall die Füsse wund getrampelt.

Als ich den Saal verliess, schien mir der Nebel viel lichter zu sein. Der Vollmond, so glaubte ich, goss sein Silberlicht durch Bogen und über Zinnen. Nie schmeckte mir das Dinner an der Hightable von Christ's College besser als an jenem Abend, und nie duftete süsser der Portwein.

Am nächsten Tag stellten sich meine jungen Freunde ein, die Studenten, und ich musste ihnen stundenlang bei Tee und Kuchen weitererzählen von den Wundern der Berge. Die hellen Augen leuchteten, und ich glaube, sogar die gleichmässigen britischen Pulse gingen etwas schneller. Als praktische Engländer aber, gewöhnt mit den Wirklichkeiten dieser Welt zu rechnen, drückten die werdenden Realpolitiker ihre Begeisterung in dem einen fass-lichen Vorschlag enthaltenden Satz aus: « Professor, it would be wonderful to see a part of the Swiss Alps with you. » Da stieg in mir der Gedanke auf und in seinem Gefolge der warme Wunsch, mit meinen « Cambridgemen » über Berg und Tal zu wandern.

Warum sollte der Plan sich nicht verwirklichen lassen? Stand doch der Studentenaustausch mit England längst auf der Traktandenliste der Basler Hochschule. Am grünen Tisch war sehr oft lange und umständlich mit akademischer Gründlichkeit über die Möglichkeit und Wünschbarkeit, über die Vorteile und die ja nicht gering zu achtenden Nachteile eines solchen Austausches gesprochen worden. Ernste, weise Bedenken hatten sich erhoben, und unweise Vorschläge unterlagen wohlwollender Prüfung. Berge von theoretischen Schwierigkeiten türmten sich, und auf dem Papier war es gelungen, tiefe, trennende Täler durch Resolutionen und vorläufige Beschlüsse sicher zu überbrücken. Den einen erschien der Ärmelkanal als stürmisch bewegtes Weltmeer, den andern wie ein sanfter Binnensee, der zwei Ufer lieblich verbindet. In Tat und Wahrheit aber blieb alles beim alten, und kein englischer Student kreuzte das Meer und fuhr nach Basel.

Nun bot sich der freudige Anlass, den gewünschten Austausch aus dem Gebiet der grauen Theorie in das grünende Land der Praxis überzuführen, Studenten der altenglischen Hochschule mit Studierenden unserer Universität zu mengen und dann zu prüfen, ob die Mischung sich bewähre. Wen gemeinsamer Naturgenuss nicht für immer freundschaftlich zu verbinden vermag und wen die gemeinsamen grossen Freuden und kleinen Leiden, gegenseitige Handreichung und Hilfeleistung einer Alpenwanderung nicht vereinen können, den mag man ruhig seine eigenen Wege ziehen lassen. Er ist für die Freundschaft verloren.

Ich sah dem Ausgang des kleinen Versuchs optimistisch entgegen. Meine jungen Genossen waren alle im bildsamen und empfänglichen Alter von zwanzig bis dreiundzwanzig Jahren, das die Freundschaft begierig sucht und dessen Gefühle noch keine anerzogene Hemmung kennen und keine trennende Schranke. Auch die äussere Schwierigkeit der gegenseitigen Verständigung, die leidige Sprachenfrage, erledigte sich in aller Minne in der gegenüber Engländern üblichen, weil einzig möglichen Weise. Die Schweizer sprachen während 16 langen Tagen englisch. Der Gott aller Philologen, den ich sonst nur ungern anrufe, möge gnädig verzeihen, was wir am Stil und an der Aussprache, an Grammatik und Phonetik der klangvollen Sprache Shakespeares und Walter Scotts im Laufe von zwei Wochen sündigten. Es geschah im Dienst eines höhern Zweckes.

Im ganzen bewegte sich die englische Sprachfertigkeit in einer täglich wiederkehrenden Kurve. Sie begann am Morgen, beim frühen Aufbruch, mit einem erschreckendem Tiefstand. « How do you do », « Had you a good sleep, Butler », « Would you like some butter, Robinson », waren die ständigen stereotypen Frühstückphrasen. Dann stieg die Linie beim Lunch in freier Luft, wenn die Teeflasche kreiste, zu einer bescheidenen Höhe. « May I give you some tea » und « Look there a chamois » waren dann vielgebrauchte Sätze. Oder man erzählte sich kurze Anekdoten, wobei gewöhnlich der Gegenpart das Lachen schuldig blieb oder im unrichtigen Moment lachte, weil er den Witz nicht verstanden hatte. Am abendlichen Dinner aber, wenn Veltliner oder Nostrano die Lippen netzte, erklomm die Zungenfertigkeit dramatische Gipfelpunkte. Dann mochte es vorkommen, dass aus rauhen Schweizer Kehlen der süsse Sang dröhnte: « 0 my sweet Hortensia » oder « Come near to me, dear Clementine ».

Doch der Wahrheit die Ehre. Auch die Engländer machten rasche Fortschritte in der schweren Kenntnis schweizerdeutscher Dialekte. Sie waren eifrige Schüler, und die jungen Basler wurden ihre zielbewussten Lehrer. Es gewährte einen eigenen Reiz von fremdartiger Schönheit, « Im Aargäu sind zweu Liebi » und « s'Ramseyers wei ga grase » in angelsächsischen Guttural-lauten singen zu hören. Mit Recht verlegten die Lehrer das Hauptgewicht ihrer Bemühungen auf den Versuch, ihren gelehrigen Schülern die gebräuchlichsten Redeformen eines höflichen Verkehrs beizubringen. Sie sahen ihre Anstrengungen von schönstem Erfolg gekrönt. Am Ende der Reise hatten die Cambridger verstanden, dass jede junge Dame im Alter von weniger als 60 Jahren « es tusig netts Maiteli » oder es « Schatzeli » sei. Sie wussten, dass die besagte Dame auf den Ruf « Chumm Maitli, chumm » erröte und sich zugleich magnetisch angezogen fühle, und sie hatten auch entdeckt, dass jeder ältere Gentleman in der landläufigen Studentensprache am besten als « Hündli-hund » angeredet werde. Diese freundschaftliche Einweihung in die Geheimnisse des täglichen Umgangs mit Menschen sollte im Verlauf der Reise recht unerwartete Folgen zeitigen. Der akademische Austausch trug nach beiden Seiten hin und bis über den Kanal gar bald reife, saftige, philologische Früchte.

Zweck, Ziel und Zeit unserer Wanderung lagen sichtbar vor den Augen. Es galt, den jungen Briten einen guten Teil der Schweizer Alpen zu zeigen im Glanz ihrer blendenden Pracht und ihrer eigenartigen Vielgestaltigkeit, die sich immer wieder zur wunderbar grossen harmonischen Einheit zusammenschliesst. Zugleich sollte den heranwachsenden Zoologen ein umfassendes Bild der Hochgebirgstierwelt geboten werden. Ein Aufenthalt im Nationalpark schien den richtigen Auftakt zu liefern. Daran mochte sich ein Besuch der vielen Örtlichkeiten anschliessen, an denen junge Basler Studenten in fleissiger Arbeit ihre zoologischen Sporen verdienten. Über den Jörifiesspass wollten wir wandern, an eisbedeckten Gletscherseen vorbei und weiter nach dem gelobten Land von Partnun, in dessen durchsichtigen Gewässern sich die weissgrauen Kalkflühe des Rätikon spiegeln. Endlich sollte die Exkursion ausklingen auf den granitenen Schwellen des Gotthard und der Grimsel, wo die Steine von der erst jüngst verflossenen Gletscherzeit sprechen, der Falter auf der Blüte und der Wurm im eisigen Wasser von Bach und Tümpel. Wir wanderten somit vielbetretene und wohlvertraute Wege. Kein Kletterpfad führte auf Hochgipfel oder durch Eisstürze. Und doch fiel auf manche Strecke durch junge Freundschaft und junge Naturbegeisterung ein neues, sonniges Licht, so dass es sich wohl lohnt, die durchmessene Strasse in dankbarer Erinnerung festzuhalten.

Die ersten Frühherbsttage forderten zur Wanderung auf. Schon war der Sommer verglüht; still lagen die Täler und einsam die Höhen. Die Aussicht weitete sich herbstlich. Jeder Morgen liess die Wiesen in Reif erstarren oder versilberte die Gipfel mit glitzerndem Neuschnee, und jeder Mittag war sonnenstark genug, das Eis in tausend leuchtende Tauperlen zu lösen und den Schnee in hundert lebendig murmelnde Bächlein. Die grosse Stille, der Blick in unbegrenzte Fernen, der stete Wechsel von starrem Wintertod und immer wieder siegreichem Leben, alles schuf einen vollen Einklang, eine harmonisch ausgeglichene Stimmung und lud zu ruhevoll vertieftem Naturgenuss ein.

Am späten Nachmittag des 24. August stand unsere « Anglo-Swiss Company » am Eingang in den Nationalpark; jeder suchte sich mit dem ersten steilen Anstieg, der von Zernez aus die Höhe von II Pra erklimmt, so gut wie möglich abzufinden. Rüstig schritt der Doktor voran, ein alter Freund und Weggenosse auf mancher frühern Wanderung und ein Waidmann mit straffem Gang und geübtem Auge, gewohnt, den Hirsch anzupirschen im Hochwald und das flüchtige Reh.

Nun fügte er sich mit natürlicher Würde in die Rolle des Reisearztes. Auch sein Spezialfach passte vortrefflich zum zarten Alter und zum jugendlichen Temperament meiner Studenten von diesseits und jenseits des Kanals; denn eine glänzende Messingtafel an seinem schönen Haus im St. Albanquar-tier bezeichnet unsern Doktor ausdrücklich als « Kinderarzt ». So legte er denn mit unermüdlicher Sorgfalt englisches Pflaster auf wunde schweizerische Füsse und kurierte die schlimmsten englischen Magenkrämpfe mit Schweizer-pillen und echt eidgenössischem Kamillentee. Damit erhob sich das medizinische Wirken zur Höhe einer symbolischen, den internationalen Austausch versinnbildlichenden Handlung. Übrigens war der Jünger der Heilkunst immer und gerne bereit, den Wanderstab statt mit der Schlange des Äskulap mit dem Weinlaub des Bacchus zu umwinden. Auch in diesem vorbildlichen Tun fand er die allgemeine internationale Zustimmung.

Hinter dem Doktor wanderten schweigend und staunend, von der Macht des Hochgebirgs überwältigt, unsere Briten. Ihre jungen Augen waren an die sanft fliessende Landschaft Mittelenglands gewöhnt. Lange, flache Bodenwellen wölben sich kaum merklich über den fernen Spiegel des Meeres. Das satte Braun fetter Äcker wechselt in bunter Folge mit saftgrünen Wiesen. Gräben und schmale Kanäle, in denen das Wasser schillert, durchschneiden das Land; flinke Pferderudel stürmen über die Fläche, und auf sorgsam umzäunten Matten weiden Schafherden und braun- oder schwarzgefleckte, struppige Rinder. Am weiten Horizont taucht auf der Kuppe eines niedrigen Hügels ein Landhaus auf, umrauscht von hochstämmigen Bäumen, oder das langgestreckte Dach einer Farm. Kleine Backsteinhütten drängen sich hinter der nächsten Bodenwelle um den seine Umgebung kaum überragenden Kirchturm zu einer Siedlung zusammen. Alle Linien des Landschaftsbildes verlaufen wagrecht, so dass die Weite sich hemmungslos öffnet. Nur im Rücken steigt in senkrecht steilem Aufbau das Wahrzeichen von Cambridge, King's Chapel, über Häuser und Bäume empor. Das gotische Masswerk und die Reihen zierlicher Türmchen heben sich scharf vom goldenen Untergrund der sinkenden Sonne ab, und in den bunten Kirchenfenstern spielen und flimmern, weithin leuchtend, die letzten Strahlen des scheidenden Gestirns.

Und nun versank der Fuss im Teppich der Moose und im Moder gefallener Stämme; über dem Haupt schwankten feinnadlige Lärchenäste, und der Blick fiel in die Dämmerung der tiefeingefressenen Cluozaschlucht und hob sich wieder hoch über den Talgrund zum stattlich gebreiteten Firnmantel des Quatervals. In der Tiefe verschwanden wie winziges Spielwerk die Häuser der Menschen. Talboden aber, Berghänge und Gipfel beherrschte die Pyramide des Piz Linard, ein Riesendom, den einst Titanen getürmt.

Auch mir ward es nicht allzu leicht, mich in die neue Lage zu finden. Sooft mein Blick die Engländer streifte, war ich in Erinnerung fern über dem Kanal. Ich sah mich wieder am flackernden Kaminfeuer der wohnlichen Studentenbuden, wo ich so manche Dämmerstunde verplauderte, oder im düstern Hörsaal, wo die fleissige Ausdauer der jungen Leute mir die schwere Pflicht, englische Vorlesungen zu halten, leicht und freudig gestaltete. Dann begriff ich immer wieder, weshalb die englischen Studenten mir so nahe standen, und das Herz schlug mir warm und laut bei dem Gedanken, meinen Cambridgefreunden die Pracht der Heimat zeigen zu dürfen.

Da war zunächst ein « Trinityman », der kräftige Richard Butler mit seiner ernsten, gesetzten Miene, ein lieber Reisekamerad und ein Kenner und Freund von allem, was fliegt und flattert. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend wurde er nicht müde, mit seinem Feldstecher nach Tannen-meisen und Bergfinken zu spähen, nach Bachstelzen und Kreuzschnäbeln. Ein kreisender Adler aber oder der knarrende Flug eines Volkes von Schneehühnern galt ihm als schönstes Tagesereignis und liess sogar über seine gemessenen Züge einen Schimmer freudiger Erregung gleiten. Dann Butlers guter Kamerad, Valentine Robinson von Cajus College, ein schlanker Jüngling, dunkelhaarig und schwarzäugig. Robinson war empfänglich für jeden Witz, doch zeigte er besonderes Verständnis für die schlechten. Seine Besonderheit bestund darin, nie zum Aufbruch bereit zu sein. Er verschwand regelmässig, sooft sich die Kolonne in Bewegung setzen wollte, sei es, dass er seine Zahnbürste oder sein Nachthemd suchen musste, oder dass der Abschied von der Wirtin Töchterlein ihm allzu schwer fiel, oder dass ihn sonst eine unaufschiebbar dringende Pflichterfüllung zur Herberge zurückrief. So verliessen wir denn das Nachtquartier immer unter dem vielstimmig fragenden Ruf: « Where is Robinson? » Wir hatten die beiden, Robinson und Butler, in Basel mit schweren Nagelschuhen ausstaffiert, mit geräumigen Rucksäcken und mit derben Haken-stöcken. So sahen sie denn jetzt nach dieser Umwandlung gar stattlich und sportgemäss aus, wie sie schwerbeladen und angetan mit den bunten Farben ihrer Colleges bergan stapften.

Es ist guter Basler Brauch, jedem Freund zungenfertig seinen Übernamen anzuhängen. Dass Robinson für uns sofort zu « Crusoe » wurde und sein Freund Butler zu « Friday », wird jeder verstehen, dem das Buch Defoes phantasievoll die Jugend verschönte. Den überraschten Täuflingen allerdings schien Sinn und Zweck der schweizerischen Wiedertaufe nur schwer und langsam einzugehen. Sie antworteten auf die unerwartete Namengebung mit einem langgezogenen, für unsere Zungen unaussprechlichen « aouh », in dem sich kunterbunt alle englischen Vokale mischten, und das ebensogut freudige Zustimmung als kühle Abweisung bedeuten konnte.

Ein Engländer, wie ihn Buch und Bild verewigt, war William Harry Thorpe aus Jesus College in Cambridge. Er hatte zuvor einige Tage in Pontresina zugebracht Seine Mutter begleitete den Sohn nach Bevers und empfahl ihn mit beweglichen Elternworten meinem freundlichen Wohlwollen. Als ich nun an dem hellblonden und blauäugigen Jüngling, der mich beinahe um eines Hauptes Länge überragte, etwas verdutzt emporschaute, zweifelnd, ob der junge Hüne mir werde gehorchen müssen oder nicht eher ich ihm, bemerkte die alte Dame meine sorgenvolle Miene und sprach die geflügelten Worte: « 0 my William is a very nice boy and a keen man. » Damit hatte das Mutterherz den richtigen Ton getroffen. William Harry genoss auf der Wanderschaft Natur und Freundschaft in vollen Zügen, ohne je seine ruhige Gelassenheit einzubüssen. Mir widmete er seine ganze rührende Anhänglichkeit, und der Vergleich mit einem jungen, treu blickenden Bernhardiner lag dem beobachtenden Zoologen nicht allzu fern.

Eine besondere Stellung nahm David Landsborough Thomson ein. Er hatte in seiner nordschottischen Bergheimat Aberdeen irgendwo gelesen oder gehört, in der Schweiz lebe ein Professor, der mit seinen Studenten höchst vergnügliche Ferienreisen in die Alpen unternehme. Rasch entschlossen brach der 21jährige Schotte auf und querte Meer und Land, um den Wundermann am Rhein zu suchen und zu finden.

Nun stand das schmächtige Bürschlein vor uns, leichtgeschürzt und sonnenverbrannt. Er hatte die Freuden des Bergsteigens vorausgenossen und kam eben von Windgälle und Düssistock zurück. Unter seinen englischen Kameraden genoss Thomson den hohen Ruf eines « very clever man ». Uns Schweizern fiel an ihm eine merkwürdige physikalische Eigenschaft, eine grosse Kletterertugend auf. Er war federleicht, nahezu gewichtlos und schien überhaupt nur aus Gelenken zu bestehen. So war der kühnsten Akrobatik der Weg geebnet. Das Phänomen gab uns zu denken und lieferte dankbaren Stoff für allerlei zoologische und biologische Phantasien. Die einen meinten, unser schottischer Freund habe lufthohle Knochen wie der im blauen Räume schwebende Adler. Andere vermuteten sogar, er sei leichter als die Atmosphäre und werde durch den eigenen Auftrieb emporgehoben wie die glashellen Planktonkrebse in der klaren Flut eines Sees. Eine Einigung der Ansichten kam nicht zustande; das Rätsel blieb ungelöst; doch die Tatsache bestand, dass David Landsborough beim Anblick jeder Felsnadel im zerklüfteten Grat, jedes losgelösten Turms an der dachsteilen Wand, jedes Blockes am Wegrand in hochalpine Erregung geriet. Dann schnellte sich « Little Chamois », wie wir ihn gerne nannten, in einem Ruck, in einem Flug beinahe, empor und im nächsten Moment lächelte er von der Spitze der Nadel, von der Höhe des Blockes einladend und herausfordernd zugleich auf uns, seine am Boden klebenden, mit Erdenschwere behafteten Wandergenossen herab.

Einen echt schweizerischen Einschlag in den britischen Grundstoff lieferte Freund Fritz. Er brachte eine Unmenge wertvoller Eigenschaften für die Bergreise mit: als Lehrer strenge Disziplin und Ordnungsliebe, als Offizier in einer Haubitzbatterie Freude an weitgesteckten Zielen und an steilen Flug-bahnen, als Abstinent hohe Befähigung zum verantwortungsvollen Amt eines sparsamen und rechenfesten Kassiers, der keine Zahl doppelt sieht, darüber hinaus aber ein warmes Herz für die Pracht der Natur und für das Leben und Weben ihrer Geschöpfe.

Auf dem obersten Gipfel der Berge und an der untersten Ecke des Tisches sassen regelmässig die drei Jüngsten, Robert, Lothar und Albert. Sie waren alle gleich alt oder vielmehr gleich jung, sonst aber sehr wesensungleich.

Der eine mischte, zum Erstaunen der Engländer, unter das zierliche Baseldeutsch ungefüge Dialektbrocken vom Strande der Limmat. Er war begeistert für die Zoologie; besonders die kulinarische Verwertung der Tierwelt erregte unausgesetzt sein Interesse, während die Botanik ihn weniger zu fesseln vermochte.

Sein Gegenstück bildete Freund Lothar, ein junger Basler von reinstem Wasser, mit all den vielen grössern und kleinern Vorzügen die jenseits des St. Albantors gedeihen und blühen. Er gehörte nicht zu den Schweigern, und seine bewegliche Zunge blieb keine Antwort schuldig. So sprach er denn ununterbrochen, sich kaum kurze Schlaf- und Esspausen gönnend, 16 ganze Tage und 15 halbe Nächte lang. Da aber auf die Dauer auch der gelehrteste Professor nicht immer Weisheit predigen kann und der Witz des gewandtesten Parlamentariers endlich versprüht, so sei es auch unserm redebegabten Freund nicht verargt, wenn aus seinem Mund nicht eitel Gold floss. Lothar hatte in Cambridge Cap and Gown getragen und in Berlin die Freuden der ersten Semester genossen. Das gab dem Redestrom einen besondern Charakter. In breitem Bett vermählte sich der feingeschliffene Dialekt von St. Alban mit dem Studentenslang der englischen Universität, und mitten in den unaufhörlich rauschenden Wellen erhob sich da und dort, kantig und ungeschlacht wie ein erratischer Block, ein Kraftwort aus Spree-Athen. Lothars stärkste Seite war sein ungetrübter Humor und die niemals müde Dienstbereitschaft, seine schwächste die Geographie. In seinem Kopf führten die vier Himmelsrichtungen einen wilden Wirbeltanz auf, und der Inn ergoss sich in den Rhein, um mit ihm vereint südwärts in das Mittelmeer zu fliessen.

Nach längst geheiligter Tradition trug der Jüngste, Albert, uns das flatternde Schweizerfähnlein voran. Er befestigte das ehrwürdige Wahrzeichen mancher frühern Fahrt mit derselben nie versagenden Begeisterung am engen Fenster des Blockhauses wie am ragenden Balkon des grossen Gasthofs. Auch die felsenfeste Überzeugung von der Schönheit der Welt und von der Güte der Menschen liess sich Albert nicht rauben, und seine Sangeslust trotzte dem Sturm und der Müdigkeit. Eine herbe Enttäuschung allerdings blieb uns nicht erspart. Wohl ward unserm Benjamin des Gesanges Gabe und der Lieder süsser Mund geschenkt. Doch ach, sein Repertoire umfasste eine einzige Nummer. Das Lied hiess der « Ochsenwirt ». Unter den Klängen des Ochsenwirts durchwanderten wir die halbe Schweiz; der Ochsenwirt erscholl in den stillen Tälern des Nationalparkes; er antwortete in Airolo dem italienischen Ritornell und verstummte nicht im Staub der Grimselstrasse.

Die junge Schar und ihren alten Meister führte der getreue Parkwächter Hermann Langen. Er wies den Weg kreuz und quer durch das Legföhrendickicht, über in tiefen Schluchten brausende Bäche, auf Gipfel und Kamm und durch den Schatten jungfräulicher Wälder. Ihm gehorchten die Gemsherden und die kreisenden Adler, und wäre Freund Langen nicht mit uns gewesen, der Park hätte uns seine Wunder nimmer enthüllt.

Einstweilen schritt er wacker bergauf voran. Vor seinem Herrn kletterte das brave Rösslein, schwer beladen mit allem, was eine hungrige Studenten-schar in drei Tagen zu vertilgen vermag.

Der Föhn hatte den ganzen Tag am tiefblauen Himmelsgewölbe sein launisches Spiel getrieben. Weisse, gigantische Wolkenballen wälzte er aus Süden heran; die Gipfel verzierte er mit wallenden Fahnen, und die Gletscher liess er im heissen Licht erschimmern wie glitzernde Spiegel.

Nun liess der laue Wind, des Spiels müde, die Flügel sinken. Jeder Laut verstummte, und regungslos lauschten die Wälder. Das Licht erlosch; ein grauer Vorhang verbarg das blaue Leuchten des Himmels. Träge Nebel krochen an den Hängen, und endlich begann der Regen in schweren Tropfen zu fliessen.

Auf der Höhe von Fops troffen die Lärchen, und kein noch so dichter Schirm der Arven vermochte vor dem strömenden Nass Schutz zu gewähren.

Das Rösslein an der Spitze setzte sich in Trab, und hinter ihm trabte auf schmalem Pfad hoch an den Bergflanken die englisch-schweizerische Wander-gesellschaft dem Lichtlein entgegen, das tief aus dem Talgrund von Cluoza bei anbrechender Nacht den sichern Weg wies.

Müde, durchnässt und hungrig überschritten wir die Schwelle des Blockhauses. « It was rather a hard walk, Professor », in diese lapidaren Worte fasste Freund Crusoë die tiefsten Eindrücke seiner ersten Bergreise zusammen. Wohlige Ruhe, ein wärmendes Feuer und ein reich gedeckter Tisch stellten das dreifach gestörte seelische und physische Gleichgewicht rasch wieder her.

Hinter uns verblich die hässliche Welt, und vor uns stieg für einige Tage und Nächte ein ungebundenes Leben im weltfernen Urwald auf. Es fiel der jungen Einbildungskraft nicht schwer, sich vorzugaukeln, wir hätten bei der Trapperfamilie Langen, wetterharten und spürgewandten Pfadfindern und Waldläufern, in einem Blockhaus des Felsengebirges gastfreie Aufnahme gefunden. Ringsum dehnte sich schweigend die Waldeinsamkeit, und das Tier der Wildnis kannte keine Furcht und näherte sich sorglos und frei der Wohnstätte des Menschen. Solche Lederstrumpfromantik ist Gemeingut aller Jugend. Sie phantasievoll gemeinsam zu erleben, bildet den fruchtbaren Boden, auf dem besonders leicht junge Freundschaft gedeiht.

Die kurze Periode gegenseitiger Beobachtung von Cambridge und Basel war bereits vorüber.

Am dichtgedrängten Tisch im Blockhaus, im Qualm der Lampe und des Tabaks fielen schüchtern die ersten englischen Brocken, während draussen der Sturm die Bergföhren bog und Regenschauer an die Scheiben klatschten. Den schwachen Freundschaftsbrücken, die zu den Angelsachsen hinüberführten, musste jedes noch so bescheidene äussere Geschehen zur Stütze dienen. Alles ward zum Vorwand zielbewusster Annäherung, das gegenseitige Füllen der Becher, das Angebot von Brot und Pfeife, der Austausch von Zigaretten und von trockenen Strümpfen. Und das zarte Pflänzchen Freundschaft wuchs zusehends.

Der nächste Morgen weckte die späten Schläfer mit strahlendem Sonnenschein. Zwar segelten von Süden her noch weisse Wolkenschiffe über das tiefe Tal, und kurze Regenschauer prasselten nieder. Doch die Luft war rein und frisch, und die Nebel zerflossen immer wieder an den sich erwärmenden Wänden und Felsstirnen. Dann brachen Tage ungetrübter Ferien- wonne im Val Cluoza an, Stunden sorglosen Schlenderns und süssen Geniessens und des Vergessens von Welt und von Zeit.

Wir stiegen in der Nähe des Blockhauses herum, in steinigen Lawinenzügen oder durch das widerstrebende Gewirr des Krummholzes. Schwärme von Kreuzschnäbeln zankten sich in den Wipfeln der Föhren, und kreischend fuhr der Tannenhäher durch den Halbschatten luftiger Lärchen. Dann zogen wir wieder unter Langens Führung taleinwärts, längs des rauschenden, zu weisser Gischt zerschäumenden Bergbaches bis zur Stelle, wo das Felschaos von Val del Diavel sich mit dem aus Val Sassa hervorbrechenden Trümmer-strom vereinigt. Der rasche Zug der Wolken, die Folge von Sonne und Schatten erzeugten an den Steilflanken der tiefeingeschnittenen Talfurche in stetem Wechsel wunderbare Lichtwirkungen. Bald glitzerte die vom schmelzenden Schnee überrieselte Mauer des Piz del Diavel wie ein aus blankem Silber geschmiedetes Riesenschloss mit Zinnen und ragenden Türmen. Dann versiegte die Lichtquelle hinter schwarzen Wolkenbänken, und Burg und Tal versank wie auf einen Zauberschlag in stumpfem, totem Grau.

Wieder siegte das Licht. Ein Strahlenbündel traf die kleine Wiese am Bach und entfachte die letzten Blumen, dunkelblauen Eisenhut, grellgelben Steinbrech und Silberdisteln, zu farbigem Leuchten. Von Halm zu Halm fiel in ungelenkem Flatterflug der dem Sonnengott geweihte Apollo.

Nirgends indessen ward das Tageslicht blendender und der Schatten dunkler als in den von Lawinenzügen engbegrenzten Waldbeständen. In ihnen mischen sich zerschrundete Arven mit hundertjährigen Lärchen, und zwischen den rotgrauen Stämmen der Nadelhölzer schimmert das Silber der Birken und das herbstliche Blattgold des Ahorns. Solche Orte wandeln sich im Sonnenglanz zu einem von Licht durchfluteten Park, der in einen unerschöpflichen Reichtum grüner Farbtöne getaucht ist. Die Stufenleiter reicht von den lichten Moosen und von hellen, feinnadligen Lärchen bis zum Schwarzgrün der Arven und zum trockenen Grüngrau der Kiefern. Wenn aber ein Wolkenschatten über das Bild huscht, wird der Wald zum grauen Chaos, in dem keine Farbe mehr wirkt, sondern nur die Wucht der dem Sturme trotzenden Bäume und das Riesenmass der im Kampf gestürzten Stämme. Entlaubt ragen ihre gebleichten Äste in die Luft, hilflos und drohend zugleich, wie ein Wutschrei des vom Unbelebten überwältigten Lebens.

Vor unsern Schritten erhob sich schweren Flugs ein Haselhuhn aus den Beerensträuchern; hoch über dem Wald zogen Gemsrudel äsend hinauf gegen Grat und Kamm, und auf den grünen Lichtungen zwischen Legföhren und Erlengebüsch stand da und dort ein hellfarbiger Einsiedlerbock. Das freudige Sehen und Staunen steigerte sich zum Jubel, als über den Gipfeln zwei Adler ihre Kreise zogen und während des Rückmarsches zum heimatlichen Blockhaus ein stattlicher Hirsch in den Abendschatten der Waldblösse trat.

Besonders eindrucksvoll blieb uns ein sonntäglicher Morgenspaziergang hinauf auf den breitgewölbten Grasrücken der Alp Murtèr. Er führte hinein in das Frühlicht eines sonnenglänzenden Tages und mitten in Spiel und Ernst der vom Menschen nicht verfolgten Hochgebirgstiere. Hinter Erdwellen hegend oder verdeckt durch schützende Blöcke, belauschten wir stunden- lang die weidenden Gemsen, bis das Rudel Gefahr witterte und in gestreckten Sätzen, doch ohne Übereile, davonjagte. Scharf zeichneten sich die Umrisse der behenden Gazellen an der Felsenecke auf dem Hintergrund des lichten Morgenhimmels, und erst die Flucht enthüllte das Ebenmass der Tiere und die ausgeglichene Schönheit ihrer Bewegungen. Weit über zweihundert Gemsen kamen uns an jenem friedlich stillen Sonntagmorgen zu Gesicht, ruhig äsende Herden, dann wieder in unmittelbarer Nähe schwere Einsiedler-böcke oder versprengte Kitze, die sich sorglos und unerfahren von der Mutter getrennt hatten. Zu diesen Gemsenbildern voll Schwung und Zierlichkeit lieferte das kleinbürgerliche Stilleben selbstzufriedener Murmeltiere den geruhsamen Gegensatz. Die Philosophen genügsamer Lebenskunst und des traumlosen Dauerschlafes sassen ringsum vor ihren Bauten mitten in saftigem Gras und Kraut und blinzelten behaglich der wärmenden Herbstsonne zu, die für sie in kurzen Wochen schon den Jahreslauf beenden sollte. Manches der übersatten Tiere zögerte noch im letzten Augenblick, wenn schon der Schritt des Menschen über der Röhre dröhnte, den fetten Leib in Sicherheit zu bringen oder auch nur das leckere Mahl und das harmlose Spiel im Sonnenschein zu unterbrechen.

Wenn der Blick weitere Grenzen suchte, fiel er in die Tiefen der Täler und schweifte zugleich geflügelt über Höhen und Ketten. Rings erstrahlten die absonderlich und formreich gestalteten Felsgipfel des Parks; es breitete sich der dunkle Mantel seiner Nadelwälder, und durch die Kiefernforste wand sich das helle Band der Ofenbergstrasse. In fernerer Weite aber schimmerten die Gletscher Graubündens und der beherrschende Schneedom des Ortler.

Der Abstieg zum Blockhaus führte über verblühende Edelweissrasen und durch Alpenrosenfelder. Aus den dunkelgrünen und rostfarbenen Blättern leuchteten statt der purpurnen Blüten rotbackige Galläpfel.

So ward jeder Spaziergang zum freudigen Erlebnis, und jeder häufte neue Eindrücke zum bleibenden Gut der Erinnerungen und mehrte den Schatz der ideellen Wegzehrung für die künftige Lebensbahn. Erinnerungsreich gestaltete sich auch der an jeden Marsch sich anschliessende materielle Genuss, das Mahl im Freien vor dem Blockhaus. Küche und Keller von Frau Langen lieferten zu dem Schmause die feste und flüssige Grundlage und das Rauschen des Baches in der Tiefe und das Säuseln des Windes in den Lärchenästen die sachte einschläfernde Tafelmusik. Dann folgte die Siesta im Arven-schatten und ein träumender Rückblick auf die geschaute Schönheit. In den Halbschlummer klang von Ferne gedämpft und leise der Ruf, das Lachen und Klopfen der kartenspielenden Schweizer und das Halloh der Engländer, die ihre überschäumende Kraft im Boxen und Steinwurf vergeudeten.

Doch auch die idyllische Romantik von Cluoza ging zu Ende, nicht ohne dass vorher noch ein Tröpfchen bittern Wermuts in den prickelnden Freudenbecher gefallen wäre. Freund Butler musste den raschen Wechsel der Lebensweise, den unvermittelten Sprung vom Londoner Strassenpflaster in die Hochgebirgswildnis von Cluoza mit starker Übermüdung bezahlen. Der Reisearzt legte die Stirn in Amtsfalten. Er streifte das Weinlaub von seinem Stab und umwickelte ihn mit der Natter des Äskulap. Und das weise Reptil sprach die vier schicksalschweren Worte: Diät, Ruhe, warme Umschläge und Kamillentee. Es war uns leid, den Kameraden, dessen heller Blick und offener Sinn allen in kurzen Stunden so lieb geworden war, zurückzulassen. Um so lauter tönte der Jubel, als Friday zwei Tage später in Süs wieder zur Karawane stiess, ein Bild strotzender Gesundheit, bereit, alle hochalpinen Strapazen mit Kopf, Fuss und Magen siegreich zu bestehen, und ein wirkungsvoller Zeuge zugleich für die gute Luft von Cluoza und für die liebevolle Pflege, die ihm Frau Langen hatte angedeihen lassen.

Uns andern aber schlug die Abschiedsstunde aus der Stille des entlegenen Bergparadieses. Als wieder der Morgen anbrach, stiegen wir noch einmal hinauf nach Murtèr, und vor uns erstand das Alpentierleben in viel vol-lerem Masse noch als tags zuvor. Es schien, als ob die ganze Tierbevölkerung es sich nicht nehmen lassen wollte, den Zoologen die Aufwartung zu machen. Wir brauchten nur mit freudigen Augen zu schauen und zu staunen. Langens Regie, so meinten meine jungen Freunde, arbeite wundervoll. Bei keinem rühern Besuch überraschte mich im Park so reich strömendes Leben.

Der Neuschnee war der Sonne gewichen, die, so weit der Blick reichte, die Täler mit ihrem Schein erfüllte und die Gipfel mit ihrem Goldglanz umfloss. Wieder weideten die Gemsherden, und wieder spielten ungestört die Murmeltiere. Im Geröll, nahe dem sanft gewölbten Grat, trippelten ungezählte Schneehühner. Das tote Chaos der braunweissen Steinhalde schien, wie durch einen geheimnisvollen Zauberspruch, zu eilfertig rennendem und flatterndem Leben erwacht zu sein. Endlich löst sich, wie durch ein neues Wunder, die aus den Steinen geborene Vogelwolke vom Boden los zu schwerem langgestrecktem Flug, um hinter der nächsten Erdwelle wieder im Leblosen zu versinken.

Noch grössere Überraschung wartete unser auf dem Kamm. An dem steilen Rasenhang des Piz Terza gingen die Steinböcke zur Weide, selbstbewusst, als ob ihr königliches Geschlecht ewig hier geherrscht habe und nicht erst nach jahrhundertelangem Unterbruch durch die schützende Hand des Menschen von neuem zur Macht gelangt sei. Das Auge meiner Begleiter wurde nicht müde, jede Bewegung der sprunggewandten und stämmigen Gebirgs-ziegen mit fast ehrfürchtigem Staunen zu verfolgen.

Auf dem aus flachen Steinplatten geschichteten Grat, der sich hebt und senkt und sich endlich steiler zum Gipfel des Piz Murtèr aufschwingt, vermählte sich die Blütenpracht des Lenz mit dem milden Licht des Spät-jahres. Die Glocken der Soldanellen und die Sterne der Anemonen sprossten am Rande des schmelzenden Schnees, und die Herbstsonne vergoldete das tiefgelbe Edelmetall des Alpenmohns und die glühenden Purpurpolster der Bergnelken.

Schneefinken flatterten mit buntgezeichneten Flügeln von Block zu Block, und unten, im Schatten einer Felsrunse, pirschte ein Füchslein wie ein roter Strauchritter der Beute nach.

Das wunderbarste Schauspiel des ereignisreichen Morgens aber spielte sich ab, kurz bevor wir den Berggipfel betraten. Neun Steinadler schwebten, im Blau verloren, über unsern Häuptern. Die mächtigen Vögel stiegen in stets sich schneidenden Bogenlinien zur Höhe; sie rauschten mit regungslos gebreiteten Flügeln durch die durchsichtige Luft des Spätsommertages; sie schwebten hinüber zu weit entlegenen Felsketten, verschwanden wie dunkle Punkte aus dem Gesichtskreis und kehrten wieder zurück zu gemeinsamem Flug. Dann sah das Auge die Sonne durch die mächtigen Schwingen schimmern und erkannte die dunkle Bänderung auf dem fächerförmig entfalteten Schwanz. Ein Anblick, harmonisch geformt aus majestätisch gebietender Kraft und spielender Anmut, wie ihn die Natur nur wenigen Bevorzugten, nur ihren Lieblingen gönnt.

Eine sonnige Gipfelstunde mit weitem Ausblick auf das unbewegliche Gleichmass schön geschwungener Bergumrisse und tiefer Talfurchen brachte nach dem Schauen des reissenden Adlerfluges und der windschnellen Gemsen-flucht Sammlung und Ruhe. Bernina und Ortler, der flussdurchströmte Grund von Zernez und der grüne Wiesenplan von Fuorn formten die starken Gegensätze in dem Landschaftsbild.

Aus dem ideellen Genuss und aus der materiellen Stärkung, die Rucksack und Flasche spendeten, entsprang ein ruhiges Wohlbefinden, zugleich aber auch tatendurstige Kraft. Lässig dehnten sich die Glieder auf den sonnenwarmen Steinplatten, die Pfeifen rauchten in der linden, klaren Morgenluft, und mancher trillerte, leise nur und innerlich, einen Vers von der Wonne des Wanderns und von der Herrlichkeit dieser Welt. Einzig Lothars Betätigungsdrang konnte keine Ruhe finden. Sein plätschernder Redefluss strömte ohne Unterlass, und wie eine summende Fliege umkreiste unser Freund die gemächlich Rastenden. Das stellte sogar die angelsächsische Gleichmütig-keit auf eine allzuharte Probe. Jung England nahm sich des Friedenstörers mit ebenso liebevoller als energischer Hand an. Das half. Der Faden des Fliegengesumms riss schrill und jäh ab, und Feiertagsstille ruhte über dem sonnigen Berggipfel. Mir erschien die kameradschaftliche Auseinandersetzung als gutes Zeichen für die wachsende Intimität der englisch-schweizerischen Beziehungen.

Über Felssätze, Schneeflecke und steile, rutschende Halden, auf handbreiten, immer wieder erlöschenden Wegspuren eilten wir dem Tal und dem Walde zu. In tiefer Felsennische an der Steilwand von Val dell' Acqua türmte sich, von den obersten Bäumen beschattet, ein aus Prügeln und Ästen geschichteter, mächtiger Adlerhorst. Unten wand sich, im Urwald verborgen, ein schmaler Schleichpfad. Er kletterte über gestürzte Stämme und führte durch springende Bäche. Bald verschwand der Weg im Halbdunkel des Forstes; dann tauchte er wieder in sonnigen Lichtungen auf oder versank im feuchten Teppich quellender Moose. Zuletzt weitete sich der kaum angedeutete Pfad zur stark betretenen Spur. Aus dem italienischen Livigno rauschte uns in breitem Bett der Spöl entgegen. An der Stelle, wo sich eine schwanke Holzbrücke über den Fluss wirft, liegt in einem durchsichtigen Schlag junger Föhren und Lärchen die kleine Hütte von Punt Perif. Dem Dach des Block-häuschens entstiegen zitternde Ringe bläulichen Rauches; drinnen surrte über dem Feuer der Teekessel, den der Doktor und Langen betreuten. Albert spaltete vor der Türe mit kräftiger Baselbieterhand den Holzklotz, und während die Späne und Splitter krachend nach allen Seiten flogen, summte er den letzten Vers des Liedes vom Ochsenwirt. Ringsum ruhten im spärlichen Schatten auf Decken und Mänteln die Wanderer. Zum Bild von Wild-West fehlte wenig mehr als Lasso und Skalpmesser und ein aus dem Dickicht brechender Bär.

Der Rest des Wegs war ein wonnesamer Abendspaziergang hinauf durch schweigende Wälder mit sich öffnenden und schliessenden Tiefblicken auf den schönen Fluss. Umrahmt vom ernsten Grün der Tannen und vom Grau der Felsen, treibt der Spöl auf seinem Talweg ein seltsam farbiges Spiel mit türkisblauem Wasser und schneeweiss schäumender Gischt.

Auf der Landstrasse fuhr das gelbe Postauto mit dem Schweizerkreuz. Willkommener als dieser ratternde Gruss aus dem Land der Menschen war uns die Nachtherberge im gastlichen Ofenbergwirtshaus bei Meister Grass. Die Segnungen von Tisch und Ruhelager haben nach einem Marsch über Berg und Tal bei der Jugend und beim Alter noch stets verfangen.

Mitten in der Nacht, so schien mir, weckte mich der Doktor mit einem Lobgesang auf die Hygiene des Frühaufstehens und mit der freudigen Mitteilung, der Himmel mache ein gar gnädiges Gesicht. Ich blickte hinauf zum nächtlich schwarzen Firmament und entdeckte drei ganze Sterne, die zwischen den jagenden Wolken erschienen und wieder verschwanden. So erhob ich mich denn seufzend und ohne Begeisterung, nicht etwa aus Überzeugung, sondern ausschliesslich des guten Beispiels für Jung England und Jung Schweizerland wegen. Der Tag aber gab zuletzt dem jugendlichen Optimismus des medizinischen Astrologen recht, der Friedlands Sterne am düstern Nachthimmel leuchten sah.

Ein gutes Beispiel allerdings brauchte es vorläufig nicht, und für Hellseherei war ebenfalls einstweilen gar wenig Raum. Als ich die Treppe hinunterstolperte, harrte im dunklen Hausflur bereits die rotwangige Jugend Englands und der Schweiz, gestiefelt und bepackt, ungeduldig des Aufbruchs. Und als wir durch den einförmigen Bergföhrenwald, der den Grund der Val del Botsch überkleidet, gingen und später auf scharfer, steiler Kante aufwärts stiegen, jagte der Wind von Westen her immer neue Wolkenzüge über Grat und Hang. Der Himmel legte sein griesgrämiges Gesicht in immer dunklere Falten. Zur Regenstimmung passte unsere eigene Laune. Unser getreuer Begleiter und Führer, Langen, war unerwartet in den Dienst der eidgenössischen Nationalparkkommission abberufen worden. Der letzte Gruss wurde gewechselt, und bald entschwand Langen dem Auge weit unten hinter der Ecke einer Moräne.

Die Trennung von dem landes- und wegekundigen Mentor fiel schwer, und die Titulaturen, mit denen die besagte hohe Parkbehörde bedacht wurde, entstammten eher dem studentischen als dem parlamentarischen Wörterbuch.

Die letzten Abschiedsjauchzer verklangen. Wir blieben uns selbst überlassen im grauen Chaos treibender Wolken. Ein Hagelschauer prasselte auf Rucksack und Mantel. Vor uns flohen drei windschnelle Gemsen, und am Wege lagen zerstreut, von der Sonne gebleicht und vom Regen verwaschen, die blassen Gebeine eines in der Laue verendeten Grattieres.

Die Nebel kamen und gingen; graue Vorhänge lüfteten sich und gaben für Sekunden die Blicke frei in den scheinbar bodenlosen Abgrund; dann schoben sich wieder Wolken vor kaum enthüllte Felstürme und Zacken. Ein steter Wechsel von Licht und Schatten, von Drohen und Versprechen schuf eine landschaftliche Stimmung, die besser zur Walpurgisnacht auf dem Brocken passte als zum Marsch über ein aussichtsreiches Alpenjoch. Wir folgten denn auch Goethes Wort und « suchten im Nebel unseren Weg » von Marke zu Marke und handelten nach Mephistos klassischem Rat: « Du musst des Felsens alte Rippen packen, sonst stürzt er dich in seiner Grüfte Schacht. » Mehr tastend als sehend überschritt die Wandergesellschaft das rauhe Felstor der Fuorcla da Val del Botsch; aus der Tiefe von Plavna klang das vielstimmige Geläute unsichtbarer Herden wie ein Gruss aus einem fernen, sonnigen Land, das zu schauen dem menschlichen Auge versagt ist.

Doch endlich folgte auch hier der Enttäuschung der Lohn, der Prüfung die strahlende Verklärung. Noch auf dem Grassattel von Sur il Foss lag der Nebel schwer und unbeweglich. Im weiten obern Talbecken von Minger indessen begann in der grauen Masse ein Treiben, Kochen und Wallen. Durch den lichter werdenden Vorhang schimmerte weiss und glanzlos noch die Sonnenscheibe, und aus dem ungeformten, feuchten Urstoff stieg da und dort rotgrau der Schatten einer Arve auf mit zerschrundeter Rinde und dunkeln Nadelbüscheln, oder kriechendes, schwarzgrünes Föhrengestrüpp. Die Materie rang nach Form und Farbe. Dann huschten Lichter über den Plan, gerufen durch das Wort eines Schöpfers, und weite, blaue Himmelsfenster taten sich auf. Hoch über den schwindenden Wolken türmten sich Felsen-festen, reich an Zinnen und Scharten. In den Rissen und Schluchten um die Türme und Basteien krochen schmeichlerisch weich und zart die letzten, zerfliessenden Nebel. So ward aus dem grauen Chaos vor Urzeiten einst die geformte Welt.

Jetzt stand sie da in ihrer jungfräulichen Schöpfungspracht und atmete von Sonnenlicht gezeugtes Leben und Blühen. Über den dunkelvioletten Blütenschäften des Eisenhuts schwebten weisse und gelbflüglige Falter; in den besonnten Wipfeln der Arven sang ein Vogel sein spätes Lied, und emsig tummelte sich im kurzen Alpengras und auf bunten Blumen die Kleinwelt der Käfer und der metallisch schimmernden Fliegen. Den weiten Grund durchflutete Licht und Farbenglanz, und das Tal umsäumte sonnenwarm der Kranz der Berge: die Pyramide des Piz Plavna mit Erkern und gotisch aufstrebenden Türmen, das vielfach zerschnittene und durchfurchte Massiv von Piz Mingèr und Pisoc mit seinen schön geformten Gipfeln und der schwere, ungefüge Felskoloss des Madlain. Selbst das tote Gestein lebte in schimmernd warmen Tönen, die reich abgestimmt in heissem Rot und Gelb und in hellem Grau harmonisch zum leuchtend blauen Himmelsgewölbe überleiteten Die Schöpfung sang und jauchzte in der Sprache von Form und Farbe ihr ewiges Loblied auf den Schöpfer.

11 Wie lange die urplötzlich aus dem Grau erstandene Pracht uns fesselte, weiss ich nicht. Doch neigte sich die Sonne den Bergen entgegen, und die Baumschatten waren länger, als wir talauswärts wanderten und dann der brausenden Clemgia entgegen nach dem weltfernen Weiler Scarl. Seitdem in dem nahen Bergwerk auf dem Schmelzboden der Knappenruf verstummt ist und der letzte Hammerschlag verklungen, liegt das Dörfchen in friedlicher, tiefer Ruhe. Es ist von dem Treiben und Hasten der Menschen abgeriegelt durch die riesige Felsenschranke des Pisocmassivs. Zehn oder zwölf weisse und graue Häuser drängen sich am Saumweg im Schutz des Bann-waldes Jürada zusammen; sie sind unauffällig überragt vom kleinen Türmchen der einst St. Carl geweihten Kirche. Ein Wanderer schreitet über den verlassenen Platz, und von den Wiesen tönt etwa die Sense der Heuer und das Läuten der Herdenglocken.

Mit den Spätherbststürmen ziehen auch die letzten Bewohner aus dem unwirtlich werdenden Hochtal hinaus in das mildere Unterengadin. Das Dörfchen durchträumt seinen Winterschlaf. Sogar der Wildbach schweigt, vom Eis gebannt, und nur der Donner der Lawine und das Brausen des Sturms brechen die winterliche Stille. Während 78 Tagen treffen die Strahlen der hinter Bergmauern verborgenen Sonne den Talgrund und die Heimstätten des Menschen nicht. Dann fordert das Tier der Wildnis sein altes Recht und kehrt in sein verlorengegangenes Besitztum zurück. Eine Gemse trippelt, vorsichtig äugend, durch den eingeschneiten Weiler, oder ein Adler lässt sich, vom fruchtlosen Beuteflug ermüdet, zur Rast auf der Dachfirst nieder.

Einst war es anders. Siebenzig Wohnungen standen damals in Scarl offen, während ihre Zahl heute kaum ein volles Dutzend beträgt. Auf dem Saumpfad klingelten die Schellen der Maultiere, die auf ihrem Rücken Butter und Käse nach Italien trugen und aus dem Veltlin den dunkelroten Rebensaft, den Bündnerwein, zurückbrachten, der im Gebirge an Feuer gewinnt und an Milde. Aus den Flanken des Madlain wurde Blei gefördert, Kupfer und kostbares Silber. Bergknappen aus Sachsen, Böhmen und Ungarn fanden den Weg in das entlegene Hochtal, rauflustiges Volk, mit dem die Bürger von Tarasp und Schuls manchen blutigen Strauss bestehen mussten. Die Schmelzöfen sind längst erloschen, und einzig die zerbröckelnden Ruinen des Knappenhauses zeugen noch von der wilden und bewegten Vergangenheit. Sie stehen da wie ein ernstes Denkmal der fliehenden Zeit, das im nächsten Sturm selbst fallen kann.

Auch das Klima von Scarl scheint herber und kühler geworden zu sein. Dürftige Äcker bringen eine späte und spärliche Ernte an Kartoffeln und Gerste, wo früher Korn reifte und guten Ertrag versprach.

Dem Freund charaktervoller Felsgipfel, brausender Wasser und sanfter Alpweiden indessen bietet das Clemgiatal vollen und tiefen Genuss. Er wird einen Frühherbstabend im stillen Hochtal von Scarl, seine leuchtenden Farben und die von Sonnengold umsäumten Bergkonturen nicht wieder vergessen.

Wir sassen am steilen Hang unter einer breit ausladenden Arve und sahen, wie das scheidende Tagesgestirn Ton und Licht der Landschaft in stetig gleitendem Wechsel veränderte, bis die Farbe in der Dämmerung erlosch.

Da aber auch die reinste und tiefste Naturfreude den jungen Tatendrang nicht auf die Länge zu bändigen vermag, suchte die Jugend gar bald nach intensiverer Betätigung. « Little Chamois » stand schmal und schmächtig auf der Spitze eines Felsobelisks, den er spielend erklommen hatte, und ahmte dort oben mit vollendeter Meisterschaft die Insassen des grossen Affenhauses im Londoner Zoologischen Garten nach.

Die übrigen Jünglinge aus Britanien und Helvetien massen sich in friedlichem Wettkampf. Das Spiel begann mit einem gegenseitigen Bombardement mit harzigen Arvenzapfen; es setzte sich fort in einem Fussballmatsch, dem ein morscher Lärchenstrunk als Ball dienen musste, und fand sein dramatisches Ende in einem wirren Knäuel von englischen Armen und schweizerischen Beinen, von Händen und Köpfen, von stark mitgenommenen Hüten und von den Füssen gleitenden Pantoffeln. Der Abhang war steil und das Alpengras glatt. So geriet denn die aus der Jungmannschaft international zusammengeballte Kugel ins Gleiten, ins Rollen und Drehen und rutschte in stets wachsender Eile jubelnd und kreischend, mit Halloh und Juhe der Clemgia entgegen. Ich aber durfte mir bei diesem engverschlungenen Spiel, bei dem es unmöglich war, zu entscheiden, wo der Engländer anfing und der Schweizer aufhörte, beruhigt sagen, dass die Entente cordiale von Cluoza sich zum Freundschaftsbund von Scarl weiter entwickelt hatte.

Braucht es den Hinweis, dass nach solchen hungererzeugenden Kraft-proben das Abendessen vortrefflich schmeckte? Zunächst allerdings mussten Jugend und Alter dem widrigen Volk der Fliegen, dessen Schwärme die Luft verdunkelten und das Arvengetäfer des Speisezimmers schwarz sprenkelten, eine blutige Schlacht liefern. Zum Glück standen wir ausserhalb der Grenzen des Nationalparks, und keine Vorschrift konnte uns das schöne Vorrecht des freien Mannes streitig machen, Tannzapfen zu werfen und Fliegen zu töten. 354 Leichen der leichtbeschwingten und kaltfüssigen Plagegeister bedeckten das Schlachtfeld. Unbelästigt verzehrten die Sieger das Mahl und pflegten in weichen Betten der wohlverdienten Ruhe.

Aus der Welteinsamkeit von Scarl führt eine schmale Strasse hinaus nach dem bewegten Leben von Schuls und Tarasp. Sie folgt der Clemgia durch das unwirtliche, zwischen Piz Pisoc und San Jon eingeengte Tal, überschreitet wilde Runsen, durch die bei jedem Unwetter neue Lasten von Schutt und Geröll zutal fahren, und zieht sich wieder hoch am Hang hin, wo auf magerm Grund Wälder genügsamer Bergföhren aufwachsen. In der Tiefe rauscht der Fluss; messerscharfe Rücken und nadelspitze Erdpyramiden steigen aus ihr empor. Regenguss und Schneesturm formte diese seltsamen Gebilde im Laufe der Jahre in unermüdlicher Arbeit aus dem fein zerfallenden Schiefergeschiebe.Von der Strasse zweigt ein Weg in die Spalte der Clemgiaschlucht ab. Er lässt das staunende Auge alle Wunder sehen, welche die Sonne mit fallenden und stürzenden Wassermassen hervorzuzaubern vermag. Über der Schlucht biegt sich der Schirm dicht belaubter Sträucher zusammen; Farrenwedel wuchern an den Wänden, und Moosteppiche bekleiden sie. Wo aber der nackte Fels in Steilabstürzen zutage tritt, ist es schwarzgrüner Serpentin oder hellgrün schimmernder Talk. Einzelne Lichtstrahlen verirren sich durch die Äste in die dunkle Tiefe der Klamm und lassen den verborgenen Bach auf eine kurze Strecke grell aufleuchten.

Wir hielten späte Mittagsrast auf der Höhe zwischen Vulpera und Fontana, im Schatten des stattlichen Grafenschlosses von Tarasp. Nun flog der Blick ungehemmt über das weite, offene Tal. Das Unterengadin mit seinem ungebändigten Fluss, den in rücksichtsloser Grosszügigkeit getürmten Bergen und den dunklen Waldschluchten der Nebentäler trägt die Züge einer heroischen Landschaft, des Schauplatzes eines antiken Mythus. Es würde nicht überraschen, einen Halbgott aus dem Tannendunkel treten zu sehen mit Löwenfell und Keule oder mit dem Medusenhaupt. Dem Heroischen freilich gesellen sich sanftere Linien: das Blau eines kleinen Sees, das Gold wogender Kornfelder und die Anmut lieblicher Dörfer, die sich auf sonnigen Terrassen breiten. Von drüben grüssen Fetan und das aus der Asche neuerstandene Sent.

In der unmittelbaren Nähe vollends wandelte sich die Szene zum Idyll. Über den steinigen Bergweg holperte ein Reisewagen, altmodisch und plump, aus der guten, verflossenen Zeit, die weder Schienenstrang kannte noch Automobilplage. Und hinter dem Hause, das uns Schatten spendete, schnitt ein stämmiger Bauer mit klingender Sense das Gras. Eine junge Frau bot ihm Hilfe, und die Eltern umtollte eine braunäugige Kinderschar. Damit das Bild häuslichen Glücks vollständig werde, fehlte auch der treue Hund nicht und die am Gartenzaun streichende Katze.

Idyllisch und heroisch zugleich mag auch der Anblick der im Grünen schmausenden Jünglinge gewesen sein, idyllisch wegen des frohen Eifers, mit dem das dem Rucksack entsteigende Mahl bewältigt wurde, heroisch, weil die Sommerhitze dazu zwang, jede nur irgendwie entbehrliche Hülle vom Leib zu streifen.

Der Abend des schönen Wandertages brachte eine doppelte Freude: die Einkehr in eine gastliche Herberge in Süs, deren erinnerungsreiche Schwelle ich sooft mit wandernden Studenten überschritten hatte, und das Wiedersehen mit Butler-Friday. Auch Langen kam wieder von Cluoza her. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den seiner Obhut anvertrauten, wieder genesenen Freund persönlich zurückzubringen und uns dazu noch einmal die Hand zu drücken. An äussern Gründen für einen frohgestimmten Abend gebrach es also nicht, und dem äussern Anstoss folgte willig der innere Mensch.

In der ersten Morgenfrühe des kommenden Tages funkelte das Heer der Sterne am noch nächtlichen Firmament. Frisch blies der Wind aus Osten. Die Aussichten zur langen Tagesfahrt über den Jöriflesspass nach Klosters an der Landquart konnten nicht besser sein.

Vom Süser Kirchturm schlug die Uhr die fünfte Stunde, als wir schwerbeladen, wie für eine Forschungsreise an den Nordpol ausgerüstet, das Gasthaus verliessen. An den Rucksäcken baumelten Netze und Schnüre, Flaschen, Dosen und Schachteln; denn nun fern vom Nationalpark sollte der Zoologe hemmungslos seinem Sammelhandwerk oder, wie Idealisten meinen, seiner Entdeckungskunst fröhnen.

Nach einer Stunde bogen wir von der Flüelastrasse ab. Das Zwielicht der Dämmerung war gewichen. Ein Stern nach dem andern erlosch. Nur die schmale Mondsichel stand noch blass im kalten Morgenblau, wie ein schimmerndes Wölklein, über dem Schwarzhorn. Die Frühherbstsonne begann ihren weiten Tageslauf. Sie erfüllte das Alpental von Fless mit goldenem Leuchten. Ihre Strahlen funkelten in tausend Tauperlen und erweckten überall Leben, Farbe und Ton, am eilfertigen Bach und an der steilen Halde. Dem Weckruf des Gestirns antwortete freudig alle Kreatur, das Murmeltier vor seinem Bau mit schrill an den Felswänden verhallendem Pfiff, der Vogel in der Luft mit der abgerissenen Strophe eines halbvergessenen Früh-lingsliedes, der Käfer mit dem brummenden Gesang seiner Flügel, mit Glockengeläute die zur Weide ziehende Herde.

Vor den niedern Alphütten von Fless dadaint drängten sich hellfarbene Rinder und Kühe mit glattem, glänzendem Fell, um aus der Hand der Sennen die wohlbemessene Morgenration von Salz zu erhalten, und mitten im Gedränge fuchtelten meine Engländer mit den Stöcken und fanden es « wonderful », sich von all dem schleckenden Hornvieh stossen und quetschen zu lassen.

Hinter den Hütten steigt der Hang abschüssig und hoch zur Passhöhe empor. « Dann kommt ihr zu den ewigen Seen », sagt Schiller. An den Südfuss des vergletscherten Weisshorns legt sich in einem sanft abfallenden Hochtal ein Kranz von dreizehn Wasserbecken, ungleich an Grösse, an Form, Farbe und Umgebung. Den tiefblauen Spiegel der einen umrahmen sonnige Matten; andere liegen in öden, wüsten Gerölltrichtern, oder der zerschrundete Jörigletscher fällt in bläulich schimmernder Firnwand zum Wasser ab. Von einigen der Becken weicht das Eis nur selten. Eine starre Decke überspannt den See jahrelang oder löst sich erst im Spätsommer in schwimmende Schollen und abenteuerlich geformte Blöcke.

Gletscher und Schmelzwasser verleihen dem Landschaftsbild von Jörifless sein fremdartiges, hochnordisches Gepräge. Und der Eindruck der Arktis verstärkt sich durch die von vorzeitlichen Eisströmen aus dem harten Fels geschliffenen Rundhöckerhügel, durch die aus groben Klötzen aufgeschütteten Moränen und durch die spärliche Grasnarbe, die mit ihren bunten Blüten aus Ritzen und Spalten zum Lichte drängt. Tiefe, fast bedrückende Stille legt sich über das Bild der noch nicht zum Abschluss gekommenen Eiszeit.

Nun standen wir wirklich in Grönland, dem Nordpol nahe. Diese Vorstellung gewann rasch an Wahrscheinlichkeit. Nebel schlichen urplötzlich aus verborgenen Klüften und Höhlen; ein eisiger Wind liess die Hand am Becher erstarren und legte den frostig-grauen Spiegel der Seen in zitternde Runzeln und kurze Wellen. Die Missgunst der Götter versagte der frohgemuten Schar eine sonnige, warme Rast auf blumigen Matten. Sie auferlegte uns noch weitere Prüfungen und forderte schwerere Opfer. Kaum versank das neueste und schönste Seidennetz in der Flut des obersten Sees, um Kunde zu bringen von den Tieren der Tiefe, so blieb es auch schon an einem spitzen, unter-seeischen Felsblock hängen. Eine Wasserfrau, so lautete die romantische Deutung des fatalen Zwischenfalls, hielt den kostbaren, seidenen Beutel mit gieriger Hand fest.

Freund Fritz, der inzwischen zu den neuen Würden eines Netzverwalters und Fischereimeisters vorgerückt war, ertrug den herben Schicksalsschlag mit stummer Fassung. Er eilte am Ufer hin und her, an der Schnur zerrend, und dann wieder lockend, drohend und schmeichelnd. Umsonst, der schöne, seidene Flüchtling verharrte eigensinnig in der Tiefe. Und als es endlich nach langer Zeit gelang, ihn der Umarmung der Nixe zu entreissen, war das Netz mit Rissen bedeckt und von Löchern durchbohrt, den sichtbaren Zeichen seiner unterseeischen Abenteuer.

Besser glückte ein Fischzug im zweiten See. Diesmal kehrte das Netz heil zurück und, zum Staunen der Jungmannschaft, gefüllt mit einer wimmelnden Menge hochrot gefärbter Krebschen, wie sie sonst nur am Eisrand des Nordpols leben, in den Tümpeln von Grönland und in den Hochseen des arktischen Skandinavien.

Der Nebel lastete dichter und schwerer auf dem Gletscher; beissender und stärker blies der Wind. Zur Linken flog mit gespannten Flügeln ein Adler, wohl ein Unheil kündender Götterbote. Solchem Auspizium fügten wir uns. Über Steilhänge und Felsköpfe kollerten wir talwärts. Dann querten wir geflügelten Schrittes einen weiten Wiesenplan, auf dem Pferderudel dahin-jagten wie auf freier Steppe, und durchwateten einen schäumenden Fluss. Erst in der Vereinahütte, am Herdfeuer, beim singenden Teekessel, taute das erstarrte Albion auf und erwärmte sich die frierende Schweiz. So stand denn der abendliche Marsch hinaus nach der Landquart unter dem Zeichen des klingenden Wanderliedes. Hochwald und Fels riefen das Echo zurück, und Bach und Wasserfall rauschten die Begleitung.

Noch sehe ich Freund Fritzens erstaunten und zugleich leise vorwurfsvollen Blick, als ich an der Spitze meiner Schar in Klosters in ein weitbekanntes, grosses Hotel einbog. Das Erstaunen wuchs, das Gesicht wurde länger und die Augen grösser, runder und strenger im Lift, in der Pracht der teppich-belegten Zimmer, bei der Fülle des leckern Mahles. Erst als Fritz am nächsten Morgen kritisch prüfend die Rechnung durchflog, hellte sich des Kassiers Gesicht mit einem heitern Sonnenschein froher Enttäuschung auf. Die Genüsse von Klosters aber, das erfrischende Bad, das weiche Bett und das « very nice dinner » schlürften wir mit derselben Wonne, mit der einst Hannibals Soldaten nach dem Alpenübergang den Freudenbecher Campaniens leerten. Zudem konnte ich die Wahl des Gasthauses mit der ebenso glaubwürdigen als scheinheiligen Entschuldigung rechtfertigen, es sei durchaus geboten gewesen, die jungen Engländer einmal in ein « first class Hotel » zu führen, sonst hätten sie von der Schweiz einen ganz unvollständigen Eindruck erhalten.

Fritz Zschokke.

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