Zur Waldausdehnung im Misox. Wandern am Mont Grand
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Zur Waldausdehnung im Misox. Wandern am Mont Grand

Zur Waldausdehnung im Misox

Weltweit geht der Wald zurück. In der Schweiz sowie in andern Gebieten Europas breitet er sich aber infolge veränderter landwirtschaftlicher Nutzung aus. Ein fotografisch gut dokumentiertes Beispiel dazu findet sich im Misox. Wer von Soazza zur Buffa-lorahütte wandert, kann sich auf der Teilstrecke bis zur Alp de Bec ein typisches Bild der verschiedenen Stufen der Waldausdehnung verschaffen.

Knapp ein Drittel der Schweiz ist mit Wald bedeckt. Dieser Anteil wäre noch wesentlich höher – gemäss dem Schweizerischen Landesforstinventar an die 70% –, wenn nicht der Mensch eingegriffen hätte. Wälder wurden gerodet, um auf Weiden, Wiesen und Äckern Nahrungsmittel für die Bevölkerung zu gewinnen. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung sind nun aber in den letzten Jahrzehnten vor allem im Berggebiet Anbauflächen aufgegeben worden. Der Wald konnte sich wieder ausdehnen. Auf der Wanderung von Soazza über die Alp de Bec zur Buffalorahütte ist dies gut ersichtlich.

Soazza im Misox

Geteerte Strassen sind bei Wanderern im Allgemeinen wenig beliebt. Wer aber einen spannenden Einblick in die Entwicklung der Waldausdehnung oberhalb von Soazza erhalten will, muss sich ein Stück weit damit abfinden. Ausgangspunkt für diese Wanderung ist die auf einem Hügel über dem Tal liegende Kirche San Martino ( 1 ) 2 mit der berühmten Orgel aus dem 18. Jahrhundert und der mit Holzrosetten verzierten Decke. Unter dem Kirchhügel erkennt man das Trassee der ehemaligen Bahnverbindung Bellin-zona–Mesocco, die 1907 eingeweiht und 65 Jahre später stillgelegt wurde und deren Tunnels und Kunstbauten noch immer intakt sind.

1 Die Namensbezeichnungen entsprechen der von den Autoren verwendeten Übersichtskarte 1:10 00O. 2 Die kursiven Zahlen beziehen sich auf die im Kartenausschnitt S. 27 eingezeichneten Beobach-tungspunkte.

Aufnahme vom Mont Grand 1935. Die Abhänge sind nur wenig bewaldet. Soazza mit Mont Grand im Jahr 2001. Der Wald hat die Abhänge des Mont Grand fast zurückerobert. Blick auf den Mont Grand 1963. Der Wald hat sich schon etwas mehr ausgebreitet.

Foto: Archiv Aurelio Ciocco Foto: Archiv Aurelio Ciocco Foto: Archiv Aurelio Ciocco Foto: Claudia Schreiber Ausschnitt aus Karte 1:25 000, Blatt 1274 Soazza, mit « Waldausdehnungspfad » 1 Kirche San Martino 2 Cróusgia 3 Ai Drin 4 Brücke/Nosáll 5 alte Kastanienbäume 6 Lichtung Posséira 7 Tingés 8 Mont Grand offen gegen NE 9 Cassan 10 Fichtendominanz 11 Blick ins Buffaloratal Wanderweg«Waldausdehnungspfad »

Die Heu-Drahtseilriese

Von San Martino führt die Wanderung durch die südlich gelegenen Häuser des Dorfes hinauf. Die talwärts gelegene Mulde beim Haus Nr. 75, die « Cróusgia », war damals, als es noch keine Fahrstrasse gab, der Endpunkt der « Drahtseilriese » ( 2 ): An einem Tragseil wurden die Lasten, vor allem Heuballen, an Haken angehängt. Diese glitten dann, von der Schwerkraft getrieben und nur vom Luftwiderstand gebremst, dem Hang entlang in die Tiefe. Heu vom heute mit Wald überwachsenen Mont Grand? Tatsächlich diente dieser Hang mit seinen 60 Hektaren Wiesen bis vor 40 Jahren den Bauern von Soazza als « Futterberg ».

Birken und Fichten als Pioniere

Kurz nach den letzten Häusern von Soazza erkennt man im Gelände oberhalb der Strasse die Terrassen « Ai Drin » ( 3 ). Wurde hier bis vor rund 50 Jahren noch Ackerbau betrieben, weiden heute Esel darauf. Doch das Freihalten von Flächen mit diesen Tieren ist arbeitsintensiv. So benötigen sie regelmässige Pflege. Zudem sind sie wählerisch beim Fressen, was bedeutet, dass die stehen gelassenen Pflanzen von Hand gemäht werden müssen. Nach dem ersten Waldstück und der darauf folgenden Brücke ( 4 ) beginnt der eigentliche « Lehrpfad ». Auffällig sind die kleinen pyramidenförmigen Fichten, die unter den Birken wachsen. Diese beiden Baumarten haben den Mont Grand in den letzten 50 Jahren nicht nur besiedelt, sie zeigen auch die Geschichte der Verwaldung. Der Mont Grand ist gegen Nordosten ausgerichtet ( 8 ) und damit den im Misox vorherrschenden Nordwinden ausgesetzt. Diese brachten grosse Mengen an Fichten- und Birkensamen, die gleichzeitig auf die seit den 1960er-Jahren nach und nach aufgegebenen Wiesen gelangten. Der eher feuchte Boden begünstigte das Wachstum der jungen Pflanzen. Die Birken als Pionier-bäume konnten sich zunächst besser entwickeln und schossen in die Höhe. So sind sie im unteren Teil des Mont Grand beinahe drei Mal so hoch wie die gleichaltrigen Fichten, die wegen des Wildver-bisses teilweise « kugeligen » oder pyramidenförmigen Wuchs aufweisen. Auf der Lichtung « Posséira » erkennt man noch einmal recht eindrücklich diese zweistufige Waldstruktur. Diese ist aber nur ein Übergangsstadium. In einigen Jahren werden hier die Fichten dominieren wie bereits im oberen Teil des Mont Grand ( 9 ), denn die Birke hat als Pionierbaum nur eine beschränkte Lebensdauer. Der Wechsel von der Birken- zur Fichtendominanz findet zuweilen schlagartig statt: Im Jahr 1966 warf ein Nassschneefall im November die alten Birken buchstäblich über den Haufen, die Fichten konnten sich daraufhin durchsetzen ( 10 ).

Gut dokumentiert

Wer von dieser Lichtung ( 6 ) bei guter Sicht talaufwärts blickt, erkennt die Burg von Mesocco. Ihr ist es zu verdanken, dass die Geschichte des Mont Grand so gut dokumentiert ist. Jedenfalls seit es die Fotografie gibt: Wer immer eine attraktive Aufnahme dieser Burg machen will, fotografiert talauswärts – und hat so zwangsläufig den Mont Grand mit seinen Blick vom Mont Grand auf die Kirche San Martino und die Mulde Cróusgia, wo einst die Heu-Drahtseilriese ihre Endstation hatte ( Pte. 1 und 2 auf der Karte ) Alter Kastanienbaum am Weg zur Alp de Bec. Die Gemeinde Soazza verfügt über die grösste Dichte an Riesenkastanien-bäumen. ( 5 ) Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo ( BA057120 ) Foto: Claudia Schreiber Foto: Claudia Schreiber Von Soazza zur Buffalorahütte Ausgangspunkt der Wanderung ist das Misoxer Dorf Soazza, 620 m, an der San-Bernardino-Strasse; regelmässige Postautoverbindungen. Das Dorf, dessen Häuser ins 16. Jh. zurückreichen, zählt heute 385 Einwohner. Für den « Waldausdehnungspfad » auf der geteerten Fahrstrasse in Richtung Alp de Bec, 1515 m, ca. 3 Std. Ab hier über Weiden auf einfachem und gut markiertem Weg zum Pass de Buffalora, 2261 m, ca. 2 Std. 20 Minuten Abstieg zur Buffalora-hütte, www.buffalora.ch. LK 1:25 000, Blatt 1274 Mesocco. Wandermöglichkeiten ab Buffalorahütte auf Höhenweg nach San Bernardino oder Sta Maria im Calancatal sowie Abstieg ins Calancatal.

vielen Maiensässen mit eigenen Ortsnamen als Hintergrund auf dem Foto. Dadurch ist die Waldausdehnung über die Jahre hin fotografisch dokumentiert worden. Stammen die Aufnahmen vom Monat Juli, sind die blühenden Kastanienbäume als helle olivgrüne Flecken gut erkennbar. Bald darauf ist bei Tingés ( 7 ) die Hälfte des Waldausdehnungspfades erreicht.

Kastanienbäume

Auf der Lichtung « Nosáll » findet sich eine Kastanienselve ( 4 ), die – vom Fonds Landschaft Schweiz ( FLS ) mitfinanziert – mit viel Aufwand auf einer gerodeten Hektare Wald angepflanzt wurde. Im Misox waren die Kastanien während Jahrhunderten Hauptnahrungsmittel, und die zahlreichen Riesenkastanien-bäume prägten lange Zeit die Landschaft. Auf dem weiteren Wegverlauf erblickt man noch einige dieser alten Kastanienbäume ( 5 ). Aufgrund des Inventars der Kastanienbäume hat man festgestellt, dass auf dem Gemeindegebiet von Soazza die grösste Anzahl von Riesen-kastanienbäumen, d.h. mindestens 7 m Umfang auf 1,3 m Höhe, der Südschweiz steht. 3 Aber auch ihr Alter bringt den Wanderer zum Staunen: Eines der Exemplare an dieser Wanderroute ist mindestens 600 Jahre alt.

Blick ins Tal Buffalora

Der Jungwuchs auf der Alp de Bec ( 11 ) hat eine eigene Geschichte: Im April 1975 zerstörte eine Jahrhundertlawine den Lärchenwald oberhalb Bec de sott. Rund 8000 m 3 Lärchenholz wurden in das Tobel des Buffalorabachs gerissen. Der letzte Schneelawinenkegel im Tobel schmolz erst eineinhalb Jahre später, im Herbst 1976. Um zu verhindern, dass der Bach staut, wurde das grösstenteils nicht mehr brauchbare Holz an Ort und Stelle zu Stücken von 1 bis 1,5 m Länge zersägt. Diese Stücke blieben im Tobel und wurden nach und nach vom Bach ins Tal geschwemmt. Im Sommer 1977 konnte man nach starken Niederschlägen in einer Tessiner Zeitung lesen, im Lago Maggiore seien grosse Mengen Lärchenholz unbekannter Herkunft festgestellt worden. Sie stammten aus dem Tobel des Buffalorabachs. Auf den ehemaligen Lawinenflächen der Alp de Bec ist heute deshalb eine aussergewöhnliche, natürliche Lärchenverjüngung im Gange. a Aurelio Ciocco, Mesocco, und Claudia Schreiber, Biel 3 Diese Erkenntnis basiert auf einem Inventar der Kastanienbäume, das die « Sottostazione sud delle alpi » der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft ( WSL ) im Jahr 2003 erstellt hat.

Auf der Lichtung Posséira ist die zweistufige Waldstruktur mit Birken und Fichten besonders gut sichtbar. Noch sind die Birken als Pionierbäume vorhanden. In einigen Jahren werden aber die Fichten dominieren. ( 6 ) Wenn im Juli die Kastanienbäume blühen, erkennt man sie an ihren leuchtenden olivfarbenen Baumkronen besonders gut. ( 6 ) Blick von Tingés auf Soazza. Eine der wenigen Flächen am Mont Grand, die heute noch als Weide genutzt wird. ( 7 ) Fotos: Claudia Schr eiber

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