Zukunft für den «Löwen» in Mulegns Stiftung als kulturhistorische Hoffnungsträgerin
Im Posthotel Löwe in Mulegns steht die Zeit still. Vor 100 Jahren nächtigte im «Löwen», wer über den Julier wollte. Jetzt soll das altehrwürdige Hotel gerettet werden.
Damals, nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, rollte einmal pro Tag die eidgenössische Postkutsche über den Julierpass. Auf dem langen Weg von Chur ins Engadin machten die Reisenden Etappenhalt im Posthotel Löwe in Mulegns. Die strapaziöse Fahrt bis Samedan nahm 14 Stunden in Anspruch. Der «Löwe» war nicht nur zentrale Wechselstation der Julierpostpferde, sondern auch ein Passantenhotel für gehobene Ansprüche.
In den Gästebüchern finden sich illustre Namen. Einer der schillerndsten ist wohl jener von Prinzessin Mary Adelaide vom englischen Königshaus, die Mutter der späteren Queen Mary, die hier 1884 samt ihrem Gefolge nächtigte. Auch Berühmtheiten wie Albert Schweitzer oder Wilhelm Conrad Röntgen nahmen die Dienste des Hauses in Anspruch. Und der spätere Papst Paul VI, der Erzbischof Montini von Mailand, hat hier Anfang der 1960er-Jahre auf der Durchreise zu Mittag gegessen, vermutlich das Hausgericht, Julier-Forellen.
Wegen Albulatunnel gings bergab
Der Bau des spätklassizistischen Gebäudes geht auf das Jahr 1870 zurück. Eine wesentliche Erweiterung erfährt das Hotel 1897 mit einem Anbau, der einen bis heute erhalten gebliebenen Jugendstilsaal beherbergt. Man stellt sich unwillkürlich die eine oder andere rauschende Ballnacht vor und die Herren, wie sie in der Bel Etage ihre Zigarren rauchten. Es war die Blütezeit des «Löwen». Mit der Eröffnung des Albula-Eisenbahntunnels 1903 fand sie ein jähes Ende; die Reisezeit ins Engadin verkürzte sich auf vier Stunden. Von 22 700 Postreisenden über den Julier im Jahr 1900 sank die Zahl auf 1500 im Jahr 1908.
Kurze Blüte in den 1950ern
Ihr Leben lang hat Donata Willi (76) mit ihren Geschwistern das Hotel geführt, das ihr Vater 1950 gekauft hatte. Sie war für Administration, Einkauf und Löhne zuständig. Mit dem Bau des Marmorera-Staudamms (1950–1955) erlebte das Hotel nochmals eine Hochblüte. «Das war eine aufregende Zeit», erinnert sich Donata Willi, die damals 13 Jahre alt war. Wegen des Dammprojektes hatten sich gute Dauergäste hier eingemietet – Ingenieure, Techniker, Maschinisten. Reto Willi, der Bruder von Donata, war ein bekannter Koch; seine Forellen aus der Julia waren legendär. Dank dem Aufschwung von Savognin und Bivio brachten auch die 1960er- und 70er-Jahre nochmals einen Aufschwung.
Der nagende Zahn der Zeit
Seit 1990 leitet Donata Willi den Betrieb des «Löwen» allein. Heute fristet das grossartige Gebäude aus den Anfängen des bündnerischen Hotelbaus ein Mauerblümchendasein als Hotel Garni mit zehn Zimmern. Etwas Wehmut schwingt mit, als die Leiterin den Besucher durch die Bel Etage im ersten Stock in den Saal führt. Vom vergangenen Glanz ist vieles zu erahnen. Die Vorhänge und Farben sind wohl verblichen, doch das Ganze ist ohne bauliche Eingriffe erhalten geblieben. Eine wahre Trouvaille. Vergangenen Winter musste das Dach des Anbaus mit einer Notsicherung vor eindringendem Wasser geschützt werden. So konnten die original erhaltenen Gästezimmer im obersten Geschoss vor der Zerstörung bewahrt werden. Die Aktion wurde vom Bündner Heimatschutz und seiner engagierten Geschäftsleiterin, Ludmila Seifert, koordiniert und finanziert. Ein Teil der Mittel stammt auch von der Schoggitaleraktion des Schweizer Heimatschutzes. Die Kunsthistorikerin Ludmila Seifert hat die Geschichte des «Löwen» ausführlich im Bündner Monatsblatt (3/2012) gewürdigt.
Neue Bestimmung ist nötig
«Das Gebäude sollte als wichtiger Zeuge einer Epoche erhalten bleiben», ist Ludmila Seifert überzeugt. «Der ‹Löwe› muss nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten restauriert und einer neuen Bestimmung zugeführt werden.» Das übersteigt jedoch die Möglichkeiten der Familie Willi definitiv. Sie will daher möglichst rasch verkaufen und hofft auf einen Investor mit gutem Flair für Gastroprojekte. 2010 hat sich eine breit abgestützte Arbeitsgruppe Gedanken darüber gemacht, wie der «Löwe» als historisches Hotel neu belebt werden könnte. Die Idee eines Sozialprojektes scheiterte allerdings nur schon an den Kosten; eine sorgfältige Instandstellung wäre auf sieben Millionen Franken zu stehen gekommen.
Auch Architekturstudierende der Universität Liechtenstein machten sich Gedanken und präsentierten 2012 mögliche Nutzungskonzepte. Dabei kristallisierte sich deutlich heraus, dass eine Lösung für das Hotel mit der «Rettung» des Dorfes als Ganzen verknüpft sein muss: als Ort, wo neue Arbeitsplätze entstehen, damit die Abwanderung zum Stillstand kommt. Etwas mit Pferden vielleicht, ein römisch-irisches Dampfbad, eine Burn-out-Klinik. Realistisch erscheint aber vor allem das Zusammengehen mit dem Parc Ela, mit dem viele Synergien denkbar wären.
Zukunft des Dorfes ist ungewiss
Zwei Grundprobleme plagen das Dorf heute: die Abwanderung und die Julierpassstrasse. Das Dorf weist gerade noch 27 vorwiegend ältere Einwohner auf. Jeden Tag quälen sich 4000 Fahrzeuge durch ein Nadelöhr beim Hotel «Löwe». Oft kommt es zu langen Rückstaus, da ein Touristenbus oder ein langer Lastwagen hängen bleibt. Mehr als einmal stand beim Kanton der Abbruch von Häusern zur Diskussion, um die Strasse besser passierbar zu machen. Dies scheiterte am Widerstand der Hausbesitzer. Aktuell ist daher die Frage einer Umfahrungsstrasse. Die wäre bei Annahme der Olympischen Spiele durch das Bündner Stimmvolk wohl rasch realisiert worden – unterhalb des Dorfes an der Julia. Doch ihr Bau ist zurzeit ungewiss. Wie überhaupt die Zukunft von Mulegns: Ein Film im SRF diesen März brachte wenig Hoffnungsvolles zutage; vom Dorf selber kommen kaum Impulse.
Im April 2013 präsentierten die Studenten der Schweizerischen Hotelfachschule Luzern (SHL) in ihren Diplomarbeiten sechs verschiedene Szenarien, wie das Posthotel «Löwe» einer neuen, betriebswirtschaftlich tragbaren Lösung zugeführt werden könnte. In allen Arbeiten spielten der Einbezug der Natur (Parc Ela) und des historischen Hotelerbes eine Rolle. Für die Besitzerfamilie Willi und den Verein Parc Ela waren die Visionen der SHL-Schüler sehr inspirierend – trotz dem ernüchternd hohen Investitionsbedarf. Eine Stiftung zur Erhaltung der kulturhistorischen Hotelliegenschaft ist derzeit in Gründung.