Zum Panorama des Piz Bacone
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Zum Panorama des Piz Bacone

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Hinaus aus der schwülen Luft des Bergells in die reinen Höhen der Gletscherwelt! Ja, schwül, eng und steil, wie die meisten südlichen Alpentäler, ist das Bergell, das sich zwischen himmelhohen Bergzügen von Chiavenna gegen das Engadin hinaufzieht. Chiavenna liegt 332 in. über Meer, Castasegna, das erste Bündner Dorf, zirka 400 in. höher.

Von hier weg zieht sich der Weg leicht ansteigend noch ein Stündchen weit bis zu einer Felsenschwelle, die von einem Ausläufer des Albignazuges gebildet wird, das Tal durchquert und es in über- und Unterporta scheidet. Das ganze untere Bergell, Unterporta, ist ein einziges Gewoge von Baum und Strauch. Wie eine riesige Welle strotzender Triebkraft, die am Felsendamm rückprallend sich zu einem wallenden grünen Meer anstaut, dehnt sich der Boden hin. Die steilen Abhänge und auch die Talsohle sind zwar vielfach von Rufen und Wildbächen zerschnitten, aber über alles webt die Natur ihr wohltuendes Kleid. Schutt und Geröll sind von grünem Gespinst überzogen, aus jeder Felsenspalte quillt und treibt es, daneben schlingt die Rebe am leichten Lattenwerk der Pergolen ihre Blättergirlanden und verbirgt darunter weite Strecken der Verwüstung. Beherrscher des Bodens ist die Edelkastanie, die sich weit an den Bergen hinaufzieht; sie klammert sich an zerrissene Felsstücke, saugt aus jedem Fleckchen Erde Nahrung, bohrt sich tief in zerklüftetes Gestein, in gutem Grunde aber wächst sie sich zu Riesenstämmen aus, neben welchen gewöhnliche Obstbäume ganz verschwinden. Der Kastanienbaum ist ein echter Sohn der südlichen Alpentäler. Er ist sozusagen ein Bindeglied italienischer und deutscher Vegetation. Sein reicher dunkelgrüner Blätterschmuck, die stachligen Kapseln, welche die nahrhafte, mehlige Frucht bergen, zeugen von italienischer Üppigkeit, während der knorrige Stamm mit den ungefügen Ästen an den deutschen Eichenwald erinnert.

Der Weg von Chiavenna bis zur Porta weist eine Fülle von Überraschungen auf, jede Wendung bietet eine neue Aussicht. Hier stürzt der weiße Strahl eines Wasserfalls von einer Felsenwand, dort ragt ein lose aufgeschichtetes, von Schlinggewächs halb erdrücktes Gemäuer empor, hier ragt ein Turm, um den sich eine größere Häusermasse schart, aus dem Grünen, dort sonnt sich oben am Bergeshang ein Dörfchen. Auch das lebendige Treiben der Menschen tritt an uns heran, hier fröhliche Landleute, die mit ihren Gern ( Tragkörben ) zur Arbeit ausziehen, hier Touristen, Radfahrer, Fuhrwerke, ein Postzug mit vielen Wagen, dann wieder vollkommene Einsamkeit und Stille. Der Weg geht durch Kastanienwald, oben verweben sich die dunkeln Kronen zu domartigen Kuppeln, unter welchen es so feierlich still, so dämmerig kühl ist wie in einer italienischen Kirche. So geht es in fortwährender Abwechslung bis zur Porta, der Felsenschwelle; diese bildet einen zum Teil grün überwachsenen Hügel, der von einem altersgrauen Turm und einem weißen Kirchlein gekrönt wird. Unten führt die Straße durch eine Galerie. Hat man diese durchschritten, so ändert sich die Szenerie mit einem Schlage. Die Edelkastanie tritt nur noch als Flüchtling auf, Tannen-und Lärchenwald reicht bis zur Talsohle nieder, auf grünen Matten liegen Häuser und Ställe zerstreut umher, so daß man sich auf einmal ins Hochgebirge versetzt glaubt. Das Tal verengt sich zur Schlucht, die schmale Talsohle ist mit riesigen Steinblöcken übersäet, die von der allmählichen Abtragung der Berge erzählen. Bei Vicosoprano erweitert sich das Tal wieder, und in lieblicher Rundung von Tannenwäldern rings umgeben liegt das stattliche Dorf, das sich in den letzten Jahren zum Luftkurort entwickelt hat. Nun geht es von Stufe zu Stufe rasch aufwärts. Rechts öffnet sich das Seitental der Albigna mit seiner Gletscherwelt; zwischen Vicosoprano und Casaccia zeigt sich und verschwindet mehrmals der Albignafall. Großartig ist der ganze Albignazug mit seinen kühn aufgebauten Felsenburgen, Türmen und Mauern, die man von hier aus für eine versteinerte Stadt halten könnte. Ob Casaccia hebt sich der Weg plötzlich zu einem kühnen Sprunge, der Süd und Nord verbindet. In sechzehn prächtigen Windungen rankt sich die Straße am Bergkörper empor. In einem Stündchen ist man in Maloja. Nichts kann überraschender sein als der Übergang aus der Vegetationsfülle des Bergells in die Leere des Hochplateaus. Der Naturtrieb scheint sich hier von seiner Überanstrengung zu sammeln und auszuruhen. Klein und spärlich sind seine Hervorbringungen, aber nicht minder anmutig und zum Gemüt sprechend.

Maloja ist eine köstlich grüne, von Millionen leuchtender Alpenblumen übersäete Oase. Weite Strecken sind von der edelsten Blume des Hochgebirges, der Alpenrose, bedeckt und gewähren im Juli einen prachtvollen Anblick. Gegen die Bergellerseite gedeihen noch etwas Nadelhölzer, aber auf der offenen Fläche hält kein Baum mehr vor dem Wind stand, die Tannen arten in Gestrüpp aus und führen im Schütze erratischer Blöcke ein kümmerliches Dasein. In den Achtzigerjahren wurden in Maloja viele Gletschermühlen entdeckt, ein Beweis, daß es früher ein Gletscherfeld war, denn die Mahlsteine, die man in den Kesseln fand, sind nicht Malojagestein, sondern haben ihren Ursprung am Forno, woraus man den Schluß zieht, daß der Malojagletscher eine Fortsetzung des Fornogletschers war. Das jetzige Maloja liegt 1811 m. über Meer in erhabener Bergwelt. Links ziehen sich die dunkeln, stark verwitterten Felspyramiden, Spitzen, Zacken des Piz Longhino, Gravasalvas, Lagrev hin, rechts die Kuppen des Forno- und Margnagebirges, im Rücken ragen die Giganten des Bergells empor, vor uns öffnet sich das weite Enga-dinertal mit dem Silsersee.

Vor wenigen Dezennien war Maloja noch eine einsame Berggegend. Zum Luftkurort wurde es vom Grafen Renesse umgeschaffen, welcher Boden kaufte und ein großartiges Hotel darauf baute, wohl eines der schönsten und größten Etablissemente der Schweiz. Sein Traum war, hier eine kleine Stadt für Sommerfrischler zu gründen, Maloja sollte ein Sammelplatz belgischer und französischer Aristokratie werden. Zwar erheben sich nun auch andere Hotels, Villen, Chalets, sogar Kirchen auf dem Hochplateau, aber das finanzielle Unternehmen mißlang, der Graf ist tot, die Stadt hat noch zu kommen, unter die Aristokraten mischen sich Plebejer aus aller Herren Ländern, und alle sind den Wirten willkommen, sofern sie einen gefüllten Geldbeutel mitbringen.

An einem schönen Septembervormittag traf ich nach Verabredung mit dem Führer Milesi und einem Träger im Hotel Kulm zusammen. Bei Herrn Schumacher fanden wir beste Verpflegung und mäßige Preise. Wir aßen zu Mittag und versahen uns mit Proviant. Dann lenkten wir in das Seitental des Forno ein, das von der Orlegna und dem Cav-locciobach durchflössen wird. Die Orlegna hatte früher ihren Abfluß in den Silsersee und sandte ihre Gewässer nach dem Schwarzen Meere, aber mit den geomorphischen Verhältnissen änderten sie ihren Lauf; nun springt sie in mutwilligen Sätzen ins Bergell der Maira in die Arme, mit der sie gemeinschaftlich ins Mittelmeer wandert.

Zwei Wege führen in das höchst idyllische Tälchen, der alte Saumweg des Muretto und der Fahrweg zum Cavlocciosee. Der Murettopaß war früher viel begangen, da auf Saumrossen Veltlinerwaren, namentlich Wein, nach dem Engadin geführt wurden, seit dem Bau der Berninastraße ist er fast ganz verlassen. Wir wanderten auf dem Fahrweg rechts ins Fornotal. Die Vegetation rafft sich hier zu einer letzten Kraftanstrengung zusammen und bringt, in dieser Höhe fast ein Wunder, noch einen prächtigen Lärchenwald hervor. In demselben standen wir plötzlich vor einem dunkelgrünen See, der uns in dieser weltfremden Umgebung wie ein Märchen anmutete. Der Schatten des Pizzo Rosso lag darin klar und in allen Nuancen der Farben abgetönt wie ein Gemälde Segantinis. Die Lärchen, die dunkeln Felsen, die in die Fluten hineinragten, dazwischen kleine stille Buchten bildend, vermehrten das Zauberhafte der Erscheinung. Unermeßliche Einsamkeit schien hier in der Luft zu weben, über dem Wasser zu schweben, uns ganz einzuhüllen. Wahrlich, hätte ich Neigung zum Eremitenleben, so würde ich hier meine Klause bauen. Um das Idyll vollständig zu machen, befand sich am Ende des Sees ein schöner Weideplatz mit einer Alphütte. Dann bogen wir um einen Felsvorsprung und durchschritten Pian Canin, eine magere Weide, die in eine wüste Schutt- und Geröllhalde überging. Bald setzten wir den Fuß auf den Fornogletscher und hatten damit jenes ungeheure Eisfeld betreten, das am Bernina seinen Kern hatte und von da aus seine weißen Arme ausstreckt. Unser Ziel war der Piz Bacone ( 3243 m ) auf Bergeller-gebiet.

Der Fornogletscher ist glatt, eben und wenig zerspalten, ein wahrer Gletschersalon, darum wird er auch von Damen gern besucht. Rüstig-voranschreitend erreichten wir abends gegen 7 Uhr die Clubhütte, die links vom Gletscher liegt. Wir waren die einzigen Insassen, richteten uns gemütlich ein und kochten uns etwas Warmes. Dann erholten wir uns an den Erzeugnissen unserer Kochkunst und begaben uns bald zur Ruhe, des kommenden Tages gewärtig. Unter den wollenen Decken schliefen wir herrlich und am Morgen um 5 Uhr waren wir schon unterwegs. Es dämmerte noch, die prickelnde Gletscherluft biß uns ins Gesicht und durchdrang unsere Kleider. Aber die Sonne, die Sassella und Inferno braut, stieg mit warmem Strahl vom Veltlin herauf, und dankbar begrüßten wir die Wärme- und Lichtspenderin. Wer vor Tagesgrauen gewandert ist, weiß, daß unsere Lebensgeister erst mit der Sonne recht erwachen. Wir durchquerten den Gletscher, der auch in seiner Breite eine stattliche Ausdehnung hat, und standen bald am Fuße des Piz Bacone. Der Aufstieg'begann, der durch frisch gefallenen Schnee ziemlich erschwert wurde, stellenweise sanken wir bis ans Knie in die weiche Masse. Wir vermieden die Vertiefungen, in denen der Schnee zusammengeweht war, und stiegen im Zick-Zack empor. Anfangs bot der Weg keine anderen Schwierigkeiten, aber allgemach wurden die Felsen steiler und zerklüfteter, dafür freilich schneefrei. Halbwegs begann die Kletterpartie, an die wir alle unsere Kräfte setzen mußten, da sie ungefähr zwei Stunden in Anspruch nahm. Bald mußten wir unsere Pickel zurücklassen, um von beiden Händen Gebrauch machen zu können. Einige Stellen waren höchst schwierig und erforderten Gewandtheit im Klettern und gänzliche Schwindelfreiheit. Der Träger, der mit dem schweren Apparat beladen war, wurde zweimal am Seil aufgezogen. Um 11 Uhr hatten wir das Mögliche erreicht, wir waren fast oben; der Gipfel blieb uns leider versagt, etwa 40 m. von ihm entfernt stellte sich uns ein unüberwindliches Hindernis entgegen. Nachdem wir eine überhängende Wand überwunden hatten, klaffte eine Felsenspalte vor uns, der jenseitige steile Rand war vereist und hätte unsern Füßen keinen Halt geboten, es wäre mehr als verwegen gewesen, den Sprung zu wagen. Wir kehrten einige Meter zurück zu einer Stelle, die uns ein paar Sitzplätze gewährte und wo ich für meinen photographischen Apparat einen sichern Platz fand. Hier rasteten wir, die Luft war klar und durchsichtig, die Temperatur stand zwar unter Null, aber es war windstill und die Sonne wärmte, so daß wir durch nichts gestört den wunderbaren Anblick, der sich uns darbot, genießen konnten. Tief unter uns, fast zu unsern Füßen, lagen wie glatte Riesenströme die langgestreckten Gletscherfelder des Forno und der Albigna. Weit darüber hinaus schweifte der Blick. Die Grenze im Nordosten bildete die imposante Masse des Berninastockes mit seinem Ungeheuern Eisgebiet, aus welchem, ihre Umgebung beherrschend, Piz Bernina, Roseg, La Sella hervortraten. Von hier weg ging leider ein Wolkenzug nach Südwesten, der die Aussicht verhinderte. Aber in vollem Glänze stand im Süden Monte della Disgrazia mit seinen vielverschlungenen Gletscherfeldern, weiter hinaus gegen Westen dehnte sich die fortlaufende Felsenmauer des Monte Sissone, Torrone orientale. Torrone occidentale, Monte Zocco. Voll Freude begrüßten wir in jener Richtung die Bondascagruppe, Cima della Bondasca, Cengalo, Piz Badile, Turbinasca, vertraute Gestalten aus dem Bergen. Sie bildet den Hintergrund eines Seitentales gleichen Namens, das sich bei der Porta öffnet, und ist ein Glanzpunkt des Bergells. Der Bondascagletscher, der böse, steile, zerklüftete, blieb uns verborgen, aber dem linken Band des Albignagletschers folgend, fanden wir andere Bekannte, die drei Pizzi Sciora und Piz Cacciabella. Zwischen Albigna- und Fornogletscher erhoben noch zwei Größen ihr Haupt, Casnile und Cima di Castello. Der Norden blieb uns durch unsere Stellung verdeckt, aber wie wir bei unserer Rückkehr hörten, war er bewölkt, also wäre er uns doch verloren gewesen. Doch unsere Mühe war durch das Panorama, das sich vor uns auftat, reichlich belohnt.

Die Verhältnisse zur photographischen Aufnahme waren günstig, ich stellte die Camera auf und faßte die ganze Herrlichkeit auf meine Platte.

Dieses Reich des Tales, wo der Pulsschlag der Natur aufgehört zu haben scheint, wo Eis und Gestein allein Berg und Tal bilden, wo weder Schall noch Bewegung der Kreatur, sondern nur die gewaltigen Äußerungen der Elemente an unsere Sinne dringen, scheint von der lebendigen Welt ganz geschieden zu sein. Aber der Mensch bezwingt Eis und Gestein und versteht es, die Verbindung zwischen seinen bewohnten Stätten und dieser Welt der Erstarrung, die für ihn einen unüberwindlichen Reiz hat, herzustellen. Mehrere Pfade führen zu und aus diesem Gletscherlabyrinth. Über den wilden, mit Eisblöcken übersäeten Passo di Casnile gelangt man zum Albignatal und nach Vicosoprano, im Hintergrunde des Albignagletschers führt der Passo di San Martino nach dem Masino-tal ins Veltlin, über Cacciabella kommt man nach dem Bondascatal und nach Promontogno.

Der Abstieg ging schneller von statten als der Aufstieg, dafür war er aber bedeutend schwieriger. Abends 6 Uhr waren wir wieder in Maloja. Ich wanderte weiter und erreichte um Mitternacht nach 17stündiger Tagreise mein Heim. Müde, aber hocherfreut über die gelungene Eeise, legte ich mich zu Bett und schlief den längsten Schlaf meines Lebens.

A. Garbala ( Sektion Bernina ).

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