Zur Himalaya-Chronik
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Zur Himalaya-Chronik

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

von Edmond Pidoux, Lausanne

Eine Einführung Jene Leser, die weder Möglichkeit noch Lust haben, sich einer Expedition zum Dach der Welt anzuschliessen, könnten es übertrieben finden, dass wir in unserer Zeitschrift der Himalaya-Chronik derart viel Platz einräumen. ( Zu)wenig interessiert sie der dokumentarische Wert dieser, früher von G. O. Dyhrenfurth, heute von unserem Kameraden Trevor Braham verfassten Berichte. Mit demselben abschätzigen Urteil hat man übrigens auch die geschichtlichen Darstellungen in unseren alpinen Handbüchern bedacht. Reine Platzver-schwendung hiess es!

Während niemand die Nützlichkeit einer Landkarte zur Orientierung im Gelände bestreitet, scheint eine Chronologie zur Orientierung in der Zeit weniger notwendig. Dabei handelt es sich aber um eine ebenso kurzsichtige wie anmassende Betrachtungsweise. Fortschritt beruht auf der Kenntnis und der Erfahrung dessen, was erreicht wurde. Dazu tragen unsere Himalaya-Chroniken, die von mehr als einer ausländischen Alpenzeitschrift nur zu gerne übernommen würden, bei.

Eine Anhäufung von Daten kann ebensowenig wie ein Fahrplan oder ein Wörterbuch eine zusammenhängende und unterhaltende Lektüre bieten; aber in bestimmten Fällen kann auch sie unentbehrlich sein. Davon abgesehen: wollte man die chronologische Entwicklung darstellen, träfe man auf zwei Hindernisse. Einerseits ist man von wortkargen, bedächtig antwortenden Informanten abhängig, andererseits tut sich so viel im Gebiet des Himalaya, dass man mit der Darstellung überfordert wäre. Bald wird man zwischen Versuchen und Erfolgen diejenigen, die man der Erwähnung für würdig hält, auswählen müssen, ein Vorgehen, dem immer etwas Willkürliches anhaftet. Schliesslich werden eines Tages die heroischen Zeiten ein Ende finden und, wie das für die Berge bei uns der Fall ist, wird man sich an einfache Routenskizzen, Führerwerke und Beschreibungen in Alpinzeitschriften halten.

Trotz ihrer Ausführlichkeit bleibt die Chronik lückenhaft. Viele Expeditionen hinterlassen nichts schriftlich Fixiertes. Die Bescheidenheit, ( tatsächlich !) oder die Schreibfaulheit sind, ebenso wie auch die Zurückhaltung heimlicher Besteiger verbotener Gipfel die Gründe dafür. Aber auch der beste Bericht wird immer unvollständig sein. Es bleibt dem phantasievollen Leser überlassen, sich das Abenteuer, die unerhörte Willensanstrengung, den Mut und die Intelligenz, die es beinhaltet, vorzustellen; oder auch die Tragödien mit ihrem stets grausamen, ja manchmal empörenden Ablauf. Unsere Chronik, so wie sie vor uns liegt, enthält genügend Stoff, um die Phantasie anzuregen und uns zum Nachdenken aufzufordern und wäre es nur auf Grund der Anzahl Toten im Jahre 1981 am Himalaya: zweiundvierzig! Beunruhigender als diese nüchterne Zahl an sich ist das, was diese Dramen aufzeigen: die Einstellung menschlichen Werten gegenüber und besonders dem höchsten, der Solidarität. Die Höhe scheint den charakterlichen Qualitäten des Bergsteigers nicht unbedingt förderlich zu sein...

Überdies wird man die immer engere Übereinstimmung in der Entwicklung des aktuellen Himalaya-Bergsteigens und des Alpinismus von gestern bemerken. Heute wie damals ist die allgemeine Erforschung die erste Phase der Eroberung gewesen. Die zweite Phase bestand in der Erstürmung des höchsten Gipfels. Die dritte brachte die Konzentration auf bekannte Spitzen. Die vierte das Auffinden verschiedener Routen und die Suche nach bis dahin noch unbekannten Zielen. Und schliesslich: durch die Häufigkeit und die Wiederholungen wird die ganze Sache witzlos, während anderseits der Durst nach Leistung bis zum ( Geht-nicht-mehr> nun in Felsabstürzen, Schluchten und Eiskaskaden, die noch abweisender und unmöglicher als jene Gipfel sind, gestillt wird.

Im Laufe dieser Entwicklung zeigt sich die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des menschlichen Organismus und des menschlichen Geistes: eine Anpassungsfähigkeit, die in vier voneinander abhängigen Formen in Erscheinung tritt:

Die erste Form der Anpassung erfolgt durch die Technik, die abgestimmt ist auf die neue Umwelt, deren Weiträumigkeit und Höhe, deren Temperaturen und Winde; auf die verschiedenen Schneearten, Gletscher und Felsen und alle die Unbilden, denen wir ausgesetzt sind. Zuerst zeigt sich hier eine Spezialisierung im Material. Dieses wird immer komplizierter, reichhaltiger, sicherer und schwerer... und am Ende störend: den Ritter behindert schliesslich seine Rüstung. Und dann, durch eine gegenläufige Bewegung, wobei die Technik ihren Anteil beibehält, kommt man zurück auf den fast nackten Menschen, den kühnen Akrobaten. Dieser ist im Extremfall nur noch auf sich allein gestellt wie Reinhold Messner: Neunmal auf 8000 Meter Höhe, zuerst ohne Sauerstoffmaske, dann noch ohne Begleiter, ohne Zelt, ohne Funkverbindung. Im entgegengesetzten Fall revanchiert sich das Gerät: der Ski ( bis heute zwei Abfahrten von Achttausendern ausschliesslich dank ihm ), oder der Deltasegler, der dem Flugzeug und Helikopter gefolgt ist. Dann kommen die festin-stallierten, ständigen wie Strassen, Brücken, Landepisten, Hotels, Touristikunter-nehmen; letztere zuerst wenig interessiert, dann rasch kommerziell tätig werdend. Der seit kurzer Zeit im Himalaya in Erscheinung tretende Rettungshubschrauber wird, wie in den Alpen, die technischen Bedingungen der Expeditionen und die Mentalität der Kletterer tiefgreifend verändern.

Dann die zweite Form der Anpassung. Sie ist psychologischer Art und steht in engem Zusammenhang mit der ersteren. Eine bessere Kenntnis des und der neuen, feindseligen Umwelt verringert bis zum Verschwinden den , diese ebenso tiefe wie unbestimmte, ebenso wirkungsvolle wie kaum bewusste Angst; kurz, die Angst vor dem Unbekannten wird abgebaut. Wenn man die Berichte der Pioniere liest und sie mit den heutigen Erzählungen vergleicht, ist man erstaunt über die zunehmende Entdramatisierung des Himalaya. Die anfänglichen Schwierigkeiten genügen nicht mehr, weitere müssen gefunden werden. Fast könnte man an das Erscheinen einer neuen menschlichen Art glauben, die mutiger oder zäher ist: zum Beispiel ist der Verzicht auf die Sauerstoffmaske auf dem Wege, sich allgemein durchzusetzen. Früher war sie noch, wie Wissenschafter und alpine Vereine verlauten liessen, unentbehrlich, was jedoch schon 1921 und 1924 durch Somervell, anlässlich britischer Expeditionen zum Everest, widerlegt wurde. Damals wurde auch die Bergkrankheit am Mont Blanc fast als unumgänglicher Preis der höheren Regionen angesehen. Angewöhnung und Technik werden nun endlich den Geist von dieser Angst, die sich auf den körperlichen Zustand auswirkte, befreien.

Die dritte Form der Anpassung ( immer in Verbindung mit den andern, ) ist also physiologischer Art und erfolgt durch die Akklimatisierung. ( Der Einsatz des Flugzeugs am Dhaulagiri veranschaulichte das deutlich in negativer Weise. ) Trotzdem verursacht das Lungen- oder das Gehirnödem viele Todesfälle. Damit wird zugleich deutlich, dass es für manche menschliche Konstitutionen Grenzen der Akklimatisation gibt. Allein das Thema einer entsprechend angepassten Ernährung würde es verdienen, dass man sich lange und eingehend mit ihm befasst. Als ich die Verantwortung für die Verpflegung einer kleinen Privat-expedition innehatte, konnte ich beim Aufstieg zum Tirich Mir unerwartete Feststellungen inbezug auf die Essgelüste der Teilnehmer in grösseren Höhen machen. Welch ein Unterschied zu dem, was wir uns in Europa vorgestellt hatten! Was die Bergkrankheit bei der Erstbesteigung des Mont Blanc anbetrifft, so weiss man, in welchem Masse der übermässige Genuss an Wein und andern Alkoholika, den man damals für unbedingt notwendig hielt, dafür verantwortlich ist.

Die vierte Form der Anpassung könnte als soziologisch bezeichnet werden. Leistungen, die einer Elite, bestimmt durch Geschlecht, Alter und vorbehalten schienen, sind Frauen ohne männlicher Hilfe möglich geworden; ebenso Jugendlichen ( Beispiel: die Acht-zehnjährigen am Kongur, Kapitel Qomolangma ). Dann auch den , die sich von der weissen oder gelben Bevormundung befreit haben; oder die, jetzt vermehrt vom Wetteifer gepackt, das Abenteuer, das früher ausserhalb ihrer Reichweite lag, suchen. Dies, weil es inzwischen in ihrem Bewusstsein und in ihren Sitten Eingang gefunden hat.

Die Tatsache, dass sich andere Bevölkerungsgruppen für die Berge interessieren, hat nicht zur Gleichförmigkeit geführt. Der menschliche Geist, widersprüchlich in seinem Suchen, neigt ebenso dazu, die Dinge zu ba-nalisieren, wie auch ihre Einzigartigkeit herauszustellen. Einerseits gewöhnt man sich an Altes und andererseits erfindet man Neues. Man kompliziert Dinge, um sie zu vereinfachen; so etwa bei der Verwendung einer Com-putersteuerung für die Navigation eines Über-seedampfers. Das Skifahren wird einfach dank genauester Berechnungen im Laboratorium. Aber immer wird sich der Charakter und die Besonderheit des einzelnen bemerkbar machen; desjenigen, der etwas benützt, der Werte schafft und Ziele auswählt. Das beweist die Himalaya-Chronik allen Lesern, die sie auch nur mit ein wenig Aufmerksamkeit durchgehen. Sie zeigt uns die Motive und den persönlichen Stil ebenso wie die ethischen und ästethischen Unterschiede eines jeden. Die einen Bergsteiger suchen Beweglichkeit und Schnelligkeit, verbunden mit einer intensiven aber kurzen Nervenanspannung. Diese sind es, die ihren Unternehmungen den Reiz eines Spiels geben, risikoreicher zwar aber leichtfüssig und frisch, dem Charakter des Himalaya, nämlich seinen ständig wechselnden Wetterlaunen, angepasst. Die andern ( beispielsweise die sowjetische Everest-Expedi-tion ) stützen sich auf die Vernunft, die Ordnung und die Disziplin und zwar mit wissenschaftlicher und militärischer Strenge. Wenig individuelle Freiheit, aber auch wenig Risiken. Achtung vor dem Leben, wenn auch nicht vor der Individualität. Manche Expedition ( so die japanische ), verbindet die beiden Methoden: auf einer schweren und soliden Basis baut sich eine Pyramide auf, die nach oben immer abenteuerlicher wird bis zum Gipfel hin, wo es dann heisst: jeder für sich; wenn du sterben willst, ist es deine Sache. Wenn du alles aufs Spiel setzest und gewinnst, ist es dein persönlicher Erfolg - um so besser für dich.

Hinter diesen Verhaltensweisen zeichnen sich Entscheidungen von grundsätzlicher Tragweite ab und zwar ideologische, politische und selbst religiöse. Soll man richten? Die ( Aufgabe ) eines Kameraden in Not hat, in bezug auf die Hintergründe in manchen östlichen Philosophien, nicht dieselbe tiefe Bedeutung wie im europäischen Sittenkodex. Vielleicht bedeutet es in einem Falle eine Art von legitimem Opfer, im andern ein schändliches im Stich lassen. Wer soll da urteilen!

... Aber man möchte in der Tat gerne mehr wissen. Bei den Abenteuern, die im Himalaya erlebt werden, gäbe es genug Stoff, um tausende von leidenschaftlichen und aufregenden Büchern zu füllen. Der Wind von Zeit und Raum hat ihn verweht. Es hat Alpinisten gegeben, die sich selbst zu erkennen suchten und jene, die sich durchsetzen wollten, nachdenkliche und kämpferische, wilde und schweigsame, harte und weiche, Primitive und Poeten, und manchmal fand sich sogar beides zusammen in derselben Person vereint. Ich stelle mir den Kletterer vor, in einem Eiscouloir an einer Eisschraube gesichert. Als seine Begleiterin ausweicht, um ihn vorbei zu lassen, schwankt sie, verliert den Halt und, aus einem Versehen vom Seil gelöst, stürzt sie 1800 Meter in die Tiefe... Was dachte ihr Begleiter, der in den folgenden Tagen die Belagerung des Berges fortsetzte? Kann man unter diesen Umständen noch nachdenken oder soll man es tun? -Nutzloser Kräfteverschleiss vielleicht im Urteil einer Epoche, in der sich überall eine Abwertung des Menschen bemerkbar macht. Während er als Gattung zahlenmässig zunimmt, verliert er als Einzelwesen. Also fortan gleich alles auf eine Karte setzen, um sich zu realisieren, um das Maximum an Befriedigung herauszuholen, wie es die Jungen sagen.

Ein anderes Ereignis lässt uns staunen, das von Jean Bourgeois im Winter am Westgrat des Everest. An Höhenkrankheit leidend verzichtet er darauf, der Seilschaft weiter zu folgen und unternimmt allein den Abstieg zum unteren Lager. Es war am 27. Dezember 1982. Seine Kameraden werden ihn nicht wiederfinden. Man wird ihn für vermisst erklären, mit anderen Worten für tot. In Wirklichkeit hat er sich jedoch verirrt, bemerkt dies aber erst weiter unten, wo ihm die Kraft zum Wiederaufstieg fehlt. Daraufhin hat er mit unglaublicher Kühnheit und dem Mut der Verzweiflung den Rückzug nach der tibetischen Seite hin angetreten, ist dem Berg entkommen und hat in den ersten Dörfern Hilfe gefunden. Zwanzig Tage nach seinem Verschwinden konnte er Nachricht von sich geben. Das ist eine der erstaunlichsten Odyssee des Himalaya, würdig der berühmten von Guillaumet in den Anden. Werden wir eines Tages den Bericht dieser grossartigen Leistung erhalten, oder wird die Erinnerung daran verloren gehen, wie so viele andere?

Schliesslich denke ich an all die Erfahrungen, an das grandiose, intensiv Erlebte, das verloren ging mit einem Boardman, Tasker, Mac Intyre und Reinhard Karl; Bergsteiger, von denen ich - als Übersetzer der Himalaya-Chronikgehört, deren Leistungen ich verfolgt und deren Persönlichkeit ich gekannt habe. Gestorben sind sie letztes Jahr, alle vier...

In der damaligen alpinen Geschichtsschreibung schien es, als käme man nicht über das Drama Whympers am Matterhorn hinweg. Demgegenüber geschieht heute alles so, als wäre ein Schwamm an Stelle des Gedächtnis- ses getreten: wir wollen nicht mehr aufnehmen, sondern nur noch wegwischen, und dies tagtäglich...

Da stosse ich eben auf das Buch von Sir Francis Younghusband: Epos vom Everest ( in französischer Übersetzung erschienen bei Arthaud, 1947 ). Dort finde ich auf der letzten Seite ein Zitat des Alpinisten Ullmann, der dieses, vorläufig mit einer Niederlage endende Abenteuer, wie folgt kommentierte:

( Es gibt etwas Besseres als den Sieg, etwas das uns fast Dankbarkeit empfinden lässt, wenn wir daran denken, dass der Gipfel der Welt noch nicht vom Fuss des Menschen betreten wurde: es ist die Tatsache, dass der Everest, bis zu diesem Tag nicht nur der höchste Berg sondern auch eine der grössten unvollendeten Unternehmungen der Menschheit ist. > Es gibt so etwas wie eine fundamentale Angst im Alpinismus - der ja zugleich eine Tätigkeit darstellt, deren symbolischer Charakter ausgeprägter ist als anderswo.

Diese Angst hat ihren Ursprung, im zwingenden Bedürfnis oben anzukommen, zugleich wissend, dass das Erreichen des Ziels dabei auch das Ende des Abenteuers bedeutet. Glücklich sind hier nur die, die auf dem Wege sind!

P. S. Es war fast eine Vorwegnahme, als ich in den ALPEN ( CM IV/79 ), eine Novelle mit dem Titel ( Die Rückkehr ) veröffentlichte. Nun, im Jahre 1982, geschah das hier geschilderte Drama bei der ( Erstbesteigung ) des Kuskar. ( Vgl. ( Himalaya-Chronik ) im vorliegenden Quartalsheft, S.96ff. ) Ist sie nun unvollendet oder ist sie es nicht, diese Erstbesteigung?

.'Vom Englischen ins Französische ( Anm. der Red. ).

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Martens, Lausanne.

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