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Aus Tagen im Val Verzasca

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VON MAX KOENIG, ZOLLIKON

Mit 3 Bildern ( 125-127 ) Mat er elio 2173,8 m... zum Ganzen einer Landschaft gehört auch ihre Seele...Conrad Block 21. /22. Juni 1957.

Es ist dieses mehr als Topographie, das durch das offene Postwagen verdeck - da wir von Locamo gegen Tenero fahren - hoch und fern auf dem Sassarien te mir ein Kreuz entgegenhält. Jenes eiserne Kreuz, Daniele, nahmst du in seinen Teilen auf deine starken Schultern und hast es in Mühsal getragen bis zur Bergesspitze. Aber später - ach-bist du in die Irre gegangen, verdorben und gestorben. Als ich in deinem Albergo Solari in Gordemo - es sind gute zwanzig Jahre her - die heisse Sommernacht im kleinen Kämmerlein, die Lichter von Locamo blinkten herauf, in unruhigem Schlummer verbrachte, da war noch ein Heim, deine junge Frau, deine Kinder, war noch Geborgenheit um dich. Lange vor Sonnenaufgang hast du mich dann durch das Mosaik der Weinberge an der Bergeshalde geleitet, bis das Weglein nach den Monti di Metri und Motti nicht mehr zu verfehlen war. Immer wenn ich seither dort oben bei deinem Kreuz gesessen bin, schien es mir wie Sühne und Trost für dein Schicksal...

Ein warmes gutes Lächeln war in Signor Stornis Gesicht gewesen, als er mich vom Zuge kommen sah, und schon hatte er mir Rucksack und Pickel abgenommen und in seinem Val-Verzasca-Post-wagen verstaut, der wie ein unscheinbarer Berggeselle neben den weltlich sich breit machenden, grossen Ascona-Fahrzeugen stand. In Gordola wendet die obligate Spitzkehre den Wagen zu dem Tale hin, dessen Ausgangsschlucht für Frederike Brun schlüssiger Beweis war, dass alle Täler durch Bersten der erstarrten Erdkruste entstanden seien: « Genau wie Zähne passen die einander gegenüberliegenden Wände ineinander », schrieb sie.

Im Sinnen verweben sich mir des Tales Werden und Sein; ich sehe eine Fare struppiger Langobarden, die sich vom Tross des beschwerlichen Zuges ihres riesigen Stammes aus rauher, nordischer Heimat über die Alpen gelöst haben und nun Friede und Ruhe suchen. Zum Wild wird ihnen der Fluss Fische geben und ihre Tiere tränken; noch kündet das heutige Frasco von ihrem Kommen. Doch lange zuvor, wohl an die tausend Jahre, hatten italische Jäger und Fischer, Ligurer und dann Etrusker das Tal durchstreift und ihm den Namen gegeben. So war es schon seit urdenklichen Zeiten das Val Verzasca, in das im vorigen Jahrhundert kundige Pontironesen herüber kamen, um die starken Tannen aus dem Vogornesso und dem oberen Tal zu schlagen. Vom kleinen künstlichen Sammelbecken in Cabione trug das Wasser die Stämme die 20 km hinaus zur Ebene in den See und in die Lombardei.

Tempi passati - aber gestern, da sah ich hier an der Strasse einen, der schaute'mit eigentümlich wägendem, begehrlichem Blick hinunter in die « schauerliche » Schlucht. Ihn selbst kannte ich nicht, aber seine Art kenne ich nur zu gut, bin ich doch von der gleichen Gattung; ja es war ein Techniker. Er will, wie ich gehört habe, das Rauschen und Donnern der wilden Verzasca in einem tiefen stillen See auf immer ersticken; die Verhältnisse seien sehr günstig für einem Staudamm, er habe alle Berechnungen gemacht! Einst brach die Kraft des Wassers die Felsbarrieren und formte das Tal; dann flösste es des Tales Holz hinaus, und morgen wird es dem Menschen und seiner krafthungrigen Technik dienen. Ein neues Blatt der Geschichte des Val Verzasca wird aufgeschlagen. Längst ist ja seine Abriegelung, die Porta, gefallen; Strasse und Post brachten geistigen Anschluss und helfen den nomadisierenden Verzaschesen; das projektierte Speicherwerk... costa pocco, rende molto... wird es auch materiell der Welt zuführen.

Wie ein vollendeter Erinnerungsbogen spannen sich meine 40 Jahre der Verbundenheit mit dem Tale über das Alte, er reicht nicht mehr ins kommende Neue, und ich bin es zufrieden.

Bis Bartolomeo sitzen — in schwarzer Schülertracht- zwitschernde Mädchen vor mir; zeitlose Einfachheit erfüllt den kleinen Postwagenraum; wie weit zurück liegt schon auch Locarno oder oltre Gottardo, gar Zürich. Es ist mir wieder wie Heimkehr. Vertraute, bekannte Gesichter sind um mich, und wie am Eigenen freuen mich Verbesserungen an der Strasse, eine neu ausgebaute Kehre, eine breitere Brücke über dieses und jenes Tobel, da ist eine Rutschung, eine rana, die ein Stück Strasse herausgerissen hat, wir holpern über die temporäre Bretterdecke.

Lavertezzo - dem grossen farbigen Tellenbild an der Frontwand des Albergo Victoria könnte jene hochsommerliche Schulhauseinweihung als Vorlage gedient haben, da ich als Knabe, im dicken Lammfell schwitzend, aber stolz mit Pfeil und Apfel, im Festzug an der Hand eines bärtigen, die Armbrust tragenden Tellenvaters einherging. Ich bin einziger Gast, doch als ich das kleine saubere Zimmer mit dem Madonnenbild über dem Eisenbett bezogen habe und dann in die Wirtsstube trete, kommt auch schon der forestale und leistet mir zu einem Alba del Ticino Gesellschaft. Signor Lucchessa ist ein erfahrener, kluger Mann, er kennt hier alle Täler und Alpen, und ich kann mich von ihm über den Materello beraten lassen. Er meint, ich solle über Guglia gehen, dort werde mir der Senne weiterhelfen, aber auch über Lavazzei sei keinerlei Schwierigkeit, und in Cuneggio wären die Schwestern des jungen alpigiano, der gerade am Nebentische sitze. Der Materello ist ein unbedeutender Berg, mir aber ist er « der letzte Mohikaner » der Verzascagruppe und ihrer Seitenarme. Wie der nahe P. Eos fällt auch er in einer gewaltigen Steilwand gegen Lavertezzo ab.

Leider ist das Wetter nicht ermutigend; in der Nacht weckt mich ein- oder zweimal krachender Donner und, als ich kurz nach 6.00 Uhr zum Frühstück gehe, regnet es leise. Schau, da ist ja - etwas verlegen - bereits auch Umberto, der montanaro von gestern abend. Ob ich nicht mit ihm kommen wolle, er müsse auf jeden Fall nach Cuneggio, um seinen Schwestern zu helfen, die majali von der Alpe Sprugamotto hinaufzubringen; ich könne dort schlafen und anderntags über den Materello zu seinem Zio nach Cuglia absteigen. Umberto gefällt mir, und sein offensichtliches Verlangen, mit mir zu gehen, steckt mich an; so will ich es trotz dem Regen riskieren. Leuchtenden Auges springt er noch nach Rancoi hinauf, um ein Räf zu holen, an das er, neben seinem Militärsack, meinen Rucksack bindet. Auf seinem schwarzen Wuschelkopf trägt er eine fast neue Militärmütze, aber wenigstens ausnahmsweise nicht auch noch des teuren Vaterlandes Kleider. Wir sind ein recht unterschiedliches Paar, aber er scheint mir, wie es sich dann bestätigt hat, bergtüchtig.

Schon nach Verzuolo geht der immer stärker werdende, gewitterige Regen in eigentlichen Hagel über, und die grandine prasseln so dicht und gross auf meinen Knirpsschirm, dass ich für ihn fürchte. Eine richtige tempesta tut sich auf. « Nur dem Tapferen hält das Glück die Treue » tröste ich Umberto. Bis wir Cognora erreichen, ist der alte Kugelsteinweg derart zum Bach geworden, dass wir - bereits durch und durch nass - im ersten Stalle Schutz suchen; die Umkehr steht auf des Messers Schneide. Dann flaut der Sturm aber ab, und mit manchem Sprung und « Schuhvoll » erreichen wir an der Foebbialehne hin Forno und die Gabelung nach Arai, wo wir in die Val Pincascia einschwenken. Alle Rinnsale sind jetzt Sturzbäche geworden; in vollen, weiten Bogen springen sie von den Felswänden, und in den ausgeschliffenen Kesseln unter dem festen alten Steinbrücklein sind die Wasser in Aufruhr. Bald könnte alles ein Spuk gewesen sein, wenn nicht trotz Stille und ersten, warmen Sonnenstrahlen Hagelschichten in Vertiefungen und abgeschla- 18 Die Alpen - 1959 - Les Alpes273 gene Zweige und Blätter, mit denen der Weg fast bedeckt ist, des Sturmes Toben und Wüten verraten hätten.

Das Durchhalten hat uns nähergebracht, und ich habe auch allerlei Grund, den frühen Ernst meines jungen guida besser zu verstehen: Sie sind zwei Brüder und sieben Schwestern; der ältere Bruder ist verheiratet, der Vater liegt mit Lähmung von Stimme und Gliedmassen im Spital. Umberto und seine sieben Schwestern sind einer Mutter Kraft und Last.

Etwas später hören wir Schritte, und rasch holt uns ein junger Tessiner ein: Sergio hat soeben einen Militärdienst absolviert und ist im Schuss, in gamba; er werde uns einen Kaffee bereithalten; dann eilt er weiter. Doch auch Umberto und ich drehen nun auf, und in Pincascia verzichten wir mit Rufen und Zeichen auf die Offerte des am anderen Ufer einladend winkenden Sergio. Wir rasten nicht, bis wir durch den waldigen Steilhang hinauf die Hütten von Lavazzei, das nicht bestossen ist, erreichen. Einige Jahre zuvor war ich auf dem Weg zur Cima Lungha hier durchgekommen; nach Cuneggio, von dem Ställe sichtbar sind, ist es nun Neuland. Man weiss dort oben nichts von uns, und es dauert eine Weile, bis auf langgezogenes Rufen Figuren auftauchen und sich dann eine Gestalt von den Hütten weg bewegt. Umbertos scharfe Augen erkennen seine älteste Schwester; wir begegnen ihr etwa im ersten Drittel des Aufstieges. Teresa, 20jährig, untersetzt und ernst wie Umberto, nimmt ihrem starken, nur wenig jüngeren Bruder ohne weiteres das Räf ab, das er ihr auch ohne jeden Widerspruch überlässt. Wesentlich rascher als wir schreitet sie voran zur Hütte hinauf. Das Wetter ist nun recht gut geworden, wohl stecken die Bergesspitzen in unsympathischen, zähen, nebelartigen Wolken, aber dort drüben, unter Punta del Rosso, Precastello und Van sind die Alpen von Fumegna, Cornavosa und Eos voll Sonne, im ersten Grün... « Trinkt, o Augen, was die Wimper hält »...

Cuneggio liegt frei auf der Südterasse des Materello, und grad und eben zieht es sich von da hinaus zum grasreichen Tör. Die alte Cascina der Barloggio war von den Lawinen des Winters 1951/52 weggefegt worden, die neue ist ähnlich den Hochgebiigs-Militärhütten, ein kleiner, massiver, sich duckend an den Materello schmiegender Bau. Das Innere zeugt von Ordentlichkeit und Gemüt, da ist auch eine kleine Steinsammlung, so etwas wie ein Hausaltar mit einer Muttergottesstatue und Blumen. Ich nehme zwei grosse Tassen kalte, frische Bergmilch und dann noch etwas schwarzen Kaffee. Teresa hat auch Polenta bereitet.

Gestärkt und ausgeruht will ich weiter; fein wäre es, Umberto käme mit; er spricht mit seiner Schwester, und natürlich erklärt sich die Gute sofort bereit, die majali selbst zu holen. So brechen wir auf und stehen nach einer halben Stunde auf dem Kamm zwischen Materello und Cima Lungha; seit Jahren hatte ich mich auf den Blick von hier in das Val d' Agro und seine Berge gefreut, aber o weh, das Tal ist überraschenderweise bereits mit Nebel gefüllt, und nur kurz und in Bruchstücken und Fetzen sind Corte grande, Mazer und auch Cremensé sichtbar, einmal sogar für einen Augenblick der Poncione d' Alnasca. Wieder eine halbe Stunde später erreichen wir den grasigen Gipfel und halten Siesta, noch ist es sonnig. Umberto sammelt derweil ein Sträusslein unscheinbarer, dunkelroter Blumen, die ich bis jetzt in den Tessiner Bergen überhaupt nie beachtet habe; als ich zu Hause im alten « Schröter » nachsah, verstand ich den intensiven Duft der Daphne, dieser Seidelbastart.

Irgendwie warnt und drängt die Zeit; Umberto rechnet zwei Stunden nach Guglia. Wir holen dann über Tör weit und steil hinunter in die Pincascia aus - der Pickel ist nützlich; mit den Händen solle ich wegen der Vipere nicht ins tiefe Gras greifen. Endlich traversieren wir, mühsam lavierend und zum Teil exponiert, gegen Guglia; an mehr als einer Stelle bin ich froh um Umbertos Hilfe. Immer wieder späht er die über uns lastende Felswand hinauf, und ich weiss erst warum, als er mir hoch oben auf einem kleinen Absatz gut und deutlich sichtbar ein Adlernest zeigt. Die Kühnheit, Härte und Herbe des grobzweigigen, ja grobastigen Horstes, wie ich ihn zum ersten Male in meinem Leben sehe, macht mir Eindruck; wer unter solchen Bedingungen furchtlos sein Leben besteht, ja das muss und darf in Blick und Haltung und allem als « ein Aar in Lüften schweben »!

Nach vielem Auf und Ab gelangen wir in lichten Bergbuchen auf ein manierliches Weglein und dann durch Tannenwald und freie Matten nach Guglia hinunter, wo uns Umbertos Zio und dessen Tochter erfreut begrüssen und Kaffee offerieren. Der Abstieg gegen die Val d' Agro statt in die Pincascia sei einfacher und vermeide die Wand; ich bedaure aber unseren Umweg zum nido d' aquila nicht...

Von Arai schlendern wir auf gutem Saumweg, der « strada », geruhsam zum Brücklein von Forno.

Schon sind wir auch vor dem Albergo. Umberto geht hinauf nach Rancoi zum Essen, während ich mich umkleide und dann im nahen Acquino einen Besuch mache. Frau Scamara ist in den Stapfen ihres verstorbenen Mannes eine tüchtige Bergbäuerin geworden, Dina, die Jüngste, besorgt schon das kleine Gastgewerbe Al Molino, der Bruder ist Postwagenchauffeur des Tales und die gütigen Augen der 80jährigen Nonna wachen über allen wie je. Wir gedenken der Zeit, da der Dottore von der Leventina her über die Berge gezogen kam und im Bergheu oder im Eisen-bettchen des Nebenhäuschens schlief und die scheue Klein-Dina bei uns Ferien verbrachte.

In Lavertezzo musste es sich herumgesprochen haben, der Süden liebt die Geselligkeit, das Wort und den Gesang; zudem war es domenica, festa. Bis in der Wirtstube die Signorina Cescotta das Nachtessen abserviert hatte, waren über ein Dutzend junger alpigiani, boscuaioli und scalpelini erschienen. Umberto hatte sich schön gemacht und gab seiner Freude über den Tag und wohl auch über das willkommene Führerhonorar Ausdruck mit einer wundervollen glühendroten Sant Antonio, die er von zu Hause für mich mitgenommen hatte.

Als wir zusammenrückten, siehe, da fand sich noch ein Fremder, wie ich dem Rufe der Berge hörig, Signor Canevaschini machte hier Zwischenhalt auf seinem Wege zur Cima Lungha; um Mitternacht brach er dann auf! Die neuen Val-Verzasca-Routentafeln mit den Marschzeiten für die Täler und zu den Gipfeln basieren auf seinen Angaben und Erfahrungen.

Es war nicht der Tessin der Militärdienste oder gar der Reisegesellschaften; so manche der can-zung hatte ich nie gehört, und wie kaum je zuvor kam ich den vom Tal und seinen Bergen geprägten, jungen Verzaschesen nahe. Trotz der Verschiedenheit der Muttersprache und der Wesensart war an der fröhlichen Tafelrunde das Bewustsein um die gemeinsame, grössere Heimat lebendig und verbindend. « Dem Glücklichen schlägt keine Stunde », im vorliegenden Falle auch nicht diejenige der Hermandad; als wir jedoch erklecklich in den Montag eingebrochen waren, wurde es im albergo Victoria mählich still...

Poncione di Picol 2440 m « Nüd na la gwünnt. » Bewundernd beobachte ich meinen hochgebirgserprobten Führer, wie er, in einen Riss verstemmt, sich zu einem flacheren Absatz des wuchtigen Gipfelblockes hinaufschiebt. Gleich Tentakeln tasten seine langen Arme mit den behaarten, kräftigen Händen über den prallen, steilen Gneis hin und scheinen sich an dessen Rauheiten festzusaugen, um den nächsten Ruck des Körpers zu sichern. Jetzt hat er es aber geschafft, fast vertikal über mir richtet er sich auf, ich kann nachkommen; am harten Zug des Seiles ermesse ich seine Umsicht und Kraft. Dann sind es noch einige wenige freie Schritte, und nun - endlich - ist es geglückt, und sind wir, wie in einem Korb, in der kleinen Grube des steinmannlosen Gipfels des Poncione di Picol, der auch keinerlei Zeichen eines Trian-gulationspunktes trägt.

Freudig danke ich meinem Kameraden; es ist nicht von ferne seine Schuld, dass wir erst im dritten gemeinsamen Versuch Erfolg hatten und unser Ziel erreichten. Das vieljährige Bemühen ist auch kein Mass der Schwierigkeit des Berges, sondern nur die Folge meiner bescheidenen Kletterkünste. Doch alles ist ja relativ, auch der « Sturm im Wasserglas » kann von kleineren Lebewesen Mut verlangen und ihnen Gefahr und Tod bedeuten.

Ein starker, kalter Wind schwächt die noch hochstehende Sonne empfindlich. Schon bei der Zwischenrast am Brunnen von Fornà hatte ich richtig geschlottert - im Schütze der Gipfelgrube aber und im Banne der umfassenden Rundsicht achte ich es nicht mehr.

Es sind ja acht Jahre her, dass von dort drüben, vom nahen Pne Rosso, am 27. September 1946, diese eigenartige Felsenkrone, auf der wir nun stehen, sich gewissermassen in den Weg stellte und mein Werben um den Pne di Picol begann. Er hat es mir nicht leicht gemacht und wieder und wieder abweisend die « kalte Schulter » gezeigt. Zwei der vergeblichen Anläufe, und zwar diejenigen im Alleingang, könnte ich zur Not dem « Clubführer durch die Tessiner Alpen » ankreiden. Dort heisst es Seite 323 der zweiten Auflage 1931:

460. Poncione del Picollo, 2440 m.

Triangulationspunkt. Südgipfel des Poncione dei Laghetti. Sehr lohnend und leicht.

SACJ XXXVIII, pag. 111 und 114. Tourenbuch 1906.

avon der Val di Lodrino.

Von der Alpe Laghetti steigt man zunächst nach links zu einem ebenen Weideplatz auf, dann rechts haltend das Tal hinauf, worauf man zur Einsattelung zwischen dem Poncione dei Laghetti und dem Poncione del Picollo gelangt. Von hier über den Grat zum Gipfel.

bvon der Valle di Carecchio.

Von den Monti della Valle ( Route 452 ) führt ein Fussweg zu den Monti Piano di Nice hinauf. Man folgt nun einem kleinen, manchmal sich verlierenden Fussweg, zuerst am rechten, dann am linken Ufer des Wildbaches ( im Sinne des Flusslaufes ), welcher von der Laghettigruppe herabkommt und gelangt über Weiden und Geröll zum Sattel zwischen Poncione dei Laghetti und Poncione del Picollo und dann über den Grat auf den Gipfel.

In Heft 11 der « Alpen » 1954 habe ich Herkunft und Grund der irreführenden Bezeichnungen « Triangulationspunkt » und « leicht » dargelegt. Beide Attribute gelten nur für den Pne dei Laghetti und sind versehentlich und nicht der Wirklichkeit entsprechend, beim heutigen Pne di Picol verblieben. Statt des « über den Grat zum Gipfel » sollte es im Clubführer heissen:

Von der Laghetti-Einsattelung traversiert man auf schmalen Bändern, zuerst leicht absteigend und dann horizontal, bis gegen die Mitte der Westwand und steigt von dort in der Fallirne steil zum grossen Blockfelsen des Gipfels, der auf seiner Nord- und Südseite etwas Kletterarbeit verlangt.

Genau genommen, war ich schon einen Monat vor der Pne-Rosso-Tour, dem Picol tatsächlich zum Greifen nahe gewesen, als ich am 24. August 1946 meinen schweren Rucksack auf dem Sattel zwischen Laghetti und Picol deponierte. Aber damals galt mein Trachten nur der Ganzheit des Val di Lodrino und gegen die Faszination eines Pne Rosso und der massigen Pne del Vanno und Cma di Precastello - alle drei noch auf meinem Wunschzettel - konnte sich der Picol nicht durchsetzen. Wie zumindest gleichwertig aber dieser Berg in der Dreiergruppe Vanno Laghetti und Picol ist, zeigt auch ihr Bild von Seen da vacche, vom Visghedo und wieder von Redriscio ob Mergoscia.

Man schrieb den 15. Juni 1949, als Heinrich Schmid, der heutige Piz-Kesch-Hüttenwart, und ich im Übergang aus der Val Drosina in die Val Carecchio—noch auf des Clubführers « Triangulationspunkt, sehr lohnend und leicht » vertrauend - den Picol gewissermassen im Vorbeigehen « pflücken » wollten. Wir hatten in der Alpe Piotta im Schlafsack genächtigt und drängten nun sorglos in leichtfertiger Unterschätzung direkt gegen den Gipfel. Mehr und mehr lag die Fuorcla Drosina, wenn auch in zweifelsfreier Reichweite, zu unserer Linken, aber ebenso löste sich mehr und mehr der Steilhang zum Picol in Stufen und dann in zyklopische Felsen auf, von denen jeder einzelne zu einer solchen Knacknuss wurde, dass wir schliesslich die « en-passant »-Variante als Fehlrechnung akzeptieren mussten. Im Abstieg nach Fornà traversierten wir dann auf der Westseite des Picol bis gegen den Passo Laghetti hinüber, um für ein nächstes Mal zu rekognoszieren — denn wir werden wiederkommen!

Doch vergingen volle drei Jahre, bis es - diesmal von Lavertezzo her - wieder so weit war! Im späteren Nachmittag des 12. Juni 1952 schien uns noch Zeit genug zu verbleiben, um von Fumegna sotto zur Fuorcla Lodrino und von dort - wenn schon denn schon - über ein luftiges Felsenleiter-chen und den anschliessenden harmlosen, aber langen Nordgrat zur Cma di Precastello, 2350 m, zu gelangen. Vom Picol war nichts zu sehen, Vanno und Laghetti schirmten ihn vollständig ab. Die Dämmerung war zudem mittlerweile so weit vorgeschritten, dass wir unsere « Einlage » mit einem Blinde-Kuh-Abstieg in die Pincascia und einem gehetzten Wiederaufstieg nach Fumegna bezahlen mussten. In tiefer Nacht kamen wir zu unserem Heustadel zurück, wo der Senne in Besorgnis über unser Verbleiben wartete. Diese Art Precastello und ein kurzer unruhiger Schlummer war noch in meinen Knochen, als wir beim ersten Morgengrauen auf den Spuren des verwachsenen und zerfallenen Wegleins zur Alpe Cornavosa hinüberwechselten und dann über weite Schneefelder den Westkamm des Vanno erreichten. Hinter diesem Grat, einzig durch die Mulde der Alpe Fornà von ihm getrennt, erwächst uns im klaren Sonnenlicht des jungen Tages in eindringlicher Ausschliess-lichkeit der Picol. Wie eine harte, trotzige Stirn wirft sich seine Nordflanke auf, und wie Hermelin schlingt sich Schnee um seine stolze Felsenkrone und franst über seine Schultern hernieder. Ei, da seid ihr ja wieder, stranieri, was wollt ihr eigentlich? scheint er zu fragen und - sonderbar - wir fühlen uns nicht allzu siegessicher und bedauern, kein Seil mit uns zu haben.

Die Querung zum Passo Laghetti über sehr abschüssige, noch von abrutschgefährdetem Frühlingsschnee bedeckte Grasplanken erfordert Vorsicht. Vom Sattel geht es dann exponiert, fast horizontal bis in die Mitte der Westwand, deren Steilheit noch zunimmt Wir halten Rat, denn wir wissen es beide auch unausgesprochen, intuitiv aus langer Bergerfahrung: entweder geht es hier hinauf, oder wir müssen zurück. Die Unübersichtlichkeit der jähen, schneedurchsetzten Wand, die er in Verantwortlichkeit ohne Seil vor sich hat und sicher auch eine Müde meinerseits, deren er gewahr sein mag, lasten offensichtlich auf dem Führer. Zögernd und mit gedämpfter Stimme empfiehlt er, dessen ruhigen Mut und Selbstsicherheit, dessen Ausdauer und Können ich kenne, dass wir unter den gegebenen Verhältnissen verzichten sollten, und ich bin - ich muss gestehen - auch auf die Gefahr hin, meinen lieben Kameraden zu enttäuschen - sofort einverstanden.

Schweigend kehren wir zum Laghetti-Sattel zurück. Fast bedrückt, lustlos und zerfahren, wie wenn uns auch innerlich nichts verbände, aber um doch wenigstens dem Tag einen positiveren Inhalt zu geben, steigen wir durch den Südhang des Pne del Vanno zu seinem Gipfel, 2477 m, auf. Hinüberblickend, unsere Lage und unser Tun am Picol analysierend und abwägend, scheint uns unser Verhalten doch richtig gewesen zu sein. Das Hinunterturnen über den schönen Vanno-West-grat vertreibt dann schliesslich auch den Rest von Bitterkeit; wir haben uns wieder gefunden.

Über die malerisch gelegene Alpe del Bosco, wo wir ausgiebig Siesta pflegen, kommen wir direkt zur Alpe Pincascia. Wieder war uns der Picol entschlüpft, aber er hat uns doch zu der Fuorcla Drosina auch die Cma di Precastello und den Pne del Vanno, die ich führerlos nicht angegangen wäre, als Trost und Aufmunterungspreis geschenkt.

Wie der Refrain eines Schlagers kreist in mir: « Triangulationspunkt, sehr lohnend und leicht. » Ja, das sollte ich doch auch noch auf eigene Faust fertigbringen, und zwar um so mehr, als diese beiden ersten Versuche mit dem Führer die West- und Südseite des Picol als nicht konform ausgeschieden hatten und somit die Angaben des Clubführers auf die bisher nicht beachtete Ostflanke zutreffen dürften. In Ungeduld und « Gwunder » setzte ich einen Monat später, am 14. Juli 1952, erneut an.

Die Alpe Vercasca, 1642 m, wird mein « Basislager ». Der ganze Unterschied dieses Alpnamens gegenüber Verzascatal liegt in c statt z. Sind beide Worte ursprünglich wohl gleich gewesen und bedeuten das gleiche? Sind sie, nach der asca-Endung zu schliessen, auch zur selben ( ligurisch-etruskischen ) Zeit geformt worden und wäre auch das ein Beleg, wie früh und hoch in diese schwer zugänglichen, dafür aber auch abseits und ferne der Kriegszüge sicheren Seitentäler, jenes Volk seine Alpwirtschaft trieb?

Vercasca ist mir nicht fremd; hier hatte mir sechs Jahre zuvor der « Barbarossa » alpigiano Luigi Biasca liebe Gastfreundschaft erwiesen. Wie ist das eine kleine Welt; nur wenig später lernte ich in GerraVal Verzasca seinen Bruder, den curato Don Biasca, kennen und nun - ob ihr es glauben wollt oder nicht - da ich diesen Sonntagmorgen bei der wunderbaren Quelle von Drosina sotto raste, kommen zwei junge, Edelweiss suchende Tessiner heran, von denen der eine sich ausgerechnet als ein weiterer der Brüder Biasca erweist. Vercasca sei seit zwei Jahren nicht mehr bestossen, erklärte er, aber ich könne dort nächtigen. In der Tat ist der Weg schon stark verwachsen und die Hütten irgendwie verwahrlost, brach und vereinsamt. In einem kleinen Nebengaden aber ist ein gutes, wenn auch knappes Heulager und, wie mir scheint, ein noch intaktes Steindach. Ich richte mich gleich ein wenig für die Nacht ein und gehe dann hinüber zur grossen schönen Cascina, mache dort den Steintisch vom Staube frei und bereite mir mit dem Borde eine nahrhafte heisse Ovo. Das Wetter verschlimmert sich leider zusehends, in der Nacht weckt mich ein starkes Gewitter, glücklicherweise hält wenigstens das Dach einigermassen dicht. Am Morgen fällt unaufhörlich Regen aus tiefliegenden, alles verhüllenden nebelartigen Wolken; der Picol zeigt sich überhaupt nicht; er hat die Tarnkappe übergezogen. Vollständig « bagnato » komme ich zur Alpe Nuovo zurück, wo ich die Schuhe leer schütte und Strümpfe und Kleider auswinde. Beim Wegmacher Mario Foresti in Dureda kassiere ich mit Genuss den mir am Vortage offerierten Nostrano und überlasse ihm dafür zu meiner « Erleichterung » meinen Proviant. Noch sind es dann gute zwei Stunden bis zum Bahnhof Osogna.

Schon acht Tage später wiederholte ich das ganze Vercasca-Picol-Dispositif da capo: 6.05 Uhr ab Zürich, Anschluss in Bellenz für Osogna, über den Tessinfluss und die vertraute Ebene nach Lodrino hinüber, in der ersten Kehre des am Berghang ansteigenden Talweges Tenuewechsel. Foresti ist nicht mehr in Dureda, aber im Krachen vor der Alpe Nuovo, wo er mir das gute Quell- wasser gezeigt hatte, gesellt sich wieder ein Wanderer zu mir, er ist mit einem Sträusslein Edelweiss und einem Körbchen voll Beeren für seine Frau bereits auf dem Rückweg ins Tal begriffen. Bergleidenschaft und Liebe zur Natur, wie sie mir in unseren fratelli oltre Gottardo über die Jahre in diesen mühevollen, wilden Tälern und Bergen oft entgegentrat, haben ihn vor Tagesanbruch nicht mehr ruhen lassen. Er soll es nicht merken, dass ich seine Armut sehe, seine Schuhsohlen halten nur noch mit Schnüren am Oberteil. Doch das zählt nicht, wir fühlen uns gleichartig und verbunden. Wir teilen unser Essen, und ich stecke mir eines seiner Edelweiss an den Hut... Wie brannte Hand in Hand!

Vor dem steilen Aufstieg nach Vercasca hole ich auf dem altersgrauen Steinbrücklein über den Fluss eine Stunde Schlaf nach und sammle dann zum Dessert in Vercasca im Gehen entlang des Pfades einen Schüttelbecher voll Himbeeren. Cascina und Lager sind noch genauso, wie ich sie vor acht Tagen zurückgelassen habe; kein Mensch war hier in der Zwischenzeit. Bald bin ich bereit für die Nachtruhe. Die Stille und der Frieden der Alp verlocken mich aber noch zu einem Spaziergang hinüber zu der kleinen blumigen Terrasse am Ostausläufer des Laghetti, der gegen Matro abfällt. Tief unten liegt meine Hexenwiese von Mercori, und über ihr ragt die Silhouette der Rosso-Pyra-mide in den Abendhimmel.

Um etwa 20.00 Uhr bin ich im Schlafsack und sinke rasch in Schlaf. In der Nacht rauschen Gewitter und lärmt Donner, doch der Morgen ist wieder klar, wenn auch ohne Sonne. Auf dem Steintisch vor der Cascina koche ich mir Tee. Derweil erscheint am Gegenhang von Matro her ein grosser Geissbock; misstrauisch schaut er mir zu und trottet dann davon. Ich sehe ihn später wieder auf der Alpe Laghetti, zu der ich vorerst aufsteige, um die Picol-Ostwand näher zu studieren. Die Prüfung ist bald erledigt; diese hohe, fast vertikale Felswand kann ich für mich sofort abschreiben. Nun traversiere ich trotz rapider Wetterverschlechterung - schon bilden sich Nebelschwaden - etwas absteigend zur Alpe da Picol; der auch in der neuen Karte noch angegebene Fussweg ist ganz verschwunden. Fragend und suchend blicke ich zum Picol auf, um den ich nun die ganzen 360° gekreist bin; der Südost-Aufstieg von hier scheint wohl möglich, aber sicher ist er nicht « leicht », und ich muss unverrichteter Dinge zurück. Von der Cascina auf Vercasca strebe ich pausenlos in 4 %z Stunden nach Osogna.

Wieder bin ich um eine Picol-Illusion ärmer, doch endgültig auch um die Erkenntnis reicher, dass es dort sein muss, wo Schmid und ich das zweite Mal angesetzt haben, dass aber ein Seil - auf jeden Fall für mich - nötig ist.

Aber heute, mein lieber Picol, am 13. Juli 1954 schloss sich die Schlinge; auch kein trügerischer abweisender Schnee war da, um dich zu schützen. Wir gingen mit Wollen, Kraft und Seil gerüstet, ohne jeden Umweg auf dich zu. Signor Storni brachte uns mit der 5.50-Uhr-Post von Frasco nach Lavertezzo. Über Rancone, Rodano, Valdo, entlang der Wasserpracht der Carrechia, dann Garet und Fornà erreichten wir nach fast 2000 m Höhendifferenz den Gipfel ins 6 Stunden. Diesmal machten wir ganze Sache, stiegen gar nicht zum Passe auf, sondern seilten gleich ganz unten am Fusse der Nordwand an, und bei der « Umkehr»-stelle vom 12. Juni 1952 gab es kein Zögern.

Poncione di Picol, stolzer, kleiner Berg, nun hast du Ruhe vor mir. Jedes Ding hat seine Zeit. Doch in stiller Stunde sind meine Gedanken immer etwa auch bei dir.

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