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Am Doldenhorn-Nordgrat

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Walter Sporrer

( Zürich ) Am 25. Juli 1942 verlassen wir, vier Mann, das heimelige Dorf Kandersteg. Noch ist der Himmel voller drohender Wolken des erst vor kurzem vorübergezogenen Gewitters. Wie wir am Oeschinensee vorbeibummeln, haben sich die Wolken talwärts verzogen, und die letzten Sonnenstrahlen färben die wuchtige Blümlisalpkette in ein seidenes Rosa. Jeder mit seinen eigenen Gedanken auf das Kommende beschäftigt, steigen wir den prächtig angelegten Hüttenweg zur Fründenhütte empor. Diese erreichen wir etwas nach Mitternacht. Nach einem kurzen Imbiss legen wir uns zur Ruhe, die einen unter den Tisch, die andern neben den Kochherd, wie das so der Brauch ist in den überfüllten Hütten. Nach zwei Stunden hat dieses Dahindösen auch sein Ende. Nachdem ein kräftiges Frühstück eingenommen ist, tappen wir hinaus in die Dunkelheit. Kein Stern ist mehr zu sehen, und ein warmer Wind streicht uns um die Ohren. Föhn! Es sieht nicht verlockend aus. Mit den besten Wünschen des alten Vaters Ogi tasten wir uns zum Gletscher hinunter, wo die Steigeisen angeschnallt werden. Vorsichtig suchen wir uns einen Weg durch das Spaltengewirr. Der Schein unserer Kerzenlaterne gaukelt wie ein Irrlicht durch den Abbruch des Fründengletschers. Der Schnee ist durch den Föhn aufgeweicht und die Einbruchgefahr gross. Schweigend stapfen wir dem Fründenjoch zu, wo wir um 6 Uhr in der Frühe die Riemen der Steigeisen lösen. Ein fahler Tag ist angebrochen. In greifbarer Nähe das Bietschhorn, zur Hälfte von einer weissen Wolkenwand eingehüllt. Vor uns türmt sich in furchtbarer Steilheit unser Grat auf. Mein Blick klettert langsam aufwärts, und ein seltsames Gefühl schleicht sich bei mir ein. Ich zweifle am Gelingen. Ich kämpfe meine Hemmungen nieder, haben doch meine Käme- raden und ich schon manchen schweren Kampf ausgetragen auf steilen Gräten und Wänden und viele schöne Gipfelsiege errungen. So kann es auch hier nicht fehlen 1 Auf unser Können vertrauend, teilen wir die Seilschaften ein. Hoffentlich hält das Wetter. Doch von Westen zieht eine schwarze Wolkenwand wenig verheissungsvoll daher. Während andere Seilpartien sich gegen das Fründenhorn hin bewegen, machen wir uns an die Arbeit. Rasch erklimmen wir die ersten 30 Meter, die keine Schwierigkeiten bieten.

Doch in diesem relativ leichten Stück merken wir, dass hier ein anderes Klettern ist als in dem uns Zürchern bekannten Gotthardgranit. Alles Gestein ist nach abwärts geschichtet und brüchig; also ist äusserste Vorsicht geboten. Die nächste Seillänge gibt uns schon mehr zu schaffen, da sie sehr griffarm ist. Wieder bin ich froh über meine 1,85 m Körpergrösse. Um meine Kameraden nicht zu gefährden, klettere ich äusserst vorsichtig, dass ja kein Stein sich lösen kann. Jeder Griff muss zuerst auf seine Haltbarkeit geprüft werden. Grossartig ist der Tief blick ins Gasterntal, und kältestarrend strotzt uns der Abbruch des Kanderfirns entgegen. Ein mächtiger Überhang versperrt hier unseren Weiterweg. Rasch prüfen meine Augen eine Umgehung durch die Südwand, um dann durch einen Riss wieder auf den Grat zu kommen. Gut gesichert gehe ich den Quergang an. Flach presse ich den Körper an die Wand, um nicht aus dem Stand geworfen zu werden. Der Riss sieht sehr glatt und abweisend aus. Ich verklemme den linken Fuss und die rechte Hand darin, während die Linke eifrig bemüht ist, an einer Unebenheit das Gleichgewicht zu bewahren. Zentimeter um Zentimeter schiebe ich mich höher, bis ich über mir einen guten Griff erfasse und mich auf ein kleines Sims hinaufziehen kann. Nachkommen! Langsam gleitet das so treue Seil durch meine Finger. Schwere Nebelschwaden ziehen am Fründenhorn herauf. Da spüre ich etwas Kaltes, Nasses auf meinem Nacken. Grosse Regentropfen fallen.

Drei Stunden haben wir vom Einstieg bis hieher gebraucht. Noch wäre die Gelegenheit günstig zur Umkehr. Aber da bricht ein Sonnenstrahl durchs Gewölk, und wie ein Hoffnungsschimmer taucht zwischen grauen Nebelfetzen ein kleines Stück blauer Himmel auf. Somit heisst die Losung: Weiter. Wieder hindert uns ein etwa sechzig Meter hohes Wandstück, das nicht die geringste Unebenheit aufweist, am Weiterweg. Etwa 50 Meter rechts davon scheint sich ein begehbarer Riss hinaufzuziehen. Die Seile werden zusammengeknüpft. Vorsichtig quere ich auf zum Teil mit nassem Neuschnee belegten, abschüssigen Platten hinüber. Noch stehe ich 10 Meter unter dem Riss, der sich durch einen Überhang etwa 30 Meter hinaufzieht.

Der erste Sicherungshaken wird geschlagen. Singend fährt der Stift in die Ritze. Gut gesichert können nun meine Kameraden den Quergang überwinden. Das Wetter hellt immer mehr auf, und rasch trocknet der regenfeuchte Fels wieder. Ohne Sack gehe ich den Riss an, doch schon bei den ersten Metern merke ich, wie sehr es mich hinausdrückt. Die Zähne fest aufeinander-gebissen und jede Schwergewichtsregel beachtend arbeite ich mich höher. Über meinem Kopf erspähe ich einen alten, verrosteten Haken, also hat auch AM DOLDENHORN-NORDGRAT schon jemand hier sein Glück versucht. Rasch prüfe ich ihn. Er hält. Der Karabiner schnappt ein, und ruhig kann ich die nächste Seillänge überblicken. Ungefähr 3 Meter über mir läuft eine schmale Felsrippe schräg aufwärts zum Grate zurück. Da ertönt der Ruf von unten: « Noch 4 Meter. » Also reicht es auf die Rippe. Es ist zwar kein guter Sicherungsplatz. Nirgends eine gute Ritze, um einen Stift zu placieren. Nach 2 Metern finde ich diese, als es von unten herauftönt: « Seil aus. » In meiner Kopfhöhe setze ich einen Haken, um mich daran zu sichern. Eine Stunde haben mich diese 30 Meter gekostet! Endlich der erlösende Ruf: « Nachkommen! » Sobald der erste Kamerad bei mir ist, klettere ich in mittelschwerer Kletterei zum nächsten Sims empor. Es ist ja gerade das Eigenartige an diesem Grate, dass sich immer nach 60 bis 80 Metern ein 3-4 Meter breites, flaches Sims findet, wo man sich für die nächsten schweren Stellen wieder sammeln kann. Plötzlich ein Pfeifen in der Luft. Steinschlag! Sofort reisse ich den Sack über den Kopf. « Achtung, Steine », schreie ich. Doch schon tönt es von unten herauf: « Oski ist getroffen. » — « Ein Stück vom Finger weg. Sofort herunterkommen. » Der Berg hat uns abgewiesen, er ist stärker als wir. Das erste Gebot in solchen Situationen heisst Ruhe. Ich klettere zum Haken zurück, um von dort am einfachen Seil zum verunfallten Kameraden abzuseilen. Schnell verbinde ich die furchtbare Wunde, und wieder lerne ich die kleine Schaffhauser Taschenapotheke schätzen. Drei Verbandspatronen brauche ich, und immer sickert noch das rote Blut durch den Verband, den wir noch mit einem Lederhandschuh schützen. Es gibt nur eines: sofortiger Rückzug.

Weit unter uns liegt der Fründengletscher, wo schon die ersten Partien vom Fründenhorn der Hütte zustreben. Schwach dringen ihre Jauchzer, die von einer frohen Bergfahrt künden, zu uns herauf. Wie manches Mal sind wir mit freudigen Gesichtern über den gelungenen Bergsieg zu Tale gestiegen; heute wird es ein stummes Ringen sein. Was ist der Mensch im Kampfe mit dem Berg, wenn er zürnt. Abseilen! Mein Freund zeigt keine Begeisterung dafür, da seine rechte Hand gebrauchsunfähig geworden ist. Also müssen wir hinauf zum Sims, von wo ein verschneites Band schräg durch die Nordwestwand abwärts führt, über teils abschüssige Platten. Mittels eines Seilzuges kommt der Verletzte über die schwere Stelle hinweg. Um Zeit zu sparen, wähle ich ebenfalls diese Art. Noch 60 Meter trennen uns von der Stelle, wo sich der Grat verflacht, um nachher mit dem Galletgrat zusammenzukommen. Ein Abstieg muss erzwungen werden. Das Blut tropft dem Verletzten durch den Lederhandschuh. Weiter unten ist das Band von einer kleinen Wandpartie unterbrochen, um dann in eine Eiszunge auszulaufen. Die grösste Sorge bereitet der Schrund unter uns, doch haben wir eine Möglichkeit, ihn zu überschreiten. Das Seil wird kurz gebunden, und der Verletzte in die Mitte genommen. Tapfer verbeisst er seinen Schmerz. Von Zeit zu Zeit lösen sich kleine Neuschneelawinen über uns, die mit lautem Getöse zu Tale sausen. Und nun setzt zu allem noch ein feiner Regen ein, der die Oberfläche des Felsens in einen schlüpfrigen Zustand versetzt. Jeder beobachtet seinen Vordermann aufmerksam.

Ein Ausgleiten auf diesen, etwa mit 30 Zentimeter Neuschnee bedeckten abschüssigen Platten hätte unfehlbar den Absturz aller vier zur Folge. Nun sind wir an der Stelle, wo ein ca. 10 Meter hohes Wandstück das Band unterbricht. Es ist mit schwarzem Wassereis überzogen. Vorsichtig tasten wir uns hinunter; eine Sicherung ist unmöglich. Von hier aus fällt ein steiles Schneeband zur Eiszunge. An einem vorstehenden Block finden wir eine verwitterte Reepschnur mit einem Abseilring versehen, stumme Zeugen eines früheren Versuchs. Hier opfern wir eine unserer Schlingen, um ebenfalls zur Zunge abzuseilen, die äusserst steil ist. Hier die Eisen anziehen ist ein Kunststück für sich. Ein Blick auf die Uhr zeigt uns die vierte Nachmittagsstunde an. Langsam hacke ich abwärts. Ein paar kräftige Schläge mit meinem treuen Almagellerpickel in das glasharte Eis, und die Stufen sind genügend, um dem Verletzten einen sichern Stand zu geben. Stufe reiht sich an Stufe. Eine Stunde, zwei Stunden hacke ich, bis die Steilheit abnimmt. Mit stark ermüdeten Fussgelenken können wir jetzt schneller absteigen und nähern uns dem Schrund.

Da, wieder ein Sausen! Instinktiv reissen wir den Sack über den Kopf. Rechts und links neben uns spritzt es im Schnee auf. Noch einmal hat der Berg uns seine Waffen gezeigt. Schaurig gähnt uns der Schrund entgegen. Ein Kamerad entdeckt rechts von uns eine schmale Zunge, die sich ein Stück über den grausigen Schlund streckt. Hält sie? Ihre Dicke ist wenig Vertrauen erweckend. Am tief eingerammten Pickel gesichert, betrete ich die Zunge. Nachlassen! Ein tiefes Einatmen und ein gewagter Sprung, und ich lande auf der anderen Seite, knapp neben der Abbruchstelle. Mit fest zusammengepressten Lippen setzt auch der verletzte Kamerad zum Sprung an, und mit Hilfe eines kräftigen Seilzuges erreicht auch er meinen Standort. Dann schnell aus der Steinschlagzone heraus, denn der Schnee ist hier mit Steintrümmern übersät.

Auf dem sichern Gletscher angekommen, reichen wir einander stumm die Hände, eben als die Sonne aus den Föhnwolken hervorbricht. Es ist kein vertrauter Gipfelhändedruck, aber er kommt ihm an Innigkeit gleich. Tapfer hat sich unser verunfallter Freund gehalten. Keine Schwäche gezeigt. Immer noch sickert es rot durch den Lederhandschuh, und ab und zu fällt ein Tropfen davon in den Schnee. Ein letztes Zusammenreissen, und nach genau 15 Stunden stehen wir vor der heimeligen Hütte und legen das Seil ab, das uns so lange verbunden hat. Mit einer rührenden Herzlichkeit bewirtet uns die Mutter Ogi. Ein anwesender Klubkamerad, der Arzt ist, nimmt sich in verdankenswerter Weise unseres Verletzten an, dessen Wunde er vorsichtig behandelt und wieder gut verbindet. Ein letztes Mal wandern unsere Augen zurück zum Nordostgrat, der schon im tiefen Abendschatten liegt.

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