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Bei Mondschein über den Grépon

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Mit 2 SkizzenVon Heinrich Nyffenegger

( Bern ) Wieder nicht! Eben schreibt mir mein Freund, sein Urlaub sei verschoben worden. So können wir also auch dieses Jahr nicht zusammen ins Mont-Blanc-Gebiet ziehen. Und ich wäre doch so gerne endlich einmal dem Grépon auf den schmalen Rücken geklettert. Ich habe den Grépon noch nie gesehen — und doch ist er mir vertraut. Er gehörte schon längst zu meinen Träumen und Wünschen. Eine Beschreibung einer Gréponbesteigung hatte mich einst so begeistert, dass ich seither ein Gréponfanatiker geworden bin. Ich las alles, was ich über ihn finden konnte, studierte alle Bilder, die mir erreichbar waren, so dass ich nach und nach so weit kam, dass ich bald nicht mehr wusste, war ich eigentlich schon oben oder nicht. Nun können wir also auch dieses Jahr nicht zusammen hingehen, nächstes Jahr vielleicht, und so beschloss ich halt, allein nach Chamonix zu reisen und wenigstens ein wenig an ihm herumzuschnüffeln. Das tat ich auch, und einmal in seiner Nähe, schlich ich um ihn herum wie die Katze um den heissen Brei. Erst spionierte ich ihn durch Fernrohr und Feldstecher aus, dann zog es mich näher an ihn heran — so nahe als ein Alleingänger es wagen darf. Er ist aber auch wirklich ein Kerl, der stolz sein darf auf sein Aussehen: eine hohe Mauer, deren Krone die Wolken küsst. Nun! Einmal wurde ich unvorsichtig. Trotzdem es mir bewusst war, einen Blödsinn zu machen, wagte ich mich allein über den Nantillongletscher hinauf — näher zu ihm hin. Einmal dort, ging es mir wie dem Trinker, ich konnte nicht mehr bremsen. Ich schlich durch das Anstiegcouloir, das den Grépon von seiner ebenso schroffen Nachbarin, der Aiguille de Charmoz, trennt. « Nur ein wenig probieren... » und so stand ich bald am Fusse des ersten grossen Fragezeichens, des ersten schwierigen Bollwerkes, mit dem sich der Grépon so unzugänglich macht. Es war der Mummeryriss. Selbstverständlich war mir sein Aussehen, die Tricks zu seiner Eroberung, längst aus Bildern und Literatur bekannt — aber wie es so geht, Theorie und Praxis sind oft ein wenig weit auseinander. Jetzt, angesichts der Wirklichkeit, schlüpfte mir doch fast das Herz aus den Hosen. Wie oft hatte ich geträumt, wachend geträumt -natürlich, wie ich mit Schneid und Schwung den Riss bemeistern würde. Seiner Erstersteiger würdig. Der Engländer Mummery und seine Führer Venetz und Burgener hatten diese Möglichkeit entdeckt, und so heisst nun eben dieser Crac, Mummery zu Ehren, seit 1885: Mummeryriss.

Soll ich oder soll ich nicht? Ein kleines Musterehen könnte nicht schaden, da ich doch gerade so nahe dem Ziel meiner Träume bin. Also los! Ich zwängte mich im Riss empor. Genau nach Vorschrift, den rechten Arm und das rechte Bein in den Riss hineinbohrend, mit Hosen, Schuhen und dem ganzen Rest von Mensch nach Halt und Reibung suchend. Und ebenso nach Vorschrift schnaufte ich bald wie ein Dampfschiff; es schien mir, man sollte es in Chamonix unten hören. Doch der grosse Alpinist wurde bald Die Alpen - 1947 - Les Alpes21 BEI MONDSCHEIN ÜBER DEN GREPON klein und hässlich. Drei Meter fünfzig mögen es gewesen sein, als mir Schnauf und Mut ausgegangen waren. Zurück, war die einzige Hoffnung auf Rettung. Doch ist der Mummeryriss sozusagen eine Einbahnstrasse, man traversiert ja den Grépon fast immer, steigt hier hinauf und überklettert seine Türme, um auf der andern Seite in langen Abseilstrecken wieder auf dem Nantillongletscher zu landen. Nun, es rächt sich immer, wenn man die Ver- kehrsvorschriften nicht einhält. Auch wenn kein Polizist in der Nähe ist. Und wie froh wäre ich nun um einen Polizisten, denn mein rechtes Bein versank ins Unergründliche des Mummeryrisses, verkeilte sich dort und war nicht mehr dazu zu bringen, sich zu bewegen. Ich zog und quälte mich, vergeblich. Es blieb. Meine Hände ermüdeten, bald lastete das ganze Gewicht auf diesem eingequetschten Bein eines Verkehrssünders. Wie kann man nur! Ach hätte ich doch !!!... Und als die Schmerzen nicht mehr zum Aushalten waren, schrie ich um Hilfe. Auch das war vergeblich, wer mochte auch so spät am Nachmittag am Grépon herumkrabbeln. Der Schmerz hat oft auch sein Gutes. Er machte mich rasend. Und Rasende haben übermenschliche Kräfte. Und diese übermenschlichen Kräfte, begleitet von noch übermenschlicheren Schmerzen, brachten mein Bein doch endlich ans Tageslicht. Erschöpft rutschte ich den Rest des Mummeryrisses herunter, einer Ohnmacht nahe. Wie lange ich so gesäuselt hatte, konnte ich nicht ermessen, ich stellte nur später fest, dass es mir ordentlich besser ging und dass ausser etwas steifen Gefühlen keine weiteren Schäden da waren. Aber auch, dass Abend war, musste ich bemerken, und zwar später Abend. Ein Zurück durch das nun gefrorene Couloir war für heute ausgeschlossen. So endete kläglich, was ich so heldenhaft geträumt hatte. Nun, ich fand bald wieder die nötige Vernunft. Also ein Biwak. Eigentlich freute ich mich darauf. Diese Biwaks sind zwar alle gleich: eine Mischung von Romantik, Frieren und vielen Schlucken aus der Feldflasche und insbesondere voller Sehnsucht nach der Morgensonne. Nachdem ich meine wenigen Vorräte zwecks Kräftigung mir einverleibt hatte, wickelte ich mich in meinen dünnen Regenmantel und begann also frohen Mutes dieses Biwak.

Ich schlief bald ein dank meiner vergangenen Schwerarbeit am Mummeryriss. Ein Gerumpel weckte mich plötzlich. Natürlich musste ich mich erst umsehen und klar werden über meine Situation. Aha, Steinschlag! Wieder fiel ein Stein ins Couloir unter mir. Keine Gefahr für mich also! Da schien es mir, als hörte ich jemanden keuchen. Ja, wirklich, da kommt einer daher. Nein! es ist ein Nebelfetzen. Und doch? Jetzt hörte ich wieder deutlich schnaufen. Und der Nebel schien wieder ein Tourist zu sein, weiss im Mondlicht. Plötzlich wurde es mir klar: eine Rettungskolonne! Man hat mich also doch gehört, gesehen oder bemerkt, dass ich im Hotel fehlte. « Hallo! » rief ich nun. « Hallo! » kam 's zurück. Es war mir nicht wohl, wegen der Blamage und auch — ach — wegen den Kosten. Man kennt ja diese Rechnungen. Die Leute kamen näher. « Aber es war ja nur einer. » Wieder kam mir die Sache spanisch vor. Der Mann, der da daher kam, war weiss bekleidet. Als er näher kam, schien er aus Nebel zu sein. Ja, jetzt sah ich deutlich durch ihn hindurch. Mir schauderte. Ein Gespenst! Bin ich ver- BEI MONDSCHEIN ÜBER DEN GREPON rückt geworden? Gespenster gibt es doch nicht! Träume ich? Ich kniff mich nun erst einmal gehörig dort, wo ich vom gestrigen Abenteuer noch heil geblieben war. Es funktionierte, es schmerzte —. Unterdessen war dieses Wesen heraufgestiegen, ging an mir vorbei und begann den Mummeryriss zu ersteigen. Und wie! Im Hui war es oben. Ich konnte nun deutlich sehen, was mich da erschreckte. Ein älterer Herr mit Bart, altmodisch gekleidet, kariertes Kleid. Es könnte ein Engländer sein aus der Zeit der alpinen Eroberungen vor 1900. Aber leider sah ich eben auch, dass er durchsichtig war. Das trug natürlich nicht zu meiner Beruhigung bei. Mein Herz ging auf hohen Touren. Ich bemerkte, dass ich zitterte — und in meinem letzten Rest von klarem Bewusstsein zweifelte ich an meinem Verstand, zweifelte ich, ob ich wach sei. Unterdessen war das Gespenst schon wieder im Abstieg. Aus dem Riss heraus grübelte es nun einen Gegenstand. Was sah icheinen Besen. Es fing an, den Riss zu wischen. Schnee und Steinchen flogen auf mich herab. Dabei rutschte es den Riss hinauf, hinunter, leicht und schnelleben wie ein Gespenst. Es schien gewichtslos zu sein. Der Besen wurde nun versorgt, und mit einem grossen Lappen rieb es die Felsen. Kein Zweifel, es staubte ab. Genau wie meine Frau am Samstag, wenn das Wetter zu Hause ungemütlich wird. Trotz meiner Angst musste ich nun laut lachen. Wahrscheinlich träumte ich doch. So deutlich habe ich meiner Lebtag nie geträumt. Das Gespenst musste mein Lachen gehört haben. Es stutzte, guckte hinunter. Als es mich sah, rief es fröhlich « good by » und rutschte zu mir herunter. Dann sprach es mich an, englisch. Da ich aber nicht englisch kann, stotterte ich verlegen etwas, ich weiss heute selbst nicht mehr was. Aber der alte Herr, freundlich und höflich, sprach nun deutsch: « Ach! Was machen Sie hier? » Ich stotterte: « Biwak. » « Ach so, Biwak. Darf ich mich vorstellen: Mummery. » Und dann drückte er mir seine neblige Hand. Es war nicht viel zu verspüren, etwas Unklares, weich, kalt und feucht. Kein Wunder, dass ich mich unwohl fühlte. Der freundliche Herr aus Nebel schien mein Zittern zu bemerken. « Entschuldigen Sie doch bitte meine Anwesenheit und mein Aussehen, aber seien Sie unbesorgt, ich bin oder, besser, ich war Mummery. Mummery, vielleicht haben Sie schon von mir gehört, ich bin der Entdecker dieses Risses. Und nun bin ich schon seit vielen Jahren tot. Gefährlich bin ich nicht, und wenn ich Ihnen auch aussergewöhnlich vorkomme, beruhigen Sie sich doch bitte. Ich bin nur alle Jahre eine Nacht lang Gespenst. Am Jahrestag meiner Erstersteigung des Grépons. Dann habe ich Urlaub und komme hieher, um nach dem Rechten zu sehen. Wissen Sie, ich möchte, dass alles sauber bleibt. Sauber vor allem vor Stiften und Drahtseilen. Ich war ein Alpinist der alten Technik, und ich möchte nicht, dass die Neuzeit mit der Schlosserei mein Werk verunstaltet. Darf ich Ihnen einen Schluck aus meiner Flasche offerieren? Das wird Ihnen helfen, über den Schreck hinüberzukommen Ich verstehe Sie ja, wirklich — es wäre mir ebenso ergangen seinerzeit. » Die Ruhe des Gespenstes wirkte nach und nach auf mich, ich wurde ruhiger. Freilich die Unklarheit, träume ich? bin ich wach? war nicht von mir gewichen, und da ich eben immer mehr dazu neigte, mich als wach zu betrachten, kann man verstehen, dass meine Ruhe noch auf schlechtem Boden war. Mister Mummery setzte sich nun zu mir und fing an, seinen Proviant zu essen, wobei er ganz besonders seiner Feldflasche grosse Beachtung schenkte. Als er sah, dass ich hungrig zuschaute, war er so nett, mit mir zu teilen. Ich überwand die Scheu, Gespensterspeck und -brot zu essen — und was da aus seiner Flasche floss, war erst recht dazu angetan, mir alle Hemmungen zu nehmen. Wohl eben darum wurde ich gesprächiger. Ich erzählte Mister Mummery von meiner vergeblichen Liebe zum Grépon; meine theoretischen Kenntnisse darüber setzten ihn in Erstaunen, und da wir also eine gemeinsame Liebe hatten, trug mir Mister Mummery das Du an. Schliesslich sagte er: « Weisst du was, komm doch mit mir über den Grépon. Gegen Tagesanbruch werden wir drüben sein, am obern Teil des Nantillongletschers. Dann muss ich dich verlassen, und du kannst in der Morgenfrühe gefahrlos den Gletscher hinabwandern. Ich freue mich, so nette Begleitung zu haben, und so kommst du doch einmal zum Ziele deiner Träume. » Freudig sagte ich zu, und schon packte Mummy das Seil aus, seilte mich kunstgerecht an und kletterte los. Nein, er rutschte; so wie ich den Riss rutschend herunterkam, so leicht ging er bergauf. Ich mit meinem fleischlichen Dasein hatte bedeutend mehr Mühe, obschon Mummy oben am Seil aus Leibeskräften zog. Nun, es ging, denn wenn mir auch viel fehlte zu einem grandiosen Alpinisten, so half doch die Liebe zum Objekt bedeutend nach. « Grossartig! » rief Mummy, als wir oben am Riss wieder beisammen waren. « Jetzt bin ich aber gespannt aufs Kanonenloch! » rief ich, und ich bemerkte, wie selig Mummy lächelte, wenn ich meine Kenntnisse des Berges zum besten gab. Auf Bändern ging es nun in ein Couloir und durch ein Loch im Felsen, eben durchs « Kanonenloch », hinein in die Wand, die zum Mer de Glace hinunterfällt. Hier musste ich mich erst ein wenig fassen. Die ungeheure Tiefe unter mir, die furchtbar steile Wand, in die Mummy nach oben deutete, frass wieder an meinen Nerven. « Da, nimm noch einen gehörigen Schluck, dann wird es wieder besser gehen », sagte Mummy, klopfte mir freundschaftlich auf die Achseln, und dann ging er wieder voraus. Wirklich, es ging besser. Wie schon gesagt, es war aber auch ein guter Trunk, den Mummy da aus-schenkte, und im Weiterklettern kam mir auch in den Sinn, dass eigentlich nach hiesigem Dasein, also nach menschlichem Ermessen, die Flasche längst hätte leer sein sollen, nach dem, was wir beide schon daraus geschöpft hatten. Da mich aber bald die Kletterei in Anspruch nahm, vergass ich dieses Thema bald wieder. Es war vielleicht ganz gut so, wegen meinen Nerven. Ich sah auch, wie sicher Mummy kletterte, und als er mir versicherte, dass ihm als Gespenst unmöglich etwas passieren könne, fand auch ich in mir eine Sicherheit, die ich mir gar nie zugetraut hätte. Es war aber auch nötig, als wir bald darauf um die Ecke bogen. Ich habe ja viel gelesen vom Râteau de Chèvre; aber die Wirklichkeit übersteigt ja immer das, was man sich vorstellt. Obschon ich auch diese Kalkulation immer in meine Vorstellungen einbezogen hatte, war ich doch platt. Das ist ja Wahnsinn. Ein schmales Band, kaum 20 cm breit, leicht ansteigend durch die glatte Wand, die 800 m zum Nantillongletscher hinunterflieht. Trotz meiner vorhin aufgemunterten Zuversicht musste ich Mummys nie versiegbare Flasche nochmals zu Hilfe nehmen. « Nun los. » Schon war Mummy wie ein Seiltänzer auf dem Bande, aufrecht gehend, mit den Händen sich leicht an die grifflose Wand stützend. Als er etwa 5 Meter weit in die Wand hinausgebummelt war, blieb er stehen und erklärte mir, auf welche Art man dieses Band durchklettern könne. Mir wäre es lieber gewesen, er wäre weitergewandert, ich konnte ihn kaum mehr ansehen, über diesem schauerlichen Abgrund stehend. Ich musste ihn daraufhin bitten, weiterzugehen, was Mummy fröhlich lachend tat. Bald rief er mir zu, die Reihe war an mir. Eigentlich, dachte ich, wäre diese Stelle ein Kinderspiel für einen Kletterer, wenn das Band einen Meter über dem flachen Boden stünde. Nur der Abgrund darunter macht diese Angelegenheit zu einer Nervenkrise. Damit suchte ich mich zu überreden, die Angst zu verdrängen. Es gelang mir oberflächlich, im Untergrund aber schwelte die « bodenlose » Angst. Ich versuchte also, den Abgrund zu ignorieren, blickte starr an die Mauer vor mir oder notdürftig auf das Band, die Tritte suchend für meinen Weg. Aber, hier sah ich wieder einmal, woraus eigentlich der Genuss des Kletterns besteht. Trotz der Angst wäre das Band ohne Tiefe für mich eben wertlos. Und so guckte ich halt frech ins Bodenlose. Aber nur schnell, es genügte. Salz genug in der Suppe, und krampfhaft, mich für drei haltend, kletterte ich weiter. Aufgeregt kam ich oben an. Mein Herz pochte. Sicher vor Angst und Vergnügen zusammen. Und Mummy grinste wieder. Weiter nun. Auf einem Gipfelturm machte Mummy halt. Er wurde ganz still und blickte wehmütig in die Ferne. Nun sah ich auch das erste Mal die schöne Aussicht. Vom klaren Mondenschein das Romantische ins Unermessliche gesteigert. Bis hier hatte ich vor lauter Grépon-fanatismus kaum einen Blick nebenaus getan. Nun, ich bereute es nicht. Die Eindrücke kamen jetzt in doppelter Kraft über mich. So wie Freund Mummy konnte ich mich aber nicht erfreuen. Neben dem herrlichen Geniessen lastete in meiner Seele die Ungewissheit des Weiterweges. Ich drängte weiter. Ich musste nun voran, mich vom « Grand Diable » abseilen. Etwa 20 Meter an senkrechter Wand, in eine Lücke, deren Bodenlosigkeit dem Râteau nicht nachstand. Mummy wollte sofort nachkommen. « Mummy, kannst du einige Minuten stillstehen? Ich möchte den Turm mit dir knipsen. » Mummy war bereit, worauf ich mit grosser Mühe den Apparat auf einem Blocke festzulegen versuchte und dann losdrückte. Ich zählte ihm die Sekunden vor, um ihm die Zeit nicht lang werden zu lassen. « Mach nur », rief er, « ich geniesse unterdessen die Aussicht. » « Fünfzehn Sekunden, dreissig — eine Minute — Geduld — zwei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten », worauf ich die Belichtung als genügend betrachtete. « Wenn dieses Bild nur gut herauskommt I » Bald war Mummy bei mir, Gespenster scheinen gute Turner zu sein. Das sagenhafte Band « Route aux Bicyclettes » wurde nun überschritten — wie oft war ich schon in Gedanken da — und wie viele Erlebnisse von andern sind mir ja bekannt. Hier hat doch mein Freund Pellaton mit seiner Frau biwakiert. Auch bei hellem Mondenschein. Ich hatte leider wenig Zeit, um mich diesen Betrachtungen zu widmen. Schon sauste Mummy dem Gipfel zu. Ja, er sauste wirklich. Solch einem Tempo darf man nicht mehr « Klettern » sagen. Man sah ihm an, wie sehr er Langezeit nach dem Grépon hatte. Es war ein giftiger Riss, der da im Gipfelturm eingekerbt war. Von Mummy gesichert, kam auch ich hinauf. Nicht gerade heldenhaft — ich klammerte mich mit allen Extremitäten, mit Bauch, Hals und Kopf an die Felsen, kurz, ich machte mich stellenweise fast zu Leim. Um vorwärts zu kommen, musste ich jedoch hie und da den Leim lösen, was jedesmal grosse Aufregung verursachte. Mummy war wunderbar. Er tat, als sähe er mein klägliches Klettern gar nicht. Zur Ermutigung sang er ein fröhliches Lied: « Is a long way... » Ich kam also doch oben an. Zehn Minuten brauchte ich, bis der Schnauf wieder ein anständiges Tempo hatte, bis Herz und Nerven wieder so weit waren, dass ich mich der Umgebung widmen konnte. Genau so hatte ich sie mir vorgestellt. Auf einer grossen Felsplatte, die auf die Gipfelnadel gelegt ist, sassen wir nun wie auf einem Tisch auf dem Gipfel des Grépons. An Stelle eines Steinmannli steht da in Wind und Wetter eine metallene Madonna. Also doch! Erfüllt sich mein sehnlichster Wunsch, der seit vielen Jahren mir am Herzen lag. Die Aussicht war noch schöner und freier als auf dem Diable. Und als nun gar Mummy erzählte, wie er einst vor Jahren diesen und jenen Gipfel bezwungen hatte, und von seinen Führern berichtete, da fanden die umliegenden Berge noch weit mehr Interesse. Sie wurden zu beseelten Objekten. Kein Wunder, dass ich so meine Ruhe wieder fand und mich vollkommenem Genüsse hingeben konnte. Ich war wieder der alte — ein Beweis: ich zog aus meinem Rucksack meine Stumpen hervor. Als Mummy das sah, wurde er plötzlich still. Seine Schwärmerei war zu Ende, unverwandt blickte er auf das Päckli Schweizer Stumpen. « Bediene dich doch, wenn du Lust hast », sagte ich — als ich sah, wie sehr es ihn gelüstete. « Oh, oh », hörte ich nur, und schon pafften wir beide los. Ich wunderte mich, wie unglaublich Mummy an dem Stumpen Freude hatte. « Ja », erklärte er mir, « den Grépon sehe ich wenigstens alle Jahre einmal, aber dass das Glück mir noch einen Stumpen darreicht, das ist bis heute noch nie passiert. Die Stumpen lernte ich von meinen Führern kennen, die mich zu einem leidenschaftlichen Stumpengeniesser machten. » Friedlich lag die Welt da. Unter uns war nichts zu sehen als unser Tisch aus Fels, ringsum die Gletscher, in der Ferne die Berge und über uns BEI MONDSCHEIN ÜBER DEN GRÉPON der schwarzblaue Himmel Alles versilbert vom Mondlicht. Wer kann sich eine schönere Gipfelstunde vorstellen? Die Räuchlein verzogen sich im nächtlichen Himmel Die Ruhe wurde unterbrochen, als ich nun Mummy die Berge erklärte. Ja, auch ich konnte ihm Sachen berichten, von denen er keine Ahnung hatte. Dass die Nordwand der Grandes Jorasses bezwungen sei. Es schien mir, als ob Mummy erbleichte. Er sagte nicht viel, er stammelte nur etwas. Ich verstand — sicher gehörte diese einst auch zu seinen Plänen. Neue Routen am Mont Blanc — neue Routen ringsherum. Auch hier am Grépon war ja die Ostwand schon oft durchklettert worden. « Ja, mein lieber Mummy, so geht 's, die Welt steht nicht still. » Hier kam mir in den Sinn, dass er eigentlich auch nichts wissen könne von der Geschichte unserer herrlichen Erde, von den Weltkriegen, von der Eroberung der Luft und gar von der Atombombe. Nein! Ich schwieg. Grad eben leuchtete der Mont Blanc so schön durch den Mummy hindurch. Licht und Schatten, durch den gespenstischen Nebel filtriert, ein überirdischer Anblick, noch nie sah ich etwas so Schönes. « Meine Uhr wird bald ablaufen... » Mummys Stimme weckte mich aus meinem Geniessen. Und schon machte er das Seil zurecht. Die Madonna wurde als Abseilblock benützt.

Eine Entwürdigung? Nein, ich Grand Diable mit « Mummy » glaube nicht. Sie freut sich doch gewiss, den Bergsteigern als Halt zu dienen. Nun musste ich als Erster in den Abgrund schweben. Am doppelten Seil, von Mummy gesichert — reinster Genuss. Auf einem Band hatte ich Befehl zu warten. Mummy — in gewohntem Flug, war bald da. Ein leichter Riss wieder hinauf. War er leicht? Ich weiss es nicht. Man lernt wohl manches während einer Greponüberschreitung. Dann ging 's wieder in die Tiefe. Seillänge um Seillänge, dann ein kitzliger Gegenanstieg, und auf einem Höcker erklärte mir Mummy, hier sei die Kletterei zu Ende. Er war wortkarg. Als er das Seil zusammenrollte, sah ich, dass Nebeltropfen aus seinen Augen flössen. « Bald wird es Tag », sagte er, « da muss ich zurück sein. » Wo zurück?

BEI MONDSCHEIN ÜBER DEN GRÉPON'dachte ich; doch ich getraute mich nicht, zu fragen. Noch heute nach Monaten bereue ich es. Nun, Mummy reichte mir die Hand. « Von hier aus ist es leicht, alle Schwierigkeiten sind vorbei. Du kannst ruhig allein absteigen, ich muss nun gehen. Lebewohl — komm wieder nächstes Jahr. » Ich fand keine Worte. Ich stammelte etwas vom Wetter. « Bei jedem Wetter », rief Mummy, « komm nur, du wirst es nie bereuen. Und noch etwas: vergiss nicht, Stumpen mitzubringen! » Damit verschwand er. Wie Nebel sich auflöst; so ging auch Mummy zurück in seine Ewigkeit.

In trauriger Stimmung stand ich da. Erst als ich so recht anfing zu frieren, fand ich mich wieder zurück zur Gegenwart. « Nun also. » Ich schaute mich um, stieg langsam die leichten Felsen und Schutthänge hinunter, und auch ich wischte eine Träne aus dem Auge. Als ich beinahe unten auf dem Gletscher war, verschwand der Mond, es wurde unangenehm dunkel. Bald muss der Tag anbrechen. Ich warte hier. Ich wickelte mich wieder in meinen Mantel, verzog mich in eine Ecke und genoss in Gedanken die vergangenen Stunden. Trotz der kühlen Temperatur schlief ich ein. Ich erwachte erst, als mich eine angenehme Wärme umflutete. Die Sonne stand am Himmel. Es war Tag geworden. Wirklichkeit. Ich sage Wirklichkeit, denn die Erlebnisse dieser Nacht waren für mich auf einmal so unwirklich geworden. Habe ich denn geträumt? Aber nein, von da oben bin ich doch gekommen. Dort haben wir uns abgeseilt. Aber es gibt doch keine Gespenster! Nie in meinem Leben habe ich an solche geglaubt! Auch heute nicht. Ja, bin ich denn nicht mit einem solchen diese Nacht über den Grépon geklettert? Unmöglich! Oder habe ich nachtgewandelt? Mit traumwandlerischer Sicherheit? Ich- weiss es nicht, noch heute nicht, nach Monaten. Voller Gedanken ging ich den Nantillongletscher hinunter, ein Gemisch von Freude, Qual und Fragen in meinem Kopfe. Traum oder Wirklichkeit? Gespenst oder Nachtwandel? Heute noch weiss ich es nicht. Wie kam ich auf die andere Seite des Grépons? Doch ein Zeuge: Das Bild vom Grand Diable ist gut gelungen. Mummy als Nebelfleck. Aber niemand will wir 's glauben.

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