Zwei neue Wege auf das Bietschhorn
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Zwei neue Wege auf das Bietschhorn

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Südostgrat und Nordwestwand.

Von Walfer Stösser.

Der 19. August 1931 endlich zeigte ein freundliches Gesicht. Es schien, als wollte sich tatsächlich das Wetter zum Besseren wenden. Ein herrlicher Sonnentag begleitete Fritz Kast und mich von der Bietschhornhütte aufs Bietschjoch, auf Schwarzhörner und Wilerhorn. Es galt an diesem Tage keinen Taten, nur sehen wollten wir. Und was wir sahen, war ein Bild, wie wir es noch nie in den Alpen erblickt hatten. Das Bietschhorn stand vor uns: Rauhreif überzieht die felsigen Flanken, glitzerndes Eis überkleidet schlanke Nadeln und Türme, eine lichte, sonnendurchglühte Wolke umgibt den gewaltigen Berg, legt gleichsam schirmend ihre Arme um ihn. Ein Bild wie von einer anderen Welt, so unnahbar schön. Man fürchtet sich, ihm näherzutreten, aus Sorge, es könnte verschwinden. Und wahrhaft, in mir regt sich auch nicht der leiseste Wunsch, auf dieses Gebilde hinaufsteigen zu wollen. Nur sehen!

Der Nachmittag sah uns auf dem Wilerhorn. Vor uns stand immer noch der herrliche Berg. Doch die Wolke war verschwunden, die Sonne löste langsam den Rauhreif, mehr und mehr trat der schwarze Fels zutage. Der Berg war wirklich geworden. Jetzt ward auch in uns wieder das Wollen wach, das Kämpfen- und Siegenwollen, und wo wir bisher nur einen gewaltigen, unangreifbaren Berg gesehen hatten, da gab es nun Wege und Möglichkeiten: Links der Nordgrat, vor uns der Westgrat und rechts der unvergleichliche Südostgrat.

Aus dem gewaltigen Halbrund des Rämi, wie das oberste Bietschtal genannt wird, schwingt sich Turm an Turm der herrliche Grat empor bis zur Südostschulter, 3535 m. Ein türmebesetztes, wagrechtes Gratstück leitet hinüber zum zweiten, dem ersten an Kühnheit ebenbürtigen Grataufschwung, der, mit glattwandigen, stolzen Türmen besetzt, zum Gipfel hinaufzieht. Ein Grat, wie ich in den gesamten Alpen noch keinen gesehen hatte. Zweifel über die Begehbarkeit dieses ungemein kühnen Grates wechselten mit der stillen Zuversicht, dass uns ja schon mancher unmöglich geltende Aufstieg zugefallen.

Anhand des alten « Hochgebirgsführer durch die Berner Alpen » und der Karte wurde nun vor allem die Zugangsmöglichkeit zum Grat studiert und bald auch eine solche gefunden. In der Beschreibung des Südwandweges heisst es nämlich: « Von dem Biwak im obersten Rämi steuert man genau nördlich zu der Nordostecke des kleinen unbenannten Gletschers », am Fusse der Südwand. « Von hier führt ein fürchterlich aussehendes, aber bequemes Band in 20 Minuten zu dem Südostgrat des Berges, von wo man hinunterschaut auf die sehr steilen, rauhen Hänge In der Trift. » Ob am folgenden Tag schon ein Versuch gewagt werden konnte? Noch lagen die Flanken des Grates voll Neuschnee, doch die Aufschwünge der Türme konnten ihrer Steilheit wegen nur wenig Schnee tragen, konnten unter Umständen sogar schneefrei sein, so dass also ausgesprochen schlechte Verhältnisse nur an flacheren Gratstücken anzutreffen sein konnten, wo sie zu bewältigen sein mussten. Also ward auf den 20. August der erste Angriff festgesetzt.

Aber das Wetter der folgenden Tage! Und der Neuschnee!

Die Pläne wurden umgestellt. Am nächsten schönen Morgen sollte der Nordgrat angegangen werden, um nicht ganz ohne Erfolg abziehen zu müssen. Der 24. August schien nun tatsächlich unseren geänderten Plänen hold zu sein. Wir liessen uns weder durch die 21/2 Stunden entmutigen, die wir heute zum Bietschjoch brauchten, noch durch die 11/2 Meter Pulverschnee, durch die wir uns ebenso mühselig wie langsam über den Nestfirn zum Nord-grateinstieg hindurchwühlen mussten. Ja, wir liebäugelten sogar zum erstenmal ernstlich mit der Nordwestflanke, durften jedoch wegen der ganz ungemein grossen Lawinengefahr an einen Versuch derselben gar nicht denken. Doch auch im Nordgrat fanden wir Verhältnisse, wie sie ungünstiger wohl kaum angetroffen werden konnten. Vom Fels war ausser an senkrechten und überhängenden Stellen kaum mehr etwas zu sehen. Trotzdem kamen wir, wenn auch langsam, hoch und waren fast in Höhe des Eisgrates, als sich der Himmel von neuem überzog. Ein wütender Sturm kam auf und jagte uns den feinen Pulverschnee ins Gesicht, peitschte unbarmherzig jede erreichbare Körperstelle. Im Nu waren die nassen Handschuhe an den Händen steif gefroren. Ein Klettern war nur möglich in den immer kürzer werdenden Atempausen des Sturmes. Ein weiterer Anstieg wäre wahnwitzig gewesen. Jetzt konnte es nur noch gelten, uns heil aus dieser Hölle hinauszubringen.

Am 25. August wurden alle Bietschhornpläne aufgegeben 1 In welcher Verfassung wir ins Lötschental abstiegen und nach Brig fuhren, brauche ich nicht zu schildern. Da wurde überraschend das Wetter am 26. August gut. Auch der nächste Tag blieb schön. Innerhalb weniger Minuten stand unsere Absicht fest: Zurück zum Bietschhorn!

Am Abend bezogen wir wieder unser gewohntes Hüttenlager. Um halb drei Uhr früh verliessen wir die Hütte. Dem Bietschhorn galt es, und zwar bei solchem Wetter nur über den Südostgrat.

Was stört uns der Schinder hinauf zum Joch, wenn es zum Südostgrat geht! Was das dauernde Durchbrechen durch die dünne Harstschicht! Schon längst ist es Tag geworden, wie wir unter der wuchtigen Südwand zum kleinen Gletscher queren, von dem aus wir den Grat erreichen sollen. Näher rücken die schlanken Türme, mit denen wir ringen wollen. Immer unnahbarer und steiler recken sie sich zur Höhe.

Der Gletscher liegt in einem nach Süden geöffneten Halbrund; glatte Wände, die von Steinschlag, Lawinen und Schmelzwasser auch der geringsten Rauhigkeit beraubt sind, umschliessen ihn. Ein Erreichen der Südwand von hier aus ist unmöglich. Doch rechts drüben durch die Westflanke unseres Grates zieht ja das bekannte, fürchterlich aussehende Band. Ich muss gestehen, in dem Zustand, in dem wir das Band antrafen, sah es auch für unsere Generation noch fürchterlich genug aus und war zudem auch nicht leicht zu begehen. Nach etwa 50 Metern verliert es sich in der Felsflanke des Grates, noch etwa 2—3 Seillängen über uns liegt die Gratschneide. Wenig nach rechts gelangen wir in eine Rinne zwischen schlanken Türmen. Vereist der Fels, Neuschnee darüber. Werden die Verhältnisse weiter oben besser? Doch immer wieder beruhige ich mich in der bestimmten Erwartung, dass die Türme weder Schnee noch Eis tragen. Und wahrhaft, wie wir die Gratscheide erreicht haben, da atme ich erleichtert auf. Vor uns der gewaltige erste Aufschwung, wie eine Himmelsleiter schwingt er sich empor. Rechts und links in den Falten seiner unbegehbaren Flanken Eis und Schnee. Doch die direkte Schneide ist frei, lockt und zieht uns hinauf. Warme Sonne liegt auf dem grauschwarzen Gestein, lässt uns vergessen, dass in den Flanken eisiges Grauen wohnt.

Über die messerscharfe Schneide erreichen wir den Fuss des ersten Turmes. Links unter uns der kleine Bietschgletscher, darüber die Rinnen und Türme der Südwand. Rechts fast das gleiche Bild: Im Halbrund zwischen unserem und dem Stockhorngrat liegt der kleine Triftgletscher, darüber die zur Südostschulter hinaufziehende Flanke. Nach rechts und nach links stürzt brüchiger Fels in die Tiefe, gräbt sich schon nach wenigen Sekunden in den weichen Schnee.

Vermoderte Seilschlingen, eine Flasche am Fusse des Turmes! Wir sind nicht die Ersten hier! Werden wir wohl die Ersten sein, die hier weiterkommen?

Im ersten Augenblick scheint die Turmwand gar nicht besonders schwer zu sein, doch bei näherem Betrachten müssen wir erkennen, dass uns perspektivische Verzeichnung genarrt, dass die Turmwand von einer Steilheit und Glätte ist, die wir nie zu vermuten gewagt hätten. Wir queren nach rechts, wir queren nach links, nirgends eine Möglichkeit, überhaupt in die Wand hineinzukommen. Nach längerem Hin und Her packen wir schliesslich den Fels rechts drüben über senkrechte Rippen. Doch der Versuch endet — in Nagelstiefeln — schon nach dem ersten Meter. Zurück, die Kletterschuhe an die Füsse und noch einmal hoch! 2 Meter, 3 Meter, dann sind die Möglichkeiten erschöpft.

Wenn ich nach links käme? Dort — etwa 2 Meter entfernt — scheint ein Riss hochzuziehen. An seinem Anfang ein kleiner Höcker! Fast wagrecht lege ich den Körper, um den Höcker zu greifen, pendle hinüber, schwing mich hinein in den Riss. Noch einige Meter zwing ich den Fels, dann steh ich unter einem kleinen, dafür um so griffloseren Überhang. Ein kleiner Tritt scheint auf weite Sicht der einzige Stand zu sein, Sicherung des Kameraden ist nur möglich mit Haken. Mit dem schweren Rucksack, in Nagelstiefeln schafft er sich hoch, nach bangen Minuten steht er bei mir. « Geht's weiter? » « Ich weiss nicht !» — Es ist unmöglich, sich hier eine Route festzulegen, man folgt dem Fels dorthin, wo er eben für den Augenblick gangbar ist, in der stillen Zuversicht, dass man auf irgendeine Art weiter kommt. Und tatsächlich kann man auch immer nur für den Augenblick entscheiden, immer findet sich doch wieder eine letzte, äusserste Möglichkeit. Ist es auch schliesslich nur ein kleiner schräger Buckel im Fels, der vermöge seiner Rauhigkeit den Schuhen noch Halt bietet, wo im Kalk längst nicht mehr daran gedacht werden kann, oder ein winzig kleines Leistchen, in dem sich gerade noch die Nägel verkrallen können. Was diese Kletterei erst möglich macht, ist die geradezu unheimliche Festigkeit des Gesteins und seine Rauhigkeit. Bei nur dürftigen Griffen kann man trittlos über die Wand hochlaufen.

Der Platzwechsel am Sicherungsplatz ist eine Aufgabe für sich. Gilt es doch, den einzigen Tritt dem Kameraden freizumachen, ohne selbst auch nur den geringsten Ersatz dafür zu finden, ausser einem Griff am Überhang. Ein Schwung nach rechts, dort finde ich, mich an kantiger Rippe verhängend, auf wenige Meter weiteres Fortkommen. Dieses Schwingen und Pendeln, Klettern auf Reibung, Verhängen an oft nur wenige Millimeter dicken Rippen wird der Hauptinhalt der hier anzuwendenden Klettertechnik. Endlich lande ich in einem Winkel unter einem grossen Dach. Hier scheint nun endgültig unser Schicksal besiegelt, ein Weiterkommen unmöglich. Weder nach links und rechts, noch nach oben auch nur die geringste Aussicht. Noch steht Fritz fast eine Seillänge unter mir. Zwischen Zweifel und Hoffnung schwankend, lasse ich ihn ebenfalls höherkommen und teile mit ihm den dürftigen Stand und prüfe erneut, ob nicht doch irgendwo ein Ausweg aus dieser Falle sei. Ein fester Zacken hält das Sicherungsseil, so dass ich beruhigt Griffe und Tritte aufgebe, um weit rechts draussen nach neuen Möglichkeiten zu tasten. Nach schweren Metern kann ich eine Leiste im Winkel einer Verschneidung erreichen. Vor mir liegt die Schlüsselstelle des Turmes, gelingt sie, dann ist er unser. Fritz kommt nach, ein Haken bürgt für Sicherheit. Dann eilen die Augen über den Fels, greifen die Finger um Kanten und Rippen, höher — höher — nur jetzt nicht erlahmen. Noch keuchend vor Anstrengung stoss ich den befreienden Ruf durch die Zähne: « Es geht! Der erste Turm gehört uns! » Wenig später liegt der erste Turm unter uns, während vor uns der Grat mit neuer Wucht emporstürmt zum Gipfel des zweiten Turmes, der auf etwa Seillänge über ein fast waagrechtes Gratstück zu erreichen ist.

« Unmöglich », ist der erste Eindruck, das Näherkommen bekräftigt ihn nur. Glatt, überhängend, vollkommen unmöglich, ein Versuch ganz unnötig. Könnte es nicht links hinter der Kante gehen? Ein kurzes, schuttbedecktes Band führt hinaus in eine kleine überhängende Einsenkung. Da und dort hängt ein sturzbereiter Scherben in der Wand. Links durchzieht sie ein fast ständig geschlossener enger Riss. Ich gehe ihn an, trotzdem ich fast überzeugt bin, dass er nicht kletterbar ist. Aber brechen damit nicht alle unsere stolzen Hoffnungen zusammen, müssten wir damit nicht vollständig den unvergleichlichen Grat aufgeben? Nein, das kann, das darf nicht wahr sein! Zehn Meter nur, dann muss es ja wohl leichter werden?

Innerlich und äusserlich gerüstet gehe ich an den Riss. Nicht um die zehn Meter geht das Ringen, dem Grat gilt 's, dem gewaltigsten Felsgrat der Alpen. Es ist schwer, von einem solchen Ringen zu sagen, wie lange es gedauert. Es genügt, dass wir den zweiten Turm erreicht haben. Was kümmert uns die Zeit, wenn unter uns die Tiefe wächst!

Die Sonne hat die zweite Hälfte ihres Tageslaufes angetreten. Die Walliser Bergriesen, deren eisgepanzerte Flanken im Morgenlicht ins Gigantische gewachsen waren, die im Glast der Mittagssonne ganz unwahrschein- lich flach geworden waren, bekommen langsam wieder Gestalt. Dunkle Schatten legen sich in die Ostflanke des Mont Blanc.

Der dritte Turm, der letzte grosse des ersten Aufschwungs! Ein kecker, glattwandiger Vorzacken wehrt schon den Zutritt zu ihm. Doch der ist trotz allem rasch überwunden, ein feiner Riss lässt ihn zwingen. Von hier aus wirkt auch die Turmwand nicht mehr so abweisend. Zum erstenmal ergibt sich der Fels fast ohne merklichen Widerstand. Griffige Rippen bringen mich hoch, ein vorstehender Block leitet nach rechts, eine schräge Platte zu einem Riss. Hindurch, hinauf, auch der dritte Turm ist erstiegen.

Zum ersten Male leuchten die Augen, die Zuversicht wächst. Nun liegt das wagrechte Gratstück vor uns, es wird uns keine unüberwindlichen Schwierigkeiten entgegenstellen. Erst am zweiten Aufschwung wird wieder die harte Arbeit beginnen. Kann sie schwerer sein als die bisher geleistete? Der nächste Tag wird es weisen, der nächste Tag, der so schön zu werden verspricht wie der heutige.

Der glutrote Sonnenball versinkt am wolkenlosen Himmel. Die Berge entflammen zu letzter Pracht. Die Firnen glühen, der Fels brennt, und wir eilen über den zerborsteten Grat, eine Lagerstätte zu suchen für die Nacht. Turmauf, turmab, in tiefem Schnee auf Scharten und Kämmen drohen wir zu versinken, gewaltige Gendarmen zittern unter unseren Händen, der Grat erbebt unter unserem Schritt, hohl klingt der Fels. Es ist ein schwankender Boden, auf dem wir gehen. Ganze Türme zerbrechen bei der Berührung. Nach rechts und links stürzen die Trümmer, zentnerschwere Blöcke pfeifen durch die Luft hinab in die Tiefe, zerschellen in den Flanken, Steinlawinen donnern durch die Schluchten, der ganze Berg scheint zu beben und zu zittern.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit stehen wir auf dem Südturm der Südostschulter, und wenig später erreichen wir den Winkel, wo der vom Stockhorn herüberkommende Grat auf den Südostgrat trifft. Ein Platz für die Beiwacht, geeignet wie kaum ein anderer, wenn kein Schnee darin läge! Doch schon wird es dunkel, an ein Weitergehen ist nicht mehr zu denken. Oben am Grat liegt am wenigsten Schnee. Wenn die Nacht ruhig bleibt, können wir getrost hier bleiben. Der Schnee wird abgeräumt, eine Platte freigelegt, Unebenheiten werden mit kleinen Felsbrocken ausgeglichen. Bald ist ein etwa ein Meter langer, ein halb Meter breiter, ebener Platz hergerichtet, der nur den einen Nachteil hat, dass trotz der Pflasterung überall noch Schnee und Eisreste herumliegen, auf denen eine ganze Nacht zu sitzen nicht gerade angenehm ist. Doch ist nun einmal daran nichts zu ändern. Sämtliche Wollsachen werden angezogen, die Sturmhaube wird über die Ohren gestülpt. Sämtliche Riemen und Schnallen an der Kleidung werden gelöst, dass das Blut ungehindert durch den Körper strömen kann. Dann wird der Rucksackinhalt sicher verstaut, die Rucksäcke selber haben heute Nacht als Fusswärmer zu dienen. Zuletzt werden Futter- und Zeltsack bereitgelegt. Damit ist endgültig die Tagesarbeit getan. Sie war heute nicht klein. Halb drei Uhr war es, wie wir die Hütte verliessen, und neun Uhr ist es jetzt. Der Körper sehnt sich nach Ruhe. Noch einmal blicken wir hinaus in das unendliche Schweigen der Bergnacht. Der Vollmond strahlt silbernes Licht über die Erde. Tageshelle entschleiert die Täler, lässt die Sterne verblassen. Aus dem Rhonetal blitzen vereinzelte Lichter. Dort unten wohnen Menschen in wohlgeborgener Häuslichkeit. Hart unser Lager, kalt die Nacht, knurrend der Magen, doch wir leben, leben jeden Augenblick nicht einmal, nein zehnmal, hundertmal, wir leben ein Leben der Freiheit, des Kampfes, des Glücks — alpine Landsknechte sind wir.

Der neue Tag! Durchs Fenster unseres Zeltsackes verfolgen wir langsam sein Werden. Wir harren auf Sonne, auf Wärme, denn kalt war die Nacht. Die Glieder sind steif und ungelenk, das Blut scheint in den Adern gefroren. Doch schon die ersten Sonnenstrahlen bringen es wieder in Wallung.

Wir schreiten weiter auf dem gewaltigen Weg. Turmauf, turmab, über breite, wuchtige Blöcke, über spitze Nadeln, über schwankende Brücken, durch tiefen Schnee.Von neuem donnern die Steinlawinen durch die Flanken. Schneckengleich kriecht das Doppelseil über den zerrissenen Grat, schmiegt sich um Zacken und Zähne. Eis und Schnee legen sich wie eine Fessel über den Fels. Wieder schwinden die Stunden, nur zögernd rücken wir näher an den zweiten Aufschwung heran. Mit glatter, unheimlich aufragender Stime droht er. Doch die gestrige Beklemmung ist einer ruhigen Zuversicht gewichen. Wir werden auch dort hinaufkommenWeiter hinauf und hinunter über den schwindelnden Grat. Endlich der letzte Turm der Südostschulter 1 Um 3 Uhr etwa ziehen wir von der jenseitigen Wand aus das Seil aus der Schlinge. Damit sind hinter uns die Brücken abgebrochen, ein Rückweg über den Grat unmöglich gemacht. Doch wer denkt jetzt noch an Umkehr, an Rückzug? Liegt nicht greifbar nahe der Sieg vor uns? Gewaltig reckt sich zwar wieder der Grat gen Himmel, doch schon grüsst fast greifbar nahe die runde, verschneite Kuppe des Gipfels.

Etwa 3500 m hoch bewegen wir uns über das wagrechte Gratstück, 500 m über dem Einstieg. Nur noch 400 m wächst der Gipfel über uns hinaus. Noch 400 m Grat! Was wird er bringen? Wieviel Türme werden sich noch vor uns aufbäumen? Werden wir heute noch den Gipfel erreichen? In mir brennt ein immerwährendes Feuer, das mich nicht rasten und ruhen lässt, das mich weiterzieht. Der Körper verlangt nicht mal nach Nahrung, trotzdem das Frühstück vom Tage vorher das Letzte gewesen, das er bekommen.

Steil schwingt sich der Grat empor zum zweiten Aufschwung und verliert sich in der Wand. Wir folgen ihm und gelangen über die glatte Wand noch etwa 30 m höher. Hier stehen wir wieder einmal vor der Unmöglichkeit, nach oben weiterzukommen. Schräg rechts zieht ein kurzer Riss durch die Wand. Am Anfang tief, am Ende überhängend geschlossen, glatt und grifflos. An Schuppen, die ich schon bei der blossen Berührung in der Hand zu haben fürchte und die dennoch fast unglaublich fest halten, zerren und ziehen wir uns nach oben, denn für die Füsse hat der Fels keinen sicheren Halt.

Ein Block, etwa 10 m über dem letzten Stand, bietet einen selten guten Sicherungsplatz. Der Freund kommt nach, und ich gehe weiter direkt nach oben in eine überhängende Verschneidung. Eine Sackgasse. Ich komme nicht hinaus. Erfolglos jeder Versuch. Zurück und nach rechts an die Kante. Denn von dort scheint es weiterzugehen. 30 m Wand, Halte kaum zu sehen, mehr zu erfühlen, zu ertasten. Zerrissene, geborstene und doch feste Platten, ein Überhang, an guten Griffen zu zwingen, ein Riss, Felsbrocken darin verklemmt. Auf den flachen Händen stütze ich mich hoch auf die Gipfelplatte.

Jähes Erschrecken! Am Westhimmel kriecht eine Wolkenwand in die Höhe! Bereits ist die Sonne hineingetaucht, fahle gelbrote Schleier eilen den Wolken voraus. Schlechtes Wetter! Wann bricht es ein? Vor uns ein neuer Turm, überhängend, gleich einem Pilze wuchtet sein Gipfelblock auf schmaler Klippe.Vor uns die Nacht! Zum zweiten Male biwakieren? Ist nicht der Abstieg über den Grat ein weit gefahrvolleres Unternehmen, als es morgen auch bei schlechtem Wetter der letzte Aufstieg sein kannDoch was nun? In dunkler Nacht den Grat zurück? Unmöglich! In die Südwand hinein auf die Route Zsigmondys? Wahnsinn! Durch die in metertiefem Neuschnee begrabene Ostflanke hinunter zum Baltschiedergletscher? Ein Gedanke jagt den andern! Und der Südostgrat? Ist er nicht wert, dass man alles, selbst das Leben, daransetzt, ihn zu zwingen? Nein! Wir gehen in die Berge, um zu leben.

Hinab! Schon beherrscht dieses eine Wort alle die widerstreitenden Gedanken. Nur ein Weg hat Aussicht auf Erfolg, der durch die Ostflanke. Um einen festen Gratzacken legt sich die Seilschlinge, das Doppelseil fliegt hinunter, an ihm langsam über die eisgepanzerte, senkrechte Gratwand 30 m hinab. Dort fährt ein Haken ins feste Gestein, eine Schlinge hindurch, das Seil hinein und wieder hinab! Uns graust vor dem Weiterweg, und doch müssen wir ihn gehen, denn dort unten winkt das Leben. Gehorsam rutscht das Seil durch die Schlinge, Stein- und Eisbrocken löst es im Sturz, doch es kommt. Hinab! Hat denn die Mauer kein Ende?

Schnee! Wo sonst eine steile Felsflanke hinunterstürzt zum zerklüfteten Baltschiedergletscher, liegt heute Schnee, leichter, pulvriger, tiefer Schnee auf glatt geschlagenen Platten. Wird uns die Nacht helfen? Wir schwimmen von Felsrippe zu Felsrippe, von Ufer zu Ufer. Blankes Eis, verborgen durch Neuschnee und Dunkelheit, Bruchharst, darunter grundlose Tiefe, Fels, vereist und verschneit. Durch Wolkenschleier schimmert der Mond, fahles Licht liegt über der Flanke, erleichtert uns wenigstens etwas den schweren Gang. Überhängender Abbruch zum Gletscher — weiter nach rechts. Dass man sich nur immer wieder aus der kalten Umarmung herausarbeiten kann! Noch weiter nach rechts! Der Abbruch zum Gletscher scheint niederer zu werden. Ein Felszahn schaut aus dem Schnee. Das Doppelseil drum, die Enden hinab. Das Dunkel verschluckt sie. Reicht es bis hinunter? Aus Winkeln und Ecken stürzt Schnee über uns. Ganze Bänder rutschen auf uns herab. Endlich der Gletscher!

Bruchharst, nur eine Lawinenrinne ist fest. Rasch bis zur Randkluft. Ein Sprung hinüber. Weder Steilheit noch Höhe sind zu beurteilen. Bruchharst! Kaum sind wir noch fähig, die müden Beine aus der eisigen Umklammerung herauszuziehen. Endlos der Gletscher, endlos die Qual, endlos die Nacht! Beim Morgengrauen schleppen wir uns über die Trümmerhalden der Moräne. Das Tal ist erreicht. In Wolken erstickt ist das Bietschhorn.

Es ist der 7. Augustmorgen 1932. Seit gestern abend hängen unablässig meine Gedanken in der Nordwestwand des Bietschhorns, suchen durch die Eismauer, unter der wir gestern gestanden, eine Bresche, fiebern über den Eisschild, den der Berg sich zur Wehr gesetzt.

Aufstehen! Jede Minute ist kostbar. 1400 m heisst es heute zwingen! 1400 m Eis, bezwungen müssen sie sein, ehe der warme Atem der Sonne die Fesseln löst, in die die klare Nacht die Eisflanke geschlagen. Um 2 Uhr ab zum Nestgletscher, zum Versuch der Nordwestwand! Dann eilen wir beim Flackerlicht der Laternen durch die Geröllmulde hinter der Hütte, stolpern über die grossen Blöcke zur tiefsten Scharte des vom Hohwitzen zum Schafberg hinaufziehenden Grates. Stockdunkle Nacht, auf kaum 5 m leuchten die Lichter. Wie gut, dass wir gestern den Weg bereits erkundet. So geht 's so rasch wie bei Tag jenseits hinab, über hartgefrorene Firnhänge, steile Schutthalden in kaum 30 Minuten zum Nestgletscher. 2600 m zeigt der Höhenmesser dort, wo wir den Gletscher betreten, dort, wo wir die zehnzackigen Eisen an die Füsse binden, um zum zweitenmal den steilen, zerschrundeten Gletscher zu begehen. Bis zum fast ebenen Nestfirn ging gestern unsere Vorarbeit, bis dorthin, wo mit 30 m hoher, überhängender Wand der Eisschild abbricht zum Firn. Lawinen wiesen uns dort zurück. Kein Wunder, denn tief stand schon die Sonne am Himmel, und prall lagen die Strahlen in der steilen Flanke. Doch unsere Absicht war bereits erfüllt, der Weg durch den Nestgletscher war für den nächtlichen Aufstieg bereitet und markiert.

Nacht, finstere Nacht auf dem zerrissenen Gletscher. Schwarze Schlünde vor uns, hinter uns, neben uns. Dunkle, riesige Mauern wachsen rechts und links hinauf in den sternbesäten Äther, Mauern, unter denen uns ein Frösteln packt, Mauern, aus denen es scheinbar kein Entrinnen mehr gibt. Mit kalten Armen greifen phantastische Eisgebilde nach uns, um uns in eisige Gruft zu versenken. Gletscherchaos!

Der Himmel wird licht, es dämmert, es tagt. Die Sterne verblassen, nur die Lichter der Menschen leuchten aus dem Dunkel des Tales. Doch um uns wird es licht und weit, die schwarzen Flanken treten zurück, versinken, von Eiswülsten erdrückt. Flacher wird der Gletscher, aber wilder der Bruch, gewaltige Eistürme hängen gefahrdrohend über uns. Breiter und tiefer werden die Spalten, vergebens sucht das Auge, den Grund zu erspähen.

Um 5 Uhr stehen wir unter dem Abbruch der Eiswand. Wir sind zufrieden: 700 m über den zerrissenen Nestgletscher in 21/2 Stunden. Hier standen wir gestern, doch im lebensgefährlichen Trommelfeuer der Flanke zogen wir uns zurück, ohne die Durchführbarkeit des von uns beobachteten Durchstiege festgestellt zu haben.

An der Ersteigungsmöglichkeit der Flanke ist für mich kein Zweifel. Nur wie der unterste Abbruch am besten zu überwinden ist, bleibt noch die Frage. Rechts? Lawinenschnee bis zur Randkluft, darüber führt ein Eisband zu mindestens 80 Grad geneigtem Schwarzeis. Nach immerhin 30 m ist blankes Eis zu erreichen, doch bleibt es immer noch steiler als die Flanke im Mittelteil an ihrer steilsten Stelle. Hier ist Stufenarbeit nicht zu umgehen. Direkt in der Mitte? 30 Meter Abbruch, um etliche Meter überhängend!

Doch ist in halber Höhe eine Eiskanzel, wenige Meter darüber ein Eisband, darauf eine Eisnase. Zwischen ihr und der überhängenden Wand ist scheinbar ein Durchschlupf, armdicke Eiszapfen hängen herab von der Wand, sie ermöglichen erst eine rechte Beurteilung dieser Stelle. Gelingt es, von der Nase aus ein weiter links liegendes Eiskamin zu erreichen, dann dürfte das Problematische hinter uns liegen, denn dann stehen wir in der anfangs weniger, später aber ganz ausserordentlich steilen, etwa 650 m hohen Eiswand der Nordwestflanke. Die Wahl fällt mir nicht schwer, wir packen die Mitte.

Über einen Eisbuckel im tiefen Firn hinauf zum Fuss des Abbruchs. Ein Eishaken zur Sicherung! Nur unsicher ist der Stand für den Zweiten auf der schwanken, die Randkluft überwölbenden Firndecke. Und nun etwa 15 m schräg aufwärts zur Kanzel über fast senkrechtes Eis. Eine schräg ansteigende, wenig vortretende Schichtlinie gibt die Richtung und trägt die Stufen für die Füsse. Auch die in Fäustlingen steckenden Hände werden mit griffigen Kerben bedient. Wie handlich ist der kurze Pickel, den wir erst einige Tage vorher in unserer Feldschmiede vor der Bietschhornhütte gekürzt und gehärtet haben.

Jetzt stehe ich senkrecht unter der Kanzel. Noch etwa fünf Meter! Unangenehmer, gefahrvoller ist das direkte Aufsteigen über die senkrechte Wand, mit äusserster Vorsicht werden die Kerben geschlagen, mit einer Langsamkeit, die einer Zeitlupenaufnahme entsprechen könnte, greife ich weiter. Auf der Kanzel liegt Firn. Am eingerammten Pickel ziehe ich mich vollends hinauf.

Wie im Fels, so ist auch hier das erste der Blick nach oben. « Hurra, » jauchze ich hinaus, « wir kommen durch, es geht, komm nach! » Etwa 3 m über der Kanzel verläuft das Band, darüber wölbt sich wie ein grosses Dach die überhängende Eiswand. Zwar ist das Band unterbrochen, kurz vor der grossen Eisnase hört es auf, doch es muss möglich sein, hinter den von der Eiswand herabhängenden Eiszapfen vom Band in die Spalte hinter der Nase zu kommen. Während der Begleiter wie auf einer Leiter über die Kerben steigt, gehe ich in Gedanken schon die nächsten 10 m, und wie er bei mir steht, da ist mir schon jeder Schritt des Weiterweges klar.

Erst hoch aufs Band. Angeschmolzenes Eis gibt Griffe, in ausgeschmolzene Löcher treten dieFüsse.Vorsicht, denn nur die vordersten Zacken der Eisen haben Halt! Das Band sah von unten angenehmer aus, als es in Wirklichkeit ist. Aufrechtes Stehen und Gehen ist unmöglich, so drückt die Eiswand nach aussen. Kriechend erreiche ich das Ende. Nun zur Nase hinüber! Hinter den Eiszapfen durch! Wahrhaft, hier käme ich ja selbst mit dem grössten Rucksack durch, und von unten sah es aus, als ob wir Mühe hätten, uns durchzuzwängen. Wenn ich nur schon drüben wäre hinter der Nase! Endlich kann ich den Pickel hinter ihr verklemmen, dann strecke ich die Arme und lege vorsichtig eine lebendige Brücke über die Unterbrechungsstelle hinüber. Ein einziger Halt am verklemmten Pickel, ich löse jenseits die Füsse und wühle mich diesseits hinauf, hinein in die Spalte hinter der Nase.Vor Überlastung wird dringend gewarnt! Ungemein kühn ist die Nase an die Eiswand geklebt, wer weiss, ob sie am folgenden Tag noch zu finden gewesen wäre. Weiter führt jenseits das Band, leicht bringt es uns zum zweiten Kamin, und wenig später liegt der Abbruch der Eiswand unter uns. Über uns schnellt in einem einzigen Schwung der Eisschild zum Gipfel.

Wir sind in Hochstimmung 1 Könnte es anders sein, nachdem uns der direkte Durchstieg auf den ersten Anhieb gelungen? Eine Kampfeslust und Siegeszuversicht belebt uns, wie seit langem nicht mehr. Unsere Eisen verkrallen sich im glasigen Eis. Mehr und mehr spitzt die Flanke sich zu, von Nord- und Westgrat bedrängt. Ob die Sonne bald kommt? Die Hauptarbeit ist vorbei, jetzt kann sie uns nicht mehr gefährlich werden.

Häufiger wie bisher schweift der Blick in die Tiefe hinab, eilt über die schimmernde Flanke zu dem in der Sonne hell leuchtenden Nestfirn, über die Klüfte des Nestgletschers hinunter ins Lötschental.

Immer näher rückt das Ziel, schmäler wird die Flanke. Zwischen zwei Felsrippen gepresst, zieht das Eis vollends hinauf bis wenige Meter unter den Punkt, wo Nord- und Westgrat sich treffen. Dort leuchtet die Sonne, dort lacht der Sieg. Um 1130 Uhr tauchen wir aus dem Dunkel der Eiswand ins Licht der Sonne. Der Sieg ist errungen, um 12 Uhr ist der Gipfel des Bietschhorns erreicht.

Das war am 7. August 1932.

Am 11. August, also 4 Tage später, standen wir zum drittenmal in diesem Jahre auf dem Gipfel des Bietschhorns. Um 10 Uhr morgens. Warme Sonne lag auf dem Gipfelgrat. Auf aperen Felsen hielten wir lange glückliche Rast. Zwei Jahre lang hatten wir um diese Gipfelstunde gekämpft, zwei Jahre lang hatten wir uns nach dem Augenblick gesehnt, wo wir vom Gipfelsteinmann über den bezwungenen Südostgrat hinabschauen konnten. Nun war er endlich gekommen. Das Ringen ums Bietschhorn hatte sein Ende gefunden.

Wie lange ist 's her, seit wir die Hütte verlassen haben? Vorgestern war es, um 2 Uhr früh, vor 56 Stunden! Wie waren wir mit unseren gewichtigen Rucksäcken von der Hütte durch die Nacht emporgeeilt zum Bietschjoch, drei herrlichen Sonnentagen entgegen! Wie rasch waren wir diesmal zum fürchterlich aussehenden Band gekommen, das alle Fürchterlichkeit verloren hatte! Schon um 630 Uhr war der erste Aufschwung erreicht. Die Verhältnisse waren ausgezeichnet! Die Platten, über die wir an Pfingsten 1932 nach rechts gequert hatten, waren vollkommen schneefrei, ganz im Gegensatz zum letzten Sommer, wo auch hier alles verschneit gewesen. Dann rangen wir mit den gigantischen Türmen, gingen Schritt für Schritt den Weg, den wir schon einmal gegangen. Selbst dort, wo uns die Erinnerung verliess, zwang uns die Notwendigkeit auf den alten Weg. Es war ein genuss-reicheres Arbeiten als im letzten Jahre, es wäre ein Schwelgen gewesen, wenn nicht hoch oben noch immer jenes Fragezeichen gestanden hätte. Immer und immer ging der Blick dort hinauf, wo hinter der Stirne des zweiten Aufschwungs jene überhängende Turmwand hervorgrinste.

Schon in den ersten Nachmittagsstunden war unser alter Beiwachtplatz erreicht. Wir hatten gehofft, noch bis zum Abend das wagrechte Gratstück mit seinen unzähligen Gendarmen und Türmen hinter uns zu bringen. Doch diese zerborstene und zerrissene Mauer liess sich keine einzige Minute abringen. Hier brachte nur langsames, behutsames Arbeiten zum Ziel. Wenn einmal die schwanken Türme unsern Schritt nicht genug zügeln konnten, dann sprach der schwere Rucksack sein gewichtiges Wort, denn zwei Paar Nagelschuhe sind für den Ersten eine höchst unangenehme Last. So waren wir gezwungen, kurz vor dem zweitletzten Turm aus Sorge um einen geeigneten Beiwachtplatz noch vor Einbruch völliger Dunkelheit die Tagesarbeit zu beenden. Im Windschatten des Grates fanden wir eine kleine Stufe, die nach dem Einebnen und Pflastern einen Lagerplatz bot, wie wir uns einen bequemeren kaum denken konnten. Dass uns in der Nacht das Zeltsack-fenster durchging, war nicht seine Schuld, das war auf Konto der Luftigkeit unseres Lagers zu buchen, denn in dieser Hinsicht hatte unsere Stätte nicht viele Vorgänger. Es gehörten schon einigermassen gute Nerven dazu, um auf einer kaum meterbreiten, einerseits etwa 500 m, andererseits immerhin 100 m senkrecht abstürzenden Mauer ruhig zu schlafen, bis einen das Getöse fallender Steine, die durch die geringste Bewegung gelöst wurden, wieder weckte.

Um die Mittagszeit des folgenden Tages standen wir vor dem überhängenden Turm. Diesmal stand kein Unwetter drohend im Westen. Diesmal war die Nacht noch ferne. Doch die Überhänge schlössen noch immer den Turm. Wie lange hatte ich auf diesen Augenblick gewartet, wie hatte ich mich gesehnt nach diesem letzten Ringen, das uns nun bevorstand, in wieviel schlaflosen Stunden stand mir dieser Turm vor Augen!

Prüfende Blicke tasteten über den Fels, hafteten an scheinbaren Halten. Doch nach oben fanden sie sich nicht durch, überall sperrten die Überhänge den Ausstieg. Wie wäre es nach links, dort über die Platte? Dort links oben über den Überhang? Führt nicht ein Riss oben weiter? Noch einmal ein Blick über die ersten 10 m, dann wusste ich: Es geht! Dies war die schönste Stunde der Fahrt, die uns diesen Turm zwingen liess.

Gendarmen, riesige Granitquader, übereinandergetürmt auf der gewaltigen Mauer — brechen sie nicht zusammen unter unserem Schritt? Donnernd, tosend stürzten Platten und Blöcke hinab in die grausige Tiefe.

Der letzte Turm stand vor uns. Da stürzte uns eine einzige unbedachte Sekunde aus olympischer Höhe hinab in tiefste Verzweiflung. Mein Rucksack, bei Fritz zurückgelassen wegen eines schweren Grataufschwunges, sollte aufgeseilt werden. Kaum war er von Fritz freigegeben, da hatte ich plötzlich das leere Seil in der Hand, sah den Rucksack in der Tiefe verschwinden — nach Sekunden der Aufschlag in der Ostflanke des Grates. Mir war, als würde ich selbst in tausend Stücke zerrissen, wie ich den Rucksack zerplatzen sah. Die Nagelstiefel und der ganze Inhalt stürzten in tollen Sprüngen über die Wand in die Tiefe hinab. Was im Schnee nicht spurlos verschwand, das rollte durch Lawinenrinnen hinab in die Randkluft.

Ich war im Augenblick meiner Sinne nicht mächtig, musste mich festhalten, um nicht selbst hinunterzustürzen zu den Trümmern. Diesem Kampf sollte wieder kein Sieg werden? Die Nagelstiefel waren verloren. Doch das war noch nicht einmal das Schlimmste. Unsere gesamte Reisekasse war im Rucksack verstaut. Keinen einzigen Rappen nannten wir mehr unser eigen. Es brauchte Zeit, bis ich wieder klar zu denken vermochte. Was nun? Ist Aussicht vorhanden, dort unten noch etwas zu finden? Wenn wir die ganze Flanke absuchen? Wenn wir wenigstens das Geld wieder fänden! Vielleicht auch die Stiefel! Und der Südostgrat? Ist er uns denn tatsächlich verloren? Könnten wir denn nicht, wenn wir da drunten unsere Sachen wieder gefunden haben, wieder heraufsteigen? Der gesunde Optimismus bekam wieder in mir die Oberhand. Ja, richtig, so machen wir es, wir steigen hinab und suchen die Flanke ab. Wenn wir sie in ganzer Breite durchklettern bis zum Gletscher hinab, dann müssen wir die Sachen finden! Und wenn wir wieder Geld und Nagelstiefel haben, dann steigen wir wieder zurück zum Grat und zwingen ihn vollends!

Drei Stunden lang stiegen wir kreuz und quer durch die vereiste Flanke. 500 bis 600 m hinab. Da lag ein Handschuh, dort ein Haselnusskern, hier ein Brillenglas, wahrhaftig noch ganz! Die Geldmappe — offen! LeerDas meiste fehlt, nur einige wenige Scheine stecken noch drin, wo sind die andernDort auf dem Eis! Doch das Hartgeld war nicht mehr zu finden. Von den Schuhen keine Spur. Bis zum Baltschiedergletscher stieg ich hinab, wühlte mich durch den grundlos aufgeweichten Schnee hindurch, hinunter, hinauf, nach rechts, nach links. Umsonst! Kein Wunder, in diesem Schnee hatten die Schuhe ertrinken müssen! Durchnässt trat ich den Rückweg an zu Fritz, der oben im Fels vollkommen niedergeschmettert das Ergebnis meines Suchens abwartete. Da fand ich im Aufstieg unter dem Abbruch der Felsflanke einen einzigen Schuh! Was sollte er uns nützen?

Die Schuhe waren damit endgültig erledigt. Doch die Hauptsache war, dass wir wenigstens den grössten Teil des Geldes gerettet hatten. Ohne Schuhe kommen wir weiter, aber nicht ohne Geld!

Stockfinstere Nacht war es geworden, bis wir den Grat wieder erreicht hatten. Ein geeigneter Beiwachtplatz war nicht mehr zu finden. Doch die Nacht ging herum wie so manch andere schwere vorher. Schon beim Dämmern des Tages zogen wir weiter. Noch ein Aufbau von wuchtigen Türmen, von glattwandigen Nadeln — letztes, verbissenes Ringen!

Um 9 Uhr standen wir auf dem letzten Gratturm, vor uns die Gipfelkuppe, hinter uns, unter uns der ganze gewaltige Grat! Tränen der Freude in den Augen drückten wir uns schweigend die Hände. Der Weg über den Südostgrat war erkämpft! Langsam, mit müden Schritten stiegen wir durch den Schnee hinauf zum Gipfel.

Bietschhorn — untrennbar sind mit dir verbunden zwei Jahre des Kampfes. Ich habe gerungen um dich mit heissester Liebe. Feuer der Sehnsucht verbrannten meine Seele. Du hast mir alles gegeben, was ich gefordert. Traum ward Erfüllung, Hoffnung ward Wirklichkeit!

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