Abseits der grossen Gipfel | Club Alpin Suisse CAS
Soutiens le CAS Faire un don

Abseits der grossen Gipfel

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

R. Bolliger, Genf

Bild 20 Tagelang war das Wetter schlecht, die Temperatur mitten im Hochsommer empfindlich abgesunken; doch dann wurde es wieder schön, aber nun trugen die hohen Gipfel weisse Kappen.

Ständig spricht man von der Ausdauer und vom Training der Alpinisten, doch mangelt es dem durchschnittlichen Bergsteiger oft einfach an beidem. Oder er hat nur wenig Zeit, die er einem Berg widmen kann, vielleicht nur einen einzigen Tag. In solchen Situationen erinnert er sich dann daran, dass sich abseits der grossen Gipfel auch noch kleinere finden, die nicht weniger schön, interessant und schwierig sind. Dabei kommt mir wieder jenes Gespräch in den Sinn, in das ich einst in einem kleinen Bergdorf mit Sommertouristen verwickelt worden bin: Sie behaupteten, der kleine Gipfel dort, jener neben dem grossen, wäre wahrscheinlich viel schwieriger zu besteigen als der grosse...

Oh, ich werde Sie nicht mit einem Bericht über die Besteigung eines Gipfels langweilen, der irgendwo in einem kleinen, unbekannten Tal verborgen himmelwärts ragt. Es handelt sich vielmehr um eine klassische Route, die man ausserhalb der Welschschweiz vielleicht etwas weniger kennt.

Mein Freund Bruno hatte mir vorgeschlagen, den Ostsporn der Brioche ( 2780 min den Aiguilles von Chamonix zu versuchen. Ein Blick auf die Karte - und schon fühle ich Angst in mir aufsteigen. Werde ich diese Risse und Platten wohl schaffen? Oder werde ich irgendwo in einem grässlichen Einschnitt stecken bleiben? Wie sehr wünschte ich mir, ich könnte mich schon oben auf dem Gipfel jenem Freudentaumel hingeben, in den man spontan ausbricht, wenn man alle Schwierigkeiten überwunden hat. Trotz schlech- 1 Sehr schöne Kletterei, Dt; Höhe 380 m ( Vallot-Führer: Les Aiguilles de Chamonix ).

tern Wetterbericht und einem Gewitter am Vorabend fahren wir an einem wunderschönen Morgen nach Chamonix.

Doch - ein paar ganz kleine Wolken bilden sich schon am Himmel.

Bereits in Montenvers müssen wir feststellen, dass die kleinen wollig-weissen Gebilde bereits Zuwachs erhalten haben. Nichts desto trotz folgen wir einem kleinen, angenehmen Fusspfad, der sich dann in steilen Alpweiden über dem Mer de la Glace verliert. Ein paar Schafe weiden gemütlich: ein beruhigendes Bild.

Ganz in der Nähe hebt sich schon die Silhouette unseres Sporns ab. Ah, wie steil er mir erscheint; trotzdem, auf dem kleinen Firn seilen wir uns an.

« Das ist vier plus », bemerkt Bruno; ja wahrlich, es sieht wirklich schwierig aus.

Das Wetter will nicht mehr so recht; frierend warte ich darauf, in Aktion zu treten und meinem Freund folgen zu können. Ein kurzer Ruf- nun ist es an mir: nach ein paar ziemlich leichten Passagen schwingt sich der Doppelriss plötzlich nach aussen und wird überhängend. Ah, dieser Fuss, der auf dem Sims des Risses einfach nicht genügend Halt findet! Ich gleite auf dem sehr glatten Granit aus und schon schwindet meine Kraft in den Armen. Rückzug. Was zum Teufel werde ich wohl heute abend erzählen, schiesst es mir durch den Kopf. Dass ich die Brioche bestiegen, oder feige aufgegeben habe? Werde ich mich an einer gelungenen Besteigung freuen können oder mich über einen Misserfolg ärgern müssen? Nur Mut -ich wage einen zweiten Versuch - diesmal überwinde ich den Überhang. Doch da bemerke ich, dass ich den ersten Klettergürtel zu bergen vergessen habe; der hängt trotz seiner hübschen Malvenfarbe traurig ein Stück weiter unten. Ich bin das neue Material eben noch ungewohnt.

Stand. Unten ist der Fels glatt, ja makellos; oben türmt sich eine vertikale Formation von geometrischen Strukturen auf. Ein Riss zieht sich durch eine hohe, schräge Felsflucht. Jetzt verspüre ich etwas mehr Selbstvertrauen und komme daher besser voran. Es folgt ein buntes Kletter- programm: Überhänge mit knappen Griffen, ein weiter Spreizschritt...

« Es ist schon etwas technisch », gesteht Bruno. Ein eigentliches Luftballett. Was für ein armseliger Klumpen ist doch dieser Fuss, den ich, in einen Spalt eingekeilt, nur mit grosser Mühe befreien kann. Allmählich scheint mir der Aufstieg etwas lang, was ich diskret meinem Freund mitteile, indem ich ihn frage, ob wir denn nicht schon bald oben wären. Eine böse Enttäuschung, denn anscheinend haben wir erst die Hälfte geschafft. Der Himmel ist jetzt vollkommen verhängt, und ab und zu schwebt leicht und vorwitzig eine Schneeflocke der jetzt nicht mehr ganz so vertikalen Wand entlang.

Ein leichtes Couloir, gefolgt von dünnen Furchen und einer perfiden kleinen Verschneidung. « Ich werde bei der Traverse einen Steigbügel anbringen », ruft Bruno, der die Schwierigkeit erkannt hat. Balanceakt auf dem Steigbügel — Anklammern an die Rillen. In der Situation ist jede Müdigkeit vergangen. Dort oben verliert sich die Aiguille de la République im Wolkenschatten. Eine Folge von schrägen Platten und kurzen vertikalen Stellen bringt uns rasch auf eine luftige kleine Krete, dann sind wir endlich auf dem Gipfel, einem merkwürdig geformten Klotz, der aussieht, als ob er jeden Augenblick sein Gleichgewicht verlieren würde. Es beginnt zu schneien.

Jetzt erst spüre ich ein Schlottern in den Beinen, aber ich bin glücklich.

Das Wetter ist schlecht geworden; schwere graue Wolken steigen aus dem Tal hoch. Weiter unten regnet es schon.

Ich habe Mühe, mich der Magie des Gipfels zu entziehen, und wenn nicht das schlechte Wetter gewesen wäre, hätte ich hier oben noch eine Weile vor mich hingeträumt...

Aus dem Französischen übersetzt von D.W. Portmann

Feedback