Bergeller Granit
Kurt Sterchi, Hofstetten-Brienz
Ob einer als Skitourist vom Piz Lunghin oder als Wanderer von Soglio aus in die Bergeller Berge blickt, immer wird er von der Badile-Nord-kante begeistert sein. Schon jahrelang war es mein Wunsch, diese Kante einmal begehen zu dürfen, und dieses Jahr sollte er Wirklichkeit werden.
Ernst, der kräftige Toggenburger, und Robi, ein guter Gänger aus Frauenfeld, sollen meine Seilkameraden sein. Ich treffe Robi in Wädenswil, und gemeinsam fahren wir nach Ebnat-Kappel. Hier bewirtet uns Helen, Ernsts Frau, und nach dem Mittagessen rösseln wir dem Engadin zu. Nach einem kurzen Kaffeehalt in Silvaplana geht 's via Maloja das Bergell hinunter nach Promotogno und über die Mera ins Dörflein Bondo. Hier kriege ich im « Ristorante » — glücklicherweise, wie sich noch herausstellen sollte - den Schlüssel für die Sass-Forä-Hütte. Bis nach Prä können wir nochmals unseren Opel besteigen. Nach dem üblichen Hin und Her, was mitnehmen, was dalassen, wandern wir in das Bondascatal hinein. Noch vor der Alp Lera erblicken wir hoch über dem herbstlich gefärbten Wald den Badile, eine wuchtige Kante, auf deren Besteigung wir uns freuen. Ist aber jeder mit sich selbst ehrlich, so müssen ihm die weissen Schneebänder und Rinnen, die sich weit den Berg hinunterziehen, doch zu denken geben. Wir wissen ja auch, dass es spät im Jahr ist, haben wir doch heute schon den 7. Oktober. Was tut es! Das herrliche Bild dieses Berges und seine Nähe aktiviert uns so, dass keiner von uns auch nur die geringsten Bedenken laut werden lässt.
Die Wegmarkierung weist uns nach rechts über den Bach. Von jetzt an wird « gespurtet ». Robi, der jüngste, kann uns aber nicht distanzieren, und in dreiviertel Stunden haben wir die guten 500 Höhenmeter überwunden - das Weg- lein ist natürlich auch entsprechend steil! Wie sind die beiden Seminaristinnen aus Uster froh, dass wir besagten Schlüssel, den ich in Bondo bekommen habe, aus dem Rucksack ziehen! Sie hätten sich zwar auch ohne uns zu helfen gewusst, sind die beiden doch schon damit beschäftigt, hinter der Hütte, an geschützter Stelle, ein Nachtlager herzurichten. Auch sprudelt bereits über dem Holzfeuer das Wasser, welches sie in einer Konservenbüchse zubereitet haben, um ihr Menü zu kochen. Bald brechen die Mädchen ihre Feuerstelle ab und kommen zu uns ins heimelige Hüttchen. Nach dem einfachen Nachtessen - Bernerplatte aus der Büchse - haben wir es noch gemütlich, singen zu fünft einige Lieder und legen uns bald zur Ruhe.
Wie gestern, so kündet sich auch heute ein wunderbarer Herbsttag an. Die beiden Zürche-rinnen schlafen noch, während wir die Hütte verlassen. Wir bummeln durch den lichten, rötlichen Lärchenwald an den Fuss der Kante. Die ersten, einfachen Seillängen klettern wir noch frei. Jetzt müssen wir feststellen, ob wir wollen oder nicht, dass auf der Nordseite die Felsen teilweise vereist sind. Sobald die Schwierigkeiten grösser werden, seilen wir uns an. Ernst ist Seilerster, ich Mittelmann, und Robi macht den Schluss. Wir kommen im gutgestuften, grobkörnigen Bergeller Granit sehr gut vorwärts und glauben immer noch, heute abend mindestens in der Gianettihütte auf dei Italienerseite nächtigen zu können. Mit zunehmender Höhe nehmen aber auch die Steilheit der Kante und der Schnee zu. Das erste Mal sehr schwierig und ausgesprochen fein wird das Überklettern der sogenannten Zürcherplatte. Hier wählt jeder eine andere Route, um das querende Band im oberen Teil zu überwinden. Ernst findet nur einen einzigen Felshaken im Schnee, wo er eine Zwischensicherung anbringen kann, so dass wir, 500 Meter über dem Bondascagletscher, sehr sorgfältig und sicher klettern.
Der Toggenburger steigt mit voller Adhäsion und Kraft in der Fallirne über die Kante. Ich quere leicht in die Nordostwand, und Robi ist der einzige, der, rechts umgehend ( richtiger Weg ), aber mit dem Neuschnee kämpfend, meinen Standplatz erreicht. Gegen 14 Uhr - wir haben noch lange nicht die Höhe erreicht, die wir uns vorgestellt haben - überlegen wir uns: hinauf oder hinunter? Einstimmig fällt die Entscheidung: hinauf! Glücklicherweise herrscht eine ausgezeichnete Wetterlage, so dass wir schon etwas wagen dürfen. Zudem sind wir in den Ferien, und es wartet am Abend niemand auf unsere Heimkehr. Bis jetzt sind wir im Schatten geklettert; während der nächsten zwei Stunden erwärmt uns die strahlende Herbstsonne die Glieder. Platten, Kanten und Verschneidungen wechseln in interessanter Folge ab. Erweist sich im Sommer bei trockenem Fels die Kletterei als ausgesprochen genussreich, so wird sie heute, am 8. Oktober, zur schwierigen und bedeutend heikleren Aufgabe, denn es liegt teilweise eine bis 20 Zentimeter dicke Neuschneeschicht. Ich staune aber immer wieder, mit welcher Gewandtheit und Ruhe Ernst diese schwierigen Stellen meistert.
Die Sonne ist auf ihrer Bahn schon stark nach Westen gerückt Langsam, langsam, während ich Robi nachsichere, beginnt sich in mir der « Biwakgedanke » zu regen. Wenn schon, dann natürlich erst oben auf dem Gipfel! Wir klettern weiter; die Kante legt sich leicht zurück. Immer wieder knietief im verharsteten Schnee einbrechend, überschreiten wir den Verbindungsgrat zum nächsten Steilaufschwung. Hier ist eine 40-Meter-Platte zu passieren, die überschneit und sehr glatt ist. Jeder gibt sich grosse Mühe, unter keinen Umständen einen Rutscher zu tun. Ernst hat wohl in einem Schneeloch eine Felsritze gefunden und einen Haken geschlagen — ein Sturz wäre aber gleichwohl nicht empfehlenswert. Wir befinden uns im letzten Kantendrittel unter dem grauen Gendarmen, der von der Sciorahütte aus gut sichtbar ist. Um 18 Uhr bestaunen wir das prächtige Farbenspiel des Sonnenuntergangs über den Walli- ser Alpen - die Aussicht auf eine Freiluftnacht begeistert bedeutend weniger! Gestern dämmerte es um 18.30 Uhr; es wird auch heute nicht länger Tag sein. Den Gendarmen umgehen wir halbrechts durch ein steiles, verschneites 40-Meter-Band hinauf. Ein alter Ringhaken im Schnee zeigt uns einen sicheren Standort -den Biwakplatz, denn die Sonne ist hinter dem Horizont verschwunden! Ernst klettert noch eine halbe Seillänge weiter, findet aber keinen geräumigeren Platz zum Nächtigen. Wir nehmen unsere bevorstehende Nacht erstaunlich gelassen und beginnen uns vorsichtig einzunisten und zu sichern. Hier in der Nordwestwand, 700 Meter über dem Trubinascagletscher, wird äusserst sorgfältig hantiert. Jeder schlägt zusätzlich einen Felshaken, der uns als « Garderobe » dient. Auch befindet sich über uns ein fester Granitblock, den wir als zusätzliche Sicherung benützen. So sind wir nun zuverlässig untergebracht, und das An- und Umkleiden kann beginnen. Ernst, der oberste von uns, sitzt und hängt an seinem Seil und einigen Reepschnur-stücken. Ich habe ein schneeiges Bödeli, das mit einem halben 40-Meter-Seil « ausgepolstert » wird. Robi bekommt die anderen 20 Meter, sitzt unter mir, den Kopf zwischen meinen Oberschenkeln. Als Dach dient Robi und mir mein Zimba-Combi. In dieser Lage schlottern wir manchmal dreistimmig! Das heisst, dazwischen versuchen wir endlich einmal etwas zu essen. Es ist jetzt 20 Uhr, und seit morgens 5.30 Uhr haben wir uns nichts mehr einverleibt. Nach dieser langen Askese verweigert aber mein Magen die kalte Kost. Schnell kann ich den Zimba-Combi öffnen und mich neben meiner Schlafstätte in den Schnee übergeben. Nachdem mir Ernst zirka um 22 Uhr seinen letzten Apfel schenkt, kaue ich diesen so gründlich, wie ich sonst noch nie einen Apfel gekaut habe, und bekomme wieder ein angenehmeres Gefühl in der Magengegend.
Langsam ziehen Nebelschwaden der Bondascagruppe zu, und eine Zeitlang verschwinden da- durch die Lichter von Bondo und Soglio. Hoffentlich gibt es keinen Wettersturz! Wir ziehen unsere Reissverschlüsse wieder und warten - warten. Ernst und ich denken an unsere Lieben zu Hause und meinen, es sei gut, dass sie nicht um unseren Standort wissen. Auch Robi wird sich zwischen dem Schlottern seine Gedanken machen. Es wird 2 Uhr - 4 Uhr - und schliesslich fängt es doch an zu tagen. Nach einem kurzen Frühstück beginnen wir um 6.30 Uhr unseren Weiteraufstieg.
Die erste Seillänge nach unserem Nachtquartier ist für steife Glieder anständig schwierig, bis wir aus der Nordwestwand und wieder auf der Kante sind. Trotz der kalten Finger meistert aber Ernst diese verschneite Viererstelle gut und sicher. Jetzt haben wir einige Seillängen ziemlich steil dem scharfen Grat zu folgen. Am meisten macht uns der viele Schnee zu schaffen. Wie geniessen wir die ersten Sonnenstrahlen, die uns um halb acht auf dem Grat durchwärmen! Die Kante legt sich nun zurück, beginnt der vermehrten Südlage wegen aperer zu werden und wird zur wahren Genusskletterei. Wir klettern und klettern, immer sehr vorsichtig, damit nicht noch in den letzten Seillängen etwas passiert, und erreichen um 1 i Uhr den Gipfel. Hier drücken wir einander die Hand zum Gipfelgruss und freuen uns über die gelungene Leistung und den herrlichen Sonnenschein mit der grossartigen Fernsicht. Jetzt gönnen wir uns eine Stunde Ruhe, essen etwas, und Robi zieht ein Schöppli Veltliner hervor, der hier oben herrlich mundet. Robi und ich knipsen noch einige Photos und entdecken schliesslich die neue Biwakschachtel für vier Personen. Wären wir gestern abend noch auf den Gipfel gekommen, hätte uns diese gute Dienste geleistet - falls wir sie gefunden hätten! Wir geniessen noch einmal die Gipfelrunde und machen uns dann an den Abstieg durch die Südostwand zur Gianettihütte. Wie herrlich, am Bergeller Granit in der Sonne zu klettern! Der Abstieg bietet keine besonderen Schwierigkeiten. So schnell wie möglich streben wir dem Gletscherbach und dann der Hütte zu, denn grosser Durst plagt uns. Nach zwei Stunden erreichen wir die Unterkunft und bestellen « due litri di té ». Dieser gewöhnliche Schwarztee erweckt unsere Lebensgeister wieder, so dass wir den Weg zum Passo di Bondo frisch gestärkt in Angriff nehmen können. Im Aufstieg zum Übergang nach der Sciorahütte haben wir einige grosse Spalten zu umgehen - also wird es auch heute wieder eine Verspätung geben. Der Gletscher reicht nicht, wie auf der Karte eingezeichnet, bis Punkt 3169, und wir müssen mit den Steigeisen an den Füssen in grossen Blöcken und losem Fels noch eine halbe Stunde klettern. Wir schnallen die Steigeisen nicht ab, um keine Zeit zu verlieren und möglichst rasch auf der Nordseite absteigen zu können - so wenigstens haben wir uns das vorgestellt, und nach Beurteilung der Landeskarte 1:25000 sollte dies auch ohne weiteres möglich sein.
Die Tage im Herbst sind einfach kürzer; denn jetzt, wo wir auf dem Pass sind, ist es finster! Zu unserem Erstaunen und zu unserer grossen Freude steht hier aber eine Biwakschachtel für vier Personen! Bei den gegebenen « Umständen » entschliessen wir uns, das Nachtquartier hier zu beziehen. Zum grossen Glück, wie wir am nächsten Tag feststellen könnenDiese Notunterkunft, zwei Bretter mit Matratzen und drei Wolldecken, kommt uns gegenüber der gestrigen wie ein Himmelbett vor. Sogar einige Scheiter Holz sind vorrätig. In meinem Helm holt Ernst Schnee, und Robi kocht in seiner Taschenverbandsbüchse ein Kaffee-Tee-Gemisch. Zum Kaffee-Tee-Aroma gesellt sich zudem ein bedenkliches Rauch-Alu-minium-Gemisch. Wir Bergsteiger sind aber glücklicherweise nicht heikel und freuen uns, das einfache Nachtessen — Brot, Schachtelkäse und Wurst — nicht trocken hinunterwürgen zu müssen. Für mich wird auch die Nacht im Bivaco Titta Ronconi nicht besonders rosig, denn meine Wolldecke ist mit einigen Riesenlöchern dekoriert. Aus der Thermosflasche hat jeder noch Anrecht auf fünf Schluck von der gestrigen Ge-tränkemischung. Wenn auch das Trinkgemisch nicht besonders schmeckt, so ist das « complet » dafür verschwenderisch! Haben wir doch noch für jeden Butter und je ein Dösli Orangenkonfitüre. Nach gehabtem Mahl wird die « Hüttenordnung » erstellt, und wir starten zur letzten Etappe unserer Badile-Fahrt.
Die ersten ioo Meter den Passo hinunter sind steil. Nach Abstieg und kurzem Quergang im vereisten Firn findet Ernst sogar einen Felshaken mit Schlinge, der uns den Bergschrund gesichert überqueren lässt. Im obersten Drittel kommen wir gut vorwärts; weiter unten aber wird uns klar, dass wir gestern abend das Richtige taten, als wir uns entschlossen, in der Biwakschachtel auf dem Bondopass zu übernachten. Wir suchen links, suchen rechts — und plötzlich geraten wir am Ostufer des Bondascagletschers an einen solchen Eisabbruch, dass Ernst an der Seite der Ago-di-Scio-ra-Felsen eine Abseilstelle einrichten muss. Ich gleite als erster 40 Meter den Eisüberhang hinunter und quere unter dem Abbruch einige Meter nach Westen. Unter Schnee und Eis finde ich einen feinen Granitriss und kann zwei Nägel schlagen. Ernst und Robi seilen sich auch zu mir herunter auf den Standplatz ab. Beim zweiten Abseilmanöver gerate ich direkt in eine Randspalte, welche ich aber mit einem kurzen Pendler gut überschwingen kann. Bald sind auch meine beiden Kameraden hier.
Glaubten wir, nun endlich aus dem Spaltenwirrwarr heraus zu sein, so haben wir uns aber getäuscht. Jetzt blättere ich doch einmal im Bergeller Führer: « Dieser Gletscher kann, wie auch der Bergschrund am Nordfusse des Passes, in heissen Sommern nahezu unpassierbar werden! » — Nun wissen wir 's. Wir sind also doch auf dem « richtigen Weg » und dürfen weiter suchen. Abstieg — Aufstieg - links - rechts; überall forschen wir nach einem Durchschlupf oder überspringen Gletscherspalten. Langsam, langsam kommen wir an die Gletscherzunge - nach einer fünfstündigen, zermürbenden Sucherei. Für diese Tour können wir uns endgültig losseilen. Über die Seitenmoräne und loses Gestein streben wir dem Hüttenbach zu und laben uns dort so recht nach Herzenslust. Der Abstieg führt uns neben der Sciorahütte vorbei über Naravedar hinunter nach Laret. Hier, beim Wegweiser « Sass Fora t I/z Std. », findet unsere Badile-Tour ihren endgültigen Abschluss. Noch einmal reichen wir drei Bergkameraden uns froh und glücklich die Hände zum Dank und als Anerkennung für diese gelungene Überschreitung. Im schönsten Nachmittagslicht präsentiert sich die Badile-Kante. In einem Schneefeld stellen wir noch die Spuren vom Mittwoch fest.
Jetzt - unsere Herbstferien sind ja trotz der dreitägigen Badile-Tour noch nicht zu Ende -wollen wir auch südseitigen Bergeller Granit geniessen und steigen zur Albignahütte auf. Vom Ago di Sciora aus möchten wir unsere Abstiegsspuren auf dem Bondascagletscher noch aus hoher Warte betrachten...
Mein Bergkamerad Robert Stäubli aus Frauenfeld verunglückte leider im Juni igyo an der Oberen Bielenlücke ( Galenstock ) tödlich durch Sturz in eine Gletscherspalte. Der obige Bericht, den ich vor dem tragischen Unfall meines Freundes niedergeschrieben und an die Redaktion gesandt habe, soll nun unabgeändert seinem ehrenden Andenken gelten.K. St.