Biasca und Val Pontirone
Eine Monographie aus den Tessinerbergen.
Gotthard End, Sektion Winterthur.
Von
10. Die Val Pontirone.
Hohe Bergmauern umrahmen die Val Pontirone.Von der Riviera aus sieht man das Tal nicht; von Biasca aus erblickt man nur wenig von ihm. Ja, selbst wenn man die Val Blenio hinaufwandert, fällt einem die Val Pontirone nur wenig auf. Ohne einen Blick in die Karte kann es sogar passieren, dass man achtlos an einem der grössten Seitentäler vorbeigeht, denn eng ist der Eingang, eine enge, hohe Schlucht, durch die einzig die Leggiuna, der unbändige Talbach, seinen Weg nimmt. Erst 350 m über der Talsohle treten die Bergwände auseinander und öffnet sich das eigentliche Tal.
Siebenunddreissig Quadratkilometer misst die Val Pontirone. Die Hänge sind so steil, sagt Franscini: « che cadendo l' uomo non possa arrestarsi che nel fondo ad orridi burroni ». So schlimm ist es nun nicht überall, aber ein wildes, dafür aber recht originelles Tal ist die Val Pontirone, und es lohnt sich schon, dass man sie durchstreift. Eine Wanderung hier durch, aus der Val Blenio in die Val Calanca hinüber, wird niemand reuen, der ein offenes Auge für Land und Volk hat und auf die Bequemlichkeiten städtischen Lebens für einige Zeit zu verzichten vermag.
Einer solchen Wanderung sollen diese Zeilen gelten. Aber nicht nur der Gegend allein, sondern auch dem Völklein, das sie bewohnt und denen, die früher dort oben ihr Leben fristeten.
Bis zur Buzza hinauf ist mir der Leser schon gefolgt, wenn er die Beschreibung des Bergsturzes nicht übersprungen hat. Will er weiter mit, in die Val Pontirone hinauf, dann versehe er sich mit dem Nagelschuh, denn der Weg ist rauh und steinig. Erst geht es zwar auf der guten Kantonsstrasse weiter, oder wer die nicht mag, fährt für « cinquanta-cinq ghei » mit dem Tram zum Ponte Biasca und Val Pontirone.
Leggiuna. Wir tun das hier auf dem Papier nicht, denn hier brennt uns die heisse Tessiner Sonne nicht auf den Rücken, und es plagt uns auch kein Strassenstaub.
Bei der Brücke von Loderio folgen wir der linksufrigen Talstrasse weiter und überschreiten den Brenno nicht. Unweit der Brücke fällt einem ein grosser Marchstein auf. Er bezeichnet mitten im Trümmerfeld die Grenze zwischen den Gemeinden Malvaglia und Biasca. Die Grenze steigt von hier steil zur Nordkante des Pizzo Magno empor, zur Maiensässe Svallo, und senkt sich dann über die genannte Kante bis zur Leggiuna ab 58 ). Dieser Verlauf der March ist auffällig, und sie hat denn auch eine interessante Geschichte hinter sich, von der wir allerdings nur das letzte Kapitel eines Grenzstreites kennen, das aber auf Früheres schliessen lässt. Ein Zipfel Malvaglieserboden steigt also hier zum Pizzo Magno empor, und der Monte Leggiuna liegt auch auf ihm und nicht im Gebiete von Biasca, so unnatürlich das auch scheinen mag. Die Pontironesen können aber, ohne fremdes Gebiet zu betreten, gleichwohl direkt in ihr Tal hinaufsteigen. Der Weg über Svallo nach den Alpen Airoldo, Albeglia, Jari und Cava führt immer über Biaskeserboden. Das ist aber keine Notwendigkeit, denn die Leute sind verträglich, und auf Monte Leggiuna hausen meistens Pontironesi. Auffallend ist es, dass von der Val Pontirone, die, wie wiederholt bemerkt, ganz zu Biasca gehört, sich nördlich Ponte Leggiuna ein nach unten scharf sich zuspitzendes Zipfelchen Biaskeserboden zur Talstrasse hinabzieht. Dieses Zipfelchen ist unten gerade so breit, dass die Zickzacks des Talweges sich darauf abwickeln können.
Über die Leggiuna, die in uralten Zeiten schon ( 1196 ) als Grenze der Val Blenio angeführt wird, greift also heute taleinwärts der Biaskeserboden und talauswärts das Gebiet der Gemeinde Malvaglia. Dem schmalen Streifen, den Biasca heute im Haupttale, rechtsseitig der Leggiuna, am Berghange besitzt, über den der Talweg in die Val Pontirone hinaufführt, wurde die Zugehörigkeit zu Biasca nie bestritten. Und zwar wahrscheinlich darum nicht, weil dieses Tal von Biasca aus kolonisiert wurde. Die Val Pontirone ist ein ausgesprochenes Sacktal, das 350 m ob der Talebene ausmündet und dessen unterster Teil auf über 1 km Länge einer Weganlage ganz bedeutende Schwierigkeiten entgegenstellte. Leichter waren die Zugänge über Svallo, Alpe Airoldo und Forcarella di Lago, die direkt von Biasca aus gehen und zugleich auch direkt auf die grössten Alpen führen. Es werden das die ältesten Zugänge zur Val Pontirone sein; auf ihnen wird Biasca notgedrungen die Val Pontirone kolonisiert haben, denn es besass kein anderes Hinterland. Im Gegensatz dazu sah sich Malvaglia nicht zu einer Besitzergreifung der Val Pontirone gedrängt, obgleich diese orographisch zur Val Blenio gehörte. Denn Malvaglia besass in dem gleichnamigen Tale, an dessen Ausgang es liegt, einen Uberfluss an Wald und Weide, und der Zugang dorthin war eher besser als der in die Val Pontirone. Es ist nun wohl möglich, dass später, als der heutige Hauptweg letztern Tales entstanden war, Biasca sich das Gebiet, über das dieser führte, zu erwerben suchte und dass das durch einen gütlichen Gebiets-austausch erfolgte, der den merkwürdigen Grenzverlauf herbeiführte. Damit verschwand die uralte Grenze, welche die Leggiuna früher darstellte.
Seltsamerweise finden sich keine Urkunden vor, welche auf den eigentümlichen Grenzverlauf zwischen Malvaglia und Biasca Bezug haben, während über Grenzstreitigkeiten im 14. Jahrhundert zwischen Semione und Biasca eine solche erhalten ist58 ).
Über die Grenzstreitigkeiten zwischen Biasca und Malvaglia waltete 1856 und 1871 ein Schiedsgericht. Die Grenzen, die schon beim ersten Entscheide ( 22. November 1856 ) so festgelegt wurden, wie sie heute verlaufen, sollen von der Gemeinde Biasca nicht angenommen worden sein. Immerhin ist augenscheinlich doch noch ein Vergleich zustandegekommen, wie der grosse Marchstein auf der Buzza verkündet. Leider scheinen keine schriftlichen Aufzeichnungen über die Schiedsgerichtsverhandlungen mehr vorhanden zu sein, und niemand wusste mir zu sagen, mit was für Gründen die beiden Streitenden ihre Ansprüche belegten.
Es wird auch schon lange her sein, seit von Ponte Leggiuna ein Weg in die Val Pontirone hinaufführt und seit der heutige Verlauf der Grenze besteht. In einer Urkunde von 1412 ist von einer Grenze — inter Lezunam et fragias de Sambugeta — die Rede. Wenn damit die Weide Sambugeda, welche vom Bergsturz überdeckt wurde, gemeint ist, so könnte damals schon das Gebiet gemeint sein, das jetzt links der Leggiuna zu Malvaglia gehört.
Auf dem rechten Ufer des Brenno zieht sich der Gemeindeboden von Biasca weiter taleinwärts und zwar bis gegenüber der Leggiunamündung. Von dort steigt die Grenze den Berg hinauf bis zur Maiensässe Censo, wo der Hochwald beginnt, und senkt sich dann weiter talauswärts, direkt gegen die Buzza, ab. In diesem Grenzzipfel, am Osthange des Sasso di Pollegio, liegt der Weiler Loderio. Von seinem Schicksal im Jahre 1868 war bereits die Rede. Noch schlimmer lastete das Unglück auf ihm, als der Hexenwahn seine Opfer forderte. Damals bluteten gar viel Bewohner des kleinen Loderio unter den Klauen der Inquisition. Und heute, fast wie ein Überbleibsel jener düstern Zeiten, liegt immer noch ein gewisser abergläubischer Bann über dem Weiler. Schauergeschichten gehen jetzt noch um. Zu den von Kastanienbäumen halb verdeckten Häuschen von Loderio, zu dem die Häusergruppen von Sprugascio, Petriolo, Rampeda und Marone gehören, alle umgeben von kärglichen Feldern, schaut stolz die Maiensässe Censo herab. Sie gehört nur zur Hälfte zu Biasca. Aber das genügt schon, um der Gemeinde von grossem Nutzen zu sein, denn bei Censo befinden sich die Quellen der Wasserversorgung des Fleckens Biasca. Gutes und reichliches Trinkwasser, das selbst im heissesten Sommer nie merklich abnimmt, spendet Censo. Dass dort oben Wasser zu haben ist, kündet schon die Bezeichnung « Bolle » an, mit dem hierzulande Quelle ( plur. ) bezeichnet wird.
Gerade schön ist das Gebiet, das sich die Gemeinde Malvaglia zwischen der Loderiobrücke und der Leggiuna in der Ebene erstritten hat, nicht. Man sieht es der Gegend zur Stunde noch an, dass sie einst zwei Jahre lang Seegrund war. Rechts neben der Strasse quaken im Sumpf die Frösche, links scheint, wenigstens gegen die Leggiuna hin, die Wüstenei etwas kultiviert zu werden.
Nicht weniger als 3 Brücken führen im Talgrund über die Leggiuna: die Eisenbahnbrücke, eine hässliche, eiserne Strassenbrücke und eine elegante, alte Steinbrücke. Alle drei liegen nahe beisammen. Die alte Brücke ist die richtige Verkörperung tessinischer Baukunst. Mit der neuen Strassenbrücke wird die Steigung, welche die alte Brücke ergibt, vermieden, zugleich aber die Gegend gründlich verhunzt. Die kühn gespannte alte Brücke, unter der die grünen, schäumenden Wasser der Leggiuna aus einer geheimnisvollen Schlucht hervorquellen, gab früher mit der wilden, einsamen Umgebung ein prächtiges Bild. Staunend betrachtet man die mächtigen Felsenpfeiler, an deren Fuss das Wasser Biasca und Val Pontironé.
kocht und wallt und die den Einblick in das geheimnisvolle Innere der Schlucht verbergen. Jahrtausende haben an diesen harten Gneisfelsen genagt, bis sie, wie heute, ausgewaschen und poliert vor uns standen. Der Pontironese, der sich den langsamen Gang der Natur nicht vorzustellen vermag, sucht sich die Bildung durch ein plötzliches Ereignis zu erklären. Wo Menschenkraft nicht ausreichte, wird der Teufel herangezogen. Der sei mit dem Kopf in die Felsen hineingefahren, als er bolzgrad in die Val Pontirone hinaufwollte, und darob hätten die Felsen die heutige Form erhalten.
Jenseits der Leggiuna fängt der Talweg der Val Pontirone an, rauh, steinig und steil 69 ). Eine Kapelle mit gastlichem Vordach ladet noch zum Ausruhen ein, bevor der jähe, heisse Aufstieg über den « Munt » ( Berg ) angetreten wird. Aber die Kapelle sieht so bedenklich aus, als wäre eine Schar Bilderstürmer über sie hergefallen. Ich erinnere mich, dass in den neunziger Jahren die Kapelle, wenn auch alt und verwittert, gut imstande war und dass gelegentlich auch ein Strauss Bergblumen im hölzernen Gitter steckte. Warum bedachte man damals die Madonna mit Blumen und heute mit Steinwürfen? Ist das der Fortschritt der Zivilisation? Es schmerzt mich immer tief, wenn ich so an einem Bergkapell-chen den Verfall durch Bubenhand beschleunigt sehe. Man mag denken, wie man will, diese Kapellchen sind ein charakteristischer Schmuck der tessinischen Berglandschaft, und sollten sie einst gar verfallen, ich würde mich glücklich preisen, in einer Zeit gelebt zu haben, wo sie noch in ihrer stillen Romantik am Wege standen.
Heiss kann der Aufstieg werden. Kahle, glatte Gneishöcker treten zutage. Sie können wie warme Ofenkacheln Wärme spenden. Und Wasser gibt es wenig am Wege. Etwa in halber Höhe, bevor man zu den ersten Hütten kommt, ist eine Quelle, die immer fliessen soll, aber für den Ortsunkundigen nicht leicht zu finden ist. « Acqua di San Carlo », nennt sie respektvoll der Pontironese, denn man erzählt sich, dass San Carlo bei seiner Reise nach Pontirone hinauf hier den Durst gestillt hätte. Die im obern Teil des Aufstieges dichter zusammentretenden Kastanienbäume spenden angenehmen Schatten und schliesslich ist der Steilhang überwunden. Wir stehen in S. Anna, 350 m über der Talsohle. Der Weiler oder die Maiensässe zählt man zur Val Pontirone, und genau genommen, heissen eigentlich S. Anna und die im topographischen Atlas Pontirone genannte Örtlichkeit zusammen Pontirone. Die Einheimischen nennen das Dörfchen Pontirone « Valle ». Für S. Anna ist oder war auch die Bezeichnung « Pontironetto » ( « Pontronett » und auch nur « Puntrun », « Punternett » ) gelegentlich im Gebrauche. Für « Pontirone » findet sich in alten Urkunden die Bezeichnung « Pontrono ».
Prachtsexemplare von Kastanienbäumen gedeihen da. Der knorrige, oft in bizarren Formen sich entwickelnde Baum harmoniert so recht mit der Gegend, deren nächster Umgebung jede sanfte Linie fehlt. So warm und sonnig dieser Fleck Erde ist, die Weinrebe will hier nicht mehr recht fortkommen Vor einigen Jahren sind die letzten Rebstöcke eingegangen. Ob das Klima, die Pflege oder gar die Pflanzen selbst daran Schuld waren, weiss niemand zu sagen. Dagegen gedeiht noch der Mais.
Ein prächtiger Blick liegt hier oben frei und ist hauptsächlich talaufwärts schön, wo der Simano die untere Val Blenio abzuschliessen scheint. Freundlich schauen die weissen Häuser von Semione aus dem Gewirr der Reblauben und Kastanienbäume. Der Hügel dort mitten im Tale, mit den Trümmern der einstmals stolzen Burg Serravalle, erinnert an alte, dunkle Zeiten, an die verblichene Kaiserherrlichkeit der Hohenstaufen. Dort weilte 1176 Kaiser Friedrich Barbarossa vier Tage lang, als er sich mit seinem Hilfsheer vereinigte, das ihm über den Lukmanier entgegengekommen war. Bald darauf, in der Schlacht von Legnano ( 29. Mai 1176 ), zerflossen seine Zukunftspläne von einer Wiedergewinnung Italiens.
In S. Anna treten uns die Häuschen entgegen, wie sie in der Val Pontirone typisch sind, meist gemischt aus Stein und Holz gebaut. Die neueren Bauten sind fast alle ganz aus Stein. S. Anna hat seinen Namen kaum von der gegenwärtigen Kapelle, welche die Jahrzahl MDXXXVII trägt, sondern von einer frühern, von der die heutige neben dem Namen auch noch die Jahrzahl geerbt haben dürfte, denn fast 400 Jahre alt ist sie dem Bau nach nicht. Von den Malereien bezieht sich merkwürdigerweise keine auf die heilige Anna. Die Kapelle ist, im Gegensatz zu den meisten ringsum, gut erhalten. Früher wurde in ihr gelegentlich der Alpsegnung Gottesdienst gehalten. Jetzt liegt sie vergessen da, Jahr um Jahr zieht vorbei, ohne dass sie je zu einer gottesdienstlichen Handlung benützt wird.
Wenden wir uns endlich der Val Pontirone zu. Der Weg führt fast ebenaus durch die Steilhänge einer Schlucht. Tief unten, unsichtbar, rauscht die unbändige Leggiuna. Ein Blick zurück, die Schlucht hinaus, auf den Talboden der Val Blenio, belehrt uns über die Tücke dieses Bergbaches. Weit breiten sich dort seine Schuttfelder aus, und die Bleniotalbahn hat oft unter der Leggiuna zu leiden. Dieses Gebiet, die « Bolla », wohl so genannt wegen der Wassertümpel und Seitenarme des Baches, gäbe herrliches ebenes Kulturland, an dem die Gegend so arm ist. Hoffentlich verschwindet das unerfreuliche Bild allmählich. Ist doch oberhalb der Leggiunaeinmündung unter der Obhut des Forstamtes ein stattliches, vielversprechendes Wäldchen entstanden, auf einem Terrain, das nicht besser war als das benachbarte Geschiebedelta der Leggiuna, wie ich mich aus meiner Jugendzeit gar wohl erinnere. Wer weiss, vielleicht schlägt unsere Ingenieurkunst auch die wilde Leggiuna dereinst noch in Fesseln und zähmt und nützt die ungestüme Kraft des Baches. Einer langen Mauer würde es nicht bedürfen, die Schlucht zu sperren, und der Stausee würde dort unten keinen Quadratmeter Kulturland decken. Von der ganzen Anlage sähe man höchst wenig. Es täte der Schönheit in keiner Weise Eintrag, wenn die Kraftstation nicht wie so oft durch ein scheussliches Gebäude sich bemerkbar machte. Aber das liegt alles noch in weiter Ferne. Das eidgenössische Amt für Wasserwirtschaft hat sich aber die Leggiuna nicht entgehen lassen, sie ist schon gemessen und registriert, und vielleicht verliert sie doch noch eines Tages ihre Freiheit. Die Schätzung der zu gewinnenden Kraft steht aber erheblich unter dem, was man auf den ersten Blick annimmt ( 500 PS ). Vorläufig gehört der Bach also noch zu den ungehobenen Reichtümern des Tales. In seiner Schlucht breitet sich eine üppige Wildnis von Gesträuchern, Bäumen und allerlei Gewächsen aus, an denen ein Botaniker wohl seine helle Freude haben würde. Die Feuchtigkeit der Schlucht, vermischt mit der Sonnenglut, schafft hier ein Treibhaus, und die Unzugänglichkeit hat dafür gesorgt, dass es eine natürliche Reservation geblieben ist, zu deren Entstehung es keines Bundesratsbeschlusses bedurfte. Auch oberhalb des Weges zieht sich die Wildnis in die Flühe hinaus. Beindicke « Lori » ( Stechpalmen ) sollen dort wachsen, erzählte mir ein Pontirone und rühmte das ausserordentlich harte und zähe Holz.
Biasca und Val Pontirone.
Die Wanderung auf dem Talweg ist ausserordentlich reich an malerischen Szenerien. Gegenüber, auf lichtumflossenem Bergvorsprung, sonnt sich die Maiensässe « in Piena », die gehört zu Monte Leggiuna und damit zur Gemeinde Malvaglia. Von « in Piena » zieht sich hoch über der Leggiuna auffallend gleichmässig, wie eine moderne Strassenanlage jede Gegensteigung vermeidend, ein Weg ins Tal hinein. Beim genauen Betrachten entdeckt man bald, dass über diese strassen-ähnliche, breite Anlage, die zum Teil verfallen und verwachsen ist, ein schmaler Pfad führt. Was wir sehen, ist das Überbleibsel einer « Sovenda », einer Gleitbahn für Holz, wie sie früher im Tessin und den benachbarten südlichen Alpentälern üblich waren. Die Sovende sind längst verschwunden und den meisten Leuten nur noch vom Hörensagen bekannt, denn diejenigen, die sie noch im Betriebe sahen, sind heute fast alle ins Grab gestiegen. Für die Leute der Val Pontirone hat die Sovenda eine bleibende und rühmliche Bedeutung. Sie waren die Erfinder und Konstrukteure dieser kühnen Gleitbahnen, die einst die Ingenieurkunst der « Pontiron » weit herum in Ruf brachten. Wenn man bedenkt, was es heute braucht, von Negressima durch die wilden Felshänge des Monte di Biasca zur Stiftskirche hinab eine « Sovenda » anzulegen, wie es geschehen sein soll, so muss man die Kühnheit und die Geschicklichkeit der Erbauer bestaunen. Das grenzte an Kunst.
Die Pontironesi behaupten, die Kunst ihrer Vorfahren, über schwindlige Abgründe und längs himmelhohen Felsen Brücken ( ponti ) zu schlagen, hätte dem Tal zum heutigen Namen verholfen ( über die Einzelheiten der Sovende usw. siehe den Anhang ).
An gewissen Stellen des Talweges ist der Steinschlag keine Seltenheit. Sieht man doch fast keinen Baum unterhalb des Weges, der nicht irgendeine Schramme trägt. Bei grossem Schneefall muss es hier besonders ungemütlich werden und doch kommen verhältnismässig sehr wenig Unglücksfälle vor. Ausser bei dem ungeheuren Schneefall vom Jänner 1895 hat der Weg, soviel bekannt, wenig Unglück zu verzeichnen. Aber damals ging es schlimm zu. An der gefährlichen Stelle bei « Fos » ( la fossa = der Graben ) war eine grosse Lawine niedergegangen. In der Meinung, die Gefahr sei nun vorüber, versuchten ein Mann und eine Frau den teilweise verschütteten Talweg zu begehen. Sie wurden aber in der Lawinenbahn von einer nachstürzenden Schneemasse erfasst und in die Schlucht hinabgeschleudert, wo sie beide unbedingt den Tod gefunden hätten, wenn die vorangegangene grosse Lawine nicht die Leggiuna zugedeckt und die Schlucht zum Teil ausgefüllt hätte. Der Mann wurde wunderbarerweise nur wenig verletzt und konnte sich bald freimachen. In der Nähe entdeckte er die Spuren seiner Begleiterin, die auszugraben ihm gelang. Doch zeigte dieselbe nur noch wenige Lebenszeichen, und als er sie unter einen überhängenden Felsen verbracht hatte, starb sie.Vergeblich suchte nun der Mann über die jähen Felsen zum Talweg hinaufzuklettern, er rief daher um Hilfe. Glücklicherweise wurden seine Rufe vernommen Mittels der Glockenseile von Pontirone wurde erst er und dann seine tote Begleiterin zum Talweg hinauf gezogen. Der Mann, der dieses Unglück durchmachte, Fovini Silvio, lebt heute noch. ( Die Gegend von « Fos » scheint für seine Familie verhängnisvoll zu sein. Am 25. September 1921 stürzte dort seine Frau infolge eines Fehltrittes in die Schlucht hinab zu Tode. ) Einige Tage nach dem beschriebenen Unglück wurde etwas weiter talauswärts wieder eine Frau von einer Lawine in die Schlucht geworfen. Auch sie kam ums Leben, und erst vier Monate später fand man die Leiche der Unglücklichen im Grunde der Schlucht.
Der böse Tritt bei Fos ist heute ganz erheblich verbessert. Fast schade, möchte ich sagen, denn als ich anfangs der neunziger Jahre hier erstmals durchging, kam mir die Stelle höchst pikant vor, und ich staunte nicht wenig, wie leichtfüssig die alten Weiblein, deren es in Pontirone so auffällig viele gab, über sie wegschritten. Viel weniger harmlos kam der böse Tritt bei Fos dem Kardinal Carlo Borromeo vor, als er sich 1570 in einer Sänfte nach Pontirone hineintragen liess. Die Erinnerung an das Vorkommnis hat sich in der Volkserinnerung in verschiedenen Fassungen erhalten. Die Brüder Tinetti von Sulgone, wo ihre Nachkommen heute noch hausen, trugen den damals 32jährigen Kardinal in einer Sänfte. Sie seien riesenstarke, aber etwas ungeschliffene Gesellen gewesen. Denn als bei Fos der Kardinal angesichts des Abgrundes und der schwierigen Passage nicht ruhig war, geboten sie ihm mit derben Worten, stillzusitzen. Der Verkehr mit Kardinälen und Heiligen war diesen Naturkindern ungewohnt, und in ihrer naiven Logik musste es sie seltsam anmuten, dass der Kardinal just in dem Augenblicke Angst bekundete, wo sich ihm die Möglichkeit eröffnete, raschestens aus der von ihm so oft als unvollkommen gescholtenen Welt zu den Seligkeiten des Jenseits zu gelangen. Dem Kardinal Carlo Borromeo kann sonst nicht Furcht vor dem Tode nachgeredet werden, aber dass das Ungewohnte des Gebirges auf ihn Eindruck gemacht haben soll, ist leicht möglich. Was man weiter von diesem Vorfall erzählt, wird die Volksphantasie besorgt haben 60 ).
Bald taucht nun Pontirone vor uns auf, ein rauchiges Tessinerbergdörfchen, überragt von einem altersgrauen Kirchlein, ein hübsches Landschaftsbild. In der Nähe besehen, sieht vieles mehr malerisch als schön aus. Ich möchte den Leser etwas vorbereiten. Was bedrückend auffällt, ist die grosse Zahl von Hausruinen und von halbzerfallenen, unbewohnten Häusern. Hier herrscht noch keine Wohnungsnot, es hat Häuser im Überfluss. Wird eines gar zu baufällig, man stellt zwar keine hohen Ansprüche, so überlässt man es seinem Schicksal und bezieht ein anderes leerstehendes. Die Bevölkerung Pontirones nimmt ab, sonst wäre so etwas nicht denkbar. Auch dem Schulhaus, dem Pfarrhaus, der Kirche und dem Friedhof sieht man es an; es geht alles bergab. Jeder Besuch, den ich da hinten mache, zeigt mir das Dörfchen mehr verlottert, und dem Ver-lottern der Häuser scheint sich eine allgemeine Verlotterung anzuschliessen. Wie es in « Gli Alpi nel Cantone Ticino » von mancher Alp in der Nachbarschaft heisst: « va in diperimento », so gilt das auch hier. Pontirone geht dem Verfall entgegen und mit ihm die andern Häusergruppen des Tales. Die verlotterte Kapelle unten bei der Leggiunabrücke gibt einem eigentlich schon lang vor dem Betreten des Tales den Fingerzeig, wie es da oben aussieht. Industrie, Verkehr und Auswanderung locken mit dem Versprechen auf leichten Geldgewinn die kräftigen Männer aus dem Tale, und mit Frauen, Kindern und alten Leuten lässt sich nun einmal die Alpwirtschaft nicht aufrechterhalten. Ganz besonders nicht, wo ihr Betrieb so mühsam und anstrengend ist wie hier, Genährt hat die Val Pontirone ihre Bewohner allerdings auch früher nicht alle. Als Holzfäller ( Borrat, im Anhang ) verdienten sie ihr Geld selten im eigenen Tale. Aber sie kehrten nach erledigter Arbeit zurück und halfen mit. Viele blieben dem Bauernberufe überhaupt treu.
Biasca und Val Pontirone.
Jenen Zeiten entstammen die kleinen aber dichtgefügten Holzhäuschen und alle bessern Hütten auf den Maiensässen und Alpen.
Im Winter wohnen jetzt nur noch ganz wenige Leute in Pontirone. Mehr als 3 bis 4 Personen bleiben nicht, und man kann es den andern nicht übelnehmen, dass sie sich flüchten, denn vom 7. November bis 22. Februar fällt kein Sonnenstrahl mehr auf das Dörfchen. Dann wird es kalt und unwohnlich hier hinten. Pflichtgetreu hält aber die Lehrerin auf ihrem Posten aus, zu der von S. Anna herein und von Sciresa die Kinder auf weitem Weg zur Schule kommen.
Am Hange oberhalb des Dörfchens erhebt sich die weithin sichtbare Kirche. Das verwitterte graue Gemäuer ist aber nicht so alt, wie es aussieht ( Erbauung 1801 ). Die alte Kirche, die sich rühmen konnte, dass einst S. Carlo in ihr Messe gelesen habe, ist dem von Cugnasco herabkommenden Wildbach ( Ri d'Val ) zum Opfer gefallen. Sie lag mehr taleinwärts. Noch steht dort das alte Pfarrhaus. Ein kleiner Balkon mit Geländer zeichnet es vor den anderen Häuschen aus, unter deren äusserst bescheidenen Schar es noch das beste ist.
Seit ungefähr 20 Jahren wird in Pontirone nicht mehr getauft und keine Ehe mehr eingesegnet, nur Begräbnisse kommen vor. Das versinnbildlicht so recht den Rückgang dieses Bergtales. Gottesdienst wird nur noch unregelmässig gehalten, und nur ein einziges kirchliches Fest wird gefeiert, der Tag des San Giovanni-Battista, des Schutzpatrons der Kirche und der Talschaft 61 ). Dann kommen die Pontironesen hier zum Gottesdienst zusammen, und nachher geht es lustig zu. Es ist Juni, man weilt noch auf der Maiensässe und hat dann abends nicht weit nach Hause, was dem einen und andern willkommen sein mag. Denn der Wirt lässt für jenen Tag ein Fass Wein von Biasca heraufsäumen. Zwar ist der Tessinerbergler von einer vorbildlichen Enthaltsamkeit, er trinkt nicht viel, und von der Schnapskaffeepest, die bei uns in manchem Bergtal wütet, weiss er überhaupt nichts. Bocciaspiel ist ihm wichtiger als der Trunk. Unter den mächtigen Kastanienbäumen wird zum Klange der Handorgel getanzt. Manches Meitli, das man werktags bei Sonnenglut unter schwerer Last den steilen Weg hinansteigen sieht, gibt nun kund, dass ihm das alles nichts anzuhaben vermag, und dreht sich geschmeidig im Takte.
Vor zirka 40 Jahren hatte Pontirone noch einen eigenen Pfarrer. Der letzte Geistliche, der da hinten waltete, war Pfarrer Giudici von Giornico, über dessen Leben sich heute legendenartige Erzählungen gebildet haben. Viele Leute hatten eine abergläubische Furcht vor diesem Geistlichen, der im Rufe übernatürlicher Kräfte stand. Allen Ernstes erzählte mir ein alter Mann davon, wie Pfarrer Guidici einst den Teufel bannte. Oben im Dorfe war wieder einmal der Wildbach, der von Cugnasco herunterkommt und der die alte Kirche zerstört hat, in vollem Aufruhr. Gewaltige Blöcke polterten das Tal herab und drohten, der Leggiuna den Weg zu verlegen. Dann wäre es aus gewesen mit Pontirone, beteuerte mir der Alte. Das sei aber alles Teufelswerk gewesen, und man habe den Teufel selbst gesehen, wie er auf einem mächtigen Block dahergeritten kam, um damit seine Untat zu vollenden. Da trat Pfarrer Giudici im Messgewand, mit Evan-gelienbuch und Weihwasser dem Unhold entgegen. Es war ein hartes Ringen, aber zuletzt hielt es der Teufel nicht mehr aus und lief heulend in die Schlucht hinauf und ward nicht mehr gesehen. Steine und Schutt aber kamen zur Ruhe.
So gelegentlich habe sich Pfarrer Giudici auch einmal ein Spässchen erlaubt mit seiner « fisica ». Als einst Frauen von S. Anna nach Pontirone hinein zur Christmesse gingen, schreckte sie auf dem Wege ein böses Gespenst, das einen Pferdekopf hatte.Vielleicht folgte dem Schabernak die Vergeltung auf dem Fusse, denn es war wahrscheinlich in jener Christnacht, wo dem Pfarrer Giudici, während er in der Christmesse war, die ganze Metzgete entwendet wurde. Alle « Lüganig und Mortadella » seien auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Das erzählte ein Pontironese jungen Schlages, der an den Teufel von Cugnasco und den Pferdekopf sowie an die fisica des Pfarrers nicht mehr glauben will. Die Alten, « i vecc », hätten solches geglaubt, sie, die Jüngern, hätten keinen Respekt mehr vor solchen Sachen. Aber die Zurückhaltung, auf die man stösst, wenn man von solchen Sachen spricht, ist zu auffällig und lehrt das Gegenteil, man will sich nur nicht lächerlich machen. Wenn man aber, wenn ein Gewitter krachend über den Bergen liegt, in der Hütte sitzt und eine alte Frau vom Wirken der übernatürlichen Kräfte erzählt, dann glauben auch die Jungen an die alten Geschichten und nicht nur « i vecc ». Bei mir tauchen bei diesen alten Geschichten unwillkürlich immer Gedanken an jene Zeiten auf, wo es nach dem Volksglauben wimmelte von Hexen und Teufeln. Die Val Pontirone zahlte damals auch ihren blutigen Tribut, und zwar sogar noch den allerersten. Das erste Opfer, das der Ausbruch des Hexenwahns am Ende des 16. Jahrhunderts in der Riviera forderte, war ein Kind dieses Tales ( Jahrbuch 57, Seite 131 ).
Wir wollen den Gedanken an die traurigen Zeiten menschlicher Verirrung nicht weiterfolgen, aber der Alten, der « Vecc », gedenken, von denen der Bauer heute wie von einem ausgestorbenen, besseren Menschenschlage spricht. Und doch waren sie vom gleichen Blute, und hätten Verkehr, Industrie und Emigration nicht so böse Breschen in die Reihen der Bauern geschlagen, sie würden so gut wie die « Vecc » werden.
Man erzählt vom Aberglauben der Alten nie, ohne zu beteuern, dass man selber dergleichen Sachen nicht für wahr halte. Aber man spottet deswegen der Alten nicht, das Ansehen steht zu hoch, und warum ist wohl verständlich. In Biasca unten, im Gewirr armseliger Häuser begegnet man da und dort einem Baue, der, wenn auch alt, noch derb und kräftig dasteht und mit seinen behauenen Gesimsen, Fenstergittern und verblichenen Malereien Zeichen vergangener, besserer Zeiten verkündet. Das waren « i vecc », die so bauten, vernimmt man. Auch die schmucken Kapellen, die heute der Zerstörungswut der jeunesse dorée ausgeliefert sind, stifteten diese « Vecc ». Und wenn man eine solide, gute Alphütte sieht und sich darob wundert, dann vernimmt man auch, dass es die « Vecc » waren, die so bauten und welche die kleinen « Touvri », die Holzhäuschen, zimmerten und jene Kastanienbäume pflanzten, welche jetzt die besten sind. Als kühne « burratori » haben diese « Vecc » den Namen der Val Pontirone einst weit ins Land hinausgetragen, wo man ihre Kühnheit und Geschicklichkeit bestaunte. Schade dass diese Leute nicht mehr da sind oder dass ihre Gesinnung nicht weiterlebt, es ginge heute mancherlei weniger dem Zerfall entgegen.
Wenn man das Dörfchen taleinwärts verlässt, überschreitet man das steinige Bett des schon erwähnten Wildbaches von Cugnasco. Der hat hier tatsächlich schlimm gehaust, und ein schönes Stück Land liegt unter seinem Schutt begraben. Nicht nur die Kirche allein ging also zugrunde Dagegen blieb die Wirtschaft, etwas weiter oben gelegen, vollkommen intakt. Wer mag da noch daran zweifeln, dass der Teufel die Hand im Spiele hatte? Zwar ist die Osteria ungefährlich, denn es ist nur einmal Kirchweih im Jahre, und sonst stehen ihre Tische und Bänke leer. Wegen der Kirchweih allein ist aber die Wirtschaft nicht entstanden. Als noch regeres Leben pulsierte und noch nichts auf « diperimento » eingestellt war, wird es auch an gewöhnlichen Sommer-Sonntagen hier draussen fröhlich zugegangen sein. Die Weinkrüge kreisten an den aus Felsplatten gehauenen Tischen, und die mächtigen Kastanienbäume warfen ihren kühlen Schatten auf die Gäste. Alles ist hier wuchtig, schwer und ungefüge, die Felsblöcke am Hang, die knorrigen Bäume, die Tische und Bänke, als stamme das alles aus den Zeiten, in die man die Entstehung der heidnischen « Festa di Bacco » verlegt, die bis vor etwa hundert Jahren in der Val Blenio üblich war 62 ). Aber heute ist alles still und leer, auch die Mühle neben der Osteria ist verstummt, längst klappert kein Wasserrad mehr. Der Getreidebau ist fast ganz verschwunden. So mahnt denn alles an ein Hin-welken und Absterben, an « diperimento » und erweckt recht trübe Gedanken.
Auf dem Talwege weiterwandernd, nähern wir uns der Häusergruppe S tam p a. Wir verlassen dort die Region des Kastanienbaumes. An den sonnigen Halden oberhalb des Dörfchens steigt seine Grenze bedeutend höher als hier im Talgrunde.
Ein lotteriges Weglein zweigt hier ab, auf dem man direkt zu den waldumsäumten Wiesen von Bovetta und weiterhin zu den Alpen Albeglia und Jari gelangen kann. Dieses Weglein ist kurz aber schlecht.
Die Herkunft des Namens « Stampa » interessierte mich. Hier weiss ihn aber niemand zu deuten, und so versuchte ich es denn selber. Wenn sich hier einst eine « Stampfi », ein Pochwerk zum Pochen des Flachs, befunden hätte, wäre die Erklärung leicht. Aber von Flachsklopfen weiss man nur, dass das mit einem Stück Holz, dem « beterell », geschah und nicht in einer « Stampfi ». Die Flachskultur war noch vor 20 Jahren im Tale üblich. Neben Flachs wurde auch Hanf gepflanzt. In Pontirone zeigte man mir die Stelle, wo sich die « Pozz de ling » ( Pozzi del lino = Flachsröste ) befanden. Und man erzählte mir dazu, dass die Frauen den Flachs zum Brechen oft bis nach Rovrin hinauf getragen hätten. Dort oben an der warmen Sonne trocknete er besser und war es angenehmer zu hantieren als im schattigen, frostigen Dörfchen unten. Dass es in Rovrin, das talauswärts über dem Talwege liegt, unheimlich steil ist, focht die Frauen von Pontirone nicht im geringsten an. Melodisch wird das Geräusch der Rätsche in den Felsen widerhallt haben, war es doch ein Gramolakonzert, denn Gramola nennt man hier die Rätsche. Haben das die Fabrikanten der automatischen Leier-kasten wohl gewusst, als sie diese Gramola tauften?
Gesponnen wurde nach alter Sitte ab dem Spinnrocken ( la rocca ). Bei dieser Arbeit sah man die Pontironesinnen überall, zu Hause und auf dem Felde. Heute wird nur die Wolle noch so gesponnen. Zum Weben wanderte das Garn in die Leventina hinauf. Die Weberinnen ( « i tasctoress » ) von Anzonico und Cavagnaco suchten das Garn in der Gegend zusammen und nahmen es zur Verarbeitung nach Hause. Noch heute rühmen die Leute die soliden Hemden und Leintücher aus dem selbstgezogenen Flachs, dem man für die Leintücher auch etwas Hanfgarn beimischte. Das hätte die Leintücher noch erheblich stärker gemacht. Man sieht, anspruchsvoll und verwöhnt durch weiche Betten sind die Pontironesen nicht. In einigen Jahrzehnten wird die Erinnerung an die Flachskultur im Volksgedächtnis erloschen sein, so wie heute die Erinnerung an die Herkunft des Wortes Stampa in die Vergessenheit gesunken ist.
Wer bei Stampa im Hochsommer zum erstenmal das Tal hinaufwandert, ist überrascht, weit hinten ein Schneefeld aufleuchten zu sehen, das sich mit dem Höhersteigen vergrössert und schliesslich in einen steilen Hängegletscher übergeht. Das ist der obere Torrentegletscher. Rechts neben ihm gipfelt in dunkeln Felsen der Torrente alto mit 2948 m, der höchste Berg des Tales.
Oberhalb Stampa überschreitet man das Bett eines Wildbaches, der am Hange drüben in den Felsen eine böse Schlucht ausgenagt hat, in der aber meist kein Tröpfchen Wasser rinnt und daher von den Einheimischen Ri secch ( Riale secco = der trockene Bach ) genannt wird. Trotz diesem scheinbaren Wassermangel ist er der gefürchtetste Bach des ganzen Tales. Unglaubliche Mengen Schutt fördert er oft die wilde, kaminähnliche Schlucht hinab. Früher, als man sich die Entstehung seltener Naturereignisse durch das Walten übernatürlicher Kräfte so leicht zu erklären wusste, schrieb man auch die Ausbrüche des Ri secch derartigem zu. Oberhalb, wo in den jähen Grashängen, die Rüfi immer weiter um sich frisst, waren nach dem Volksglauben « i tenat » ( i tenati ) an der Arbeit, Leute, die sich zu ihrer Lebenszeit diese Weiden auf unredliche Art vom Patriziato angeeignet hatten. Dafür müssen sie nun nach dem Tode büssen. Ruhelos weilen sie an der Stätte ihres Verbrechens und stiften nun aus Ärger Unheil. Wäre es möglich, die bösen Gesellen mit einer Benediktion zu bannen, die Direktion der « Ferrovia elettricha » hätte längst schon einen Kapuziner herbeschieden. Denn das käme wohl billiger als die Verbauungen des Ri secch, mit denen man die Bahnlinie an der Leggiunamündung vor den Ausbrüchen dieses Wildbaches zu schützen sucht. Mir scheint es, dass der Ri secch für sich allein zu klein wäre, soviel Unheil zu stiften. Viel Schutt bringt er, aber die Verfrachtung übernimmt eigentlich die Leggiuna, die dazu selbst noch ein höchst unbändiger Bergbach ist. Man betrachte nur ihr Bett oberhalb der Einmündung des Ri secch, da sieht es auch schlimm genug aus 63 ). Ich habe den Eindruck, dass es seit Anfang der 90er Jahre erheblich schlimmer geworden ist. Wie wäre es gewesen, wenn während der Grenzbesetzung, als unsere Soldaten regimentsweise im Tessin herumdrillten, eine Kompagnie an der Leggiuna gearbeitet und die Weiden gesäubert hätte. Auch die Soldaten haben an nützlicher, selbst anstrengender Arbeit mehr Freude als am Zeittotschlagen nach preussischer Art. Und den Leuten hier oben wäre das Tal werter geworden.
Auf Stampa folgt die Häusergruppe Sciresa ( ciliegia = Kirsche ). Kirschen gedeihen denn auch tatsächlich da oben, wie die Bäume bekunden. Und zwar sollen es nicht nur die kleinen, grobkernigen Bergkirschen sein, sondern eine bessere Sorte. Soiresa schreibt der topographische Atlas, wohl infolge eines Druckfehlers. Derselbe schleppt sich aber schon jahrzehntelang durch alle Auflagen und scheint sich so allmählich Rechtsgültigkeit ersitzen zu wollen.
Vor etwa 20 Jahren war Sciresa, wo alle Leute Vanzetta heissen, ein stilles Nest. Heute ist es anders, zwischen und in den braunen Häuschen krabbelt eine zahlreiche Kinderschar, die bezüglich Färbung mit der Behausung lebhaft wetteifert, was teilweise leicht behoben werden könnte. Im besagten Zeitraum hat sich die Einwohnerzahl von Sciresa mehr als verzehnfacht. Aber noch ist da keine Wohnungsnot. Aber wer weiss, was noch kommt, wenn es so weitergeht!
Biasca und Val Pontirone.
Hier in Sciresa zweigt der direkte Weg nach Alpe di Sciengio ab. Er führt der Leggiuna entlang und steigt nach Fontana hinauf. Man erspart sich also eine beträchtliche Gegensteigung und Wegstrecke, wenn man für den Fall, dass man nach Sciengio gehen will, den im topographischen Atlas eingezeichneten Weg « links liegen lässt ». Der direkte Weg nach Alpe di Sciengio ist allgemein üblich und bekannt, nur die Topographen scheinen ihn mit Beharrlichkeit ignorieren zu wollen.
Früher zweigte dieser Weg in Stampa vom Talwege ab. Dort wurde er aber im Unwetter des September 1922 verschüttet und blieb ungangbar.
Talaufwärts begegnet man der « Capella del Vanzetta », wo der Weg nach Cavrei ( siehe Seite 27 ) abzweigt, und endlich ist die weithin sichtbare Kapelle oben am Bergvorsprung erreicht, die Capella della Forcarella, einer der schönsten Punkte hier hinten. Tief ins Tal hinab taucht der Blick. Schön ist der Anblick der gegenüberliegenden stolzen Torrentegruppe. Nun geht es bergab, zum Weiler Fontana hinein. Dem Namen nach würde man glauben, es gebe hier gutes Trinkwasser. Doch war früher das Gegenteil der Fall. Man hat daher mit erheblichen Kosten eine Wasserleitung erstellt, um aus der Umgebung gutes Trinkwasser heranzuführen. Anderseits hat das Wasser von Fontana schon aufsehenerregende Erfolge erzielt. Als es im Herbst 1868 nicht regnen wollte und eine Dürre das Tal heimsuchte, verfiel eine Frau auf die Idee, die Statuette des heiligen Michael ins Wasser von Fontana zu stellen. Da ging es ihr wie dem Zauberlehrling. Es fing an zu regnen und hörte nimmer auf. Und mit solch unglaublicher Heftigkeit fiel der Regen, wie es eben nur im Tessin im Herbst regnen kann. Schliesslich ging in Loderio unten ein kleiner Bergsturz nieder, jener, von dem hier bereits schon die Rede war ( Jahrbuch 57, Seite 126 ). Für lange Zeit wurde daraufhin in Fontana mit « San Michel » keine Wasserkur mehr vorgenommen. Erst 50 Jahre später, als wiederum eine böse Dürre alle Maiensässen heimsuchte, riskierte man das Experiment wieder. Aber man war wahrscheinlich diesmal zu vorsichtig, der erhoffte Erfolg blieb ganz aus. Es regnete keinen Tropfen, und auch die Berge blieben ruhig an ihrem Platze.
Auf Fontana folgt Biborgo, ebenfalls eine Maiensässe, die man auf dem Damm der Wasserleitung am bequemsten erreicht. Der ganze rechte Talhang ist die Gegend der Maiensässen. An den steilen und sonnigen Hängen bleibt der Schnee bis auf 1800 m hinauf nie lang liegen. Schneit es auch einmal tüchtig und deckt alles zu, bald sind hier die Weiden wieder aper für die genügsamen Geissen. Der linke Talhang ist mehr gegliedert. In seinen weiten und zum Teil flachen Mulden liegt der Schnee bis in den Vorsommer hinein. Das ist das eigentliche Gebiet der Alpen mit üppigen Weiden, rauschenden Bächen und waldigen Steilhängen.
Wir folgen dem Talwege weiter. Hinter Prodinto ( pro = prato, Wiese; dint = di dentro, innere; also = innere Wiese ) verengt sich das Tal. Die waldigen, steilen Hänge treten nah zusammen, im Grunde der Schlucht rauscht die wilde Leggiuna. Der gegenüberliegende, felsdurchsetzte Hang, den Wildbäche durchfurchen, ist ein Schlupfwinkel für Flugwild und den Jägern gut bekannt. Birkhähne, Schneehühner, Steinhühner und Haselhühner kommen da vor, soviel ich aus den Mitteilungen der Jäger und Älpler entnehmen konnte. Doch ist aus den mundartlichen Bezeichnungen nicht so unbedingt sicher die Beute fest- zustellen. Wie denn auch bei uns mancher Jäger am meisten Böcke schiesst, wenn man ihn nach den Namen irgendwelcher, nicht gerade häufiger Vögel befragt.
Aus der Enge tritt der Weg nun in den Talkessel von Leggiuno hinaus. Eine Alpweide und viel Schutt decken den ebenen Talgrund. Die Alpe Leggiuno mit 1380 m Meereshöhe ist die niedrigstgelegene Alp des Tales. Sie könnte wegen ihrer Höhenlage eher Maiensässe sein, aber dazu ist sie zu rauh. Ausser in den Sommermonaten scheint die Sonne wohl nur spärlich in diesen wilden Winkel hinab, und der Schnee bleibt lang liegen.
Im Talhintergrund stiebt von einer Terrasse ein herrlicher Wasserfall herab. Dort oben sonnt sich die Alpe Giumella. Recht hübsch ist der Aufstieg zu ihr hinauf. Der ganze Talkessel ist übrigens malerisch, besonders im Lichte der Abendsonne. Dann entfaltet auch der Wasserfall seine volle Pracht, und ich erinnere mich, wie ich einst vor vielen Jahren lang dem wundervollen Farbenspiel zusah. Regenbogen umschwebten den Fall, die Wassertropfen schienen in Perlen verwandelt zu sein. Üppig grüne Talhänge, überragt von dem dunkeln, ernsten Walde von Ardetto, schlossen das schöne Bild ein, über dem der warme Ton der Abendsonne lag. Das war nicht mehr das « Kalte Loch », wie ich im Unmute den Talkessel von Leggiuno einst titulierte.
Nach steilem, aber kurzem Anstieg ist Alpe Giumella erreicht. Auf dem Zickzackweglein stiess ich einst auf einen ansehnlichen Staurolithkristall. Es ist der einzige beachtenswerte Fund dieser Art, den ich je in diesem Tale gemacht habe. Übrigens wissen auch die Pontironesen selbst nichts von seltenen Mineralien zu erzählen. Da müssen also jene Granaten von Biasca, von denen Ebel ( Anleitung, die Schweiz zu bereisen ) sagt, dass sie bezüglich Schönheit mit denen des Orients wetteiferten und die man zur Zeit des Galeazzo Sforza bei Biasca reichlich fand, nicht aus der Val Pontirone stammen. Selbst Lavizzari, der doch in seinen « Escursioni nel Cantone Ticino » die Fundorte seltener Mineralien mit Vorliebe aufzählt, weiss in der Val Pontirone keine solchen 64 ).
Alpe Giumella liegt auf freiem, sonnigem Bühl mit herrlichem Ausblick. Die Hütten sind zahlreich, aber von primitiver Bauart und ganz aus Stein. Die Alpen Giumella, Leggiuno und Pratasc gehören zusammen. Denn wer auf Giumella alpnet, tut das nicht allein hier, sondern auch auf den beiden andern Alpen und einige sogar noch auf Alpe di Ardetto, so dass diese auch zu dieser Alpgruppe gezählt werden muss. In der Publikation « Gli Alpi nel Cantone Ticino » ist von den oben aufgezählten Alpen nur Giumella allein erwähnt, was mich veranlasst, anzunehmen, dass die andern 3 Alpen in den betreffenden statistischen Angaben inbegriffen sind. Danach ist Giumella zu Fr. 20,000 gewertet. Die Alpgruppe umfasst 230 ha mit 115 ha produktiver Weide. Wald gehört keiner dazu. Auf diesen Alpen werden 74 Haupt Gross- und 390 Haupt Kleinvieh gesömmert ( 1911 ) 65 ).
Neben den Hütten von Giumella, immer der Axe des Haupttales folgend, klimmt der Talweg zum Passo di Giumella empor. Die Einsattlung ( 2120 m ) ist bald erreicht. Man beschleunigt unwillkürlich die letzten Schritte, denn schöne, stolze Berge steigen jenseits auf. Eine ganze Reihe sieht man vor sich, wenn man endlich in der Einsattlung oben steht. Sie entragen dem Kamme, welcher die Val Calanca von der obern Mesolcina scheidet. Wer den Einblick in diese eigenartigen und schönen Täler des Bündnerlandes umfassender geniessen will, der erklimme den nahen Pizzo di Giumella, es wird ihn nicht reuen, und Künste sind keine erforderlich. Aber auch vom Passe aus ist der Anblick recht schön. Ich habe ihn vor vielen Jahren von unterhalb des Passes aus skizziert, zu Hause dann fertiggezeichnet, idealisiert, koloriert usw. Dann schickte ich Marci in Rossa unten eine Kopie und empfing dafür eine Karte mit den Worten: « Bello, stupendo, naturale, saluti Marci. » Mein lieber Leser, wenn Du je über den Passo di Giumella zu wandern gedenkst, so brauchst Du dieses Panorama ( Jahrbuch S.A.C. 1903 ) nicht mitzunehmen, denn Du könntest auf die Bosheit verfallen, es mit der Wirklichkeit vergleichen zu wollen, und das vertragen idealisierte Panoramen nicht. Stecke dafür lieber den Klubführer in den Rucksack, er kann Dir nützlich sein, denn es ist keine Kleinigkeit, den Weg ins Calancatal hinab nicht zu verlieren, wenn er inzwischen nicht verbessert worden ist. Ob der Baumgrenze geht es noch gut. Dann aber von Alpe di Naucolo an, wo Sennen von Monte Carasso ( bei Bellinzona ) alpnen, wird es schlimm. Item, Freund Lisibach und ich haben die Sache genau besprochen und ebenso im Klubführer niedergelegt, und wer ihn genau liest und sonst auch die Augen öffnet, wird irgendwo zwischen Rossa und Augio die Landstrasse erreichen.
Es will dem Leser vielleicht nicht einleuchten, dass auf einer Alp, weit hinten im Calancatal Leute von Monte Carasso alpnen, ausgerechnet von Monte Carasso, wohin man Sonntags von Bellinzona aus lustwandelt, um guten Nostrano zu trinken. Und doch ist dem so. Viele Alpen der Val Calanca sind nach auswärts vermietet, denn der Brauch, dass der Calanchino in die Fremde zieht ( vielfach als « vedrat », vetraio = Glaser ), entvölkert das Tal dermassen, dass es lange nicht genug Leute aufbringt, um alle Alpen selbst nützen zu können.
Nicht einmal zur Holzausbeutung hatte man genug Leute im Tal. Die « Borat » aus Pontirone zogen hinüber, um zu helfen. Das waldreiche Calancatal zog sie mächtig an. Mancher « Borat », der mit dem Beil auf der Schulter über den Giumellapass in die Val Calanca hinübergestiegen sei, habe schliesslich dort seinen Hausstand gegründet und sei zum « Calanchin » geworden, versicherte mir ein Pontironese. Derart seien die Pontironesergeschlechter Ganna, Capriroli und Papa in die Val Calanca und Mutalla in die Mesolcina verpflanzt worden. Etwas mag wahr sein an der Geschichte, wenn mir selbst auch keine solchen Fälle bekannt sind.
Dass der Passo di Giumella zur Zeit der eidgenössischen Invasion dem Verkehr zwischen den Herren der Mesolcina, dem Trivulzio und den Eidgenossen diente, habe ich schon an anderer Stelle erwähnt. Zu solchen Botengängen lag der Übergang allerdings exponiert, denn die Biaskesen und damit wohl auch die Leute aus Pontirone hielten grossenteils immer noch treu zu Mailand. Die Sympathien zu den Eidgenossen mögen besonders hier hinten nicht besonders gross gewesen sein, nachdem diese auf einem Beutezug Pontirone niedergebrannt und das Vieh weggeführt hatten. Wahrscheinlich wurde daher auch der weiter nördlich gelegene Passo di Remolasco benützt, der von der Val Calanca an durch Biegniesergebiet führt.
11. Der Querkamm des Pizzo delle Streghe.
Im Hintergrund der Val Pontirone erhebt sich steil der Pizzo delle Streghe ( 2909 m ). Erst spät wird man seiner ansichtig, wenn man auf dem Talweg zum Passo di Giumella wandert. Einen steil sich abdachenden Kamm schiebt er gegen Westen vor, mit dem er die Val Pontirone im Norden begrenzt. Jähe, gerippte Hänge, die im Sommer bis zu oberst begrünt sind, wendet der Pizzo delle Streghe unserem Tale zu. Gegen die Bocchetta di Borgeno hin gehen diese Steilhänge in schroffe Felswände über. Grundverschieden hierzu ist der Anblick des Berges von Norden. Auf jener Seite deckt ihn zu alleroberst ein kleiner Gletscher. Der Firn reicht an den Gipfelgrat heran, von wo er wie ein silbernes Band in die Täler hinausblitzt. Das Gletscherchen mag einst viel grösser gewesen sein als heute, denn lange Moränenwälle senken sich von ihm in den obersten Talkessel der Val Combra ab. Die Gegend ist auch beim frohesten Sonnenschein unsäglich schwermütig und verlassen, kaum dass ein Munggenpfiff die vom leisen Rauschen der Schmelzbäche durchwobene Stille unterbricht. Etwa eine Schafherde sieht man herrenlos zwischen den Steinbänken weiden und hoch über dem Sasso di Borgeno einen Adler seine Kreise ziehen. Finster wie eine Bergruine ragen die zerrissenen Felsen des Pizzo di Remia im Hintergrunde, während man von unserem Pizzo delle Streghe nichts gewahr wird, das man Gipfel nennen möchte. Dort, wo dieser liegt, wölbt sich der kleine Vadrecc di Padella, das schon erwähnte Gletscherchen. Und fast immer, man mag hinsehen, wann man will, mir wenigstens geht es so, schleichen dort Nebelschwaden um die Hänge. Das passt so recht in diese geheimnisvolle Einöde hinein. Wohl darum führte der Berg in der Val Combra einst den Namen « Piz di Strit », eine Bezeichnung, die heute dort fast vergessen ist. Sie stammt noch aus den Zeiten, da die Älpler sich nicht schämten, an einen Hexenspuk zu glauben. In Bern wurde dann im Bureau herausgefunden, dass Pizzo delle Streghe richtiger sei, und seither steht es so im topographischen Atlas. Warum, das e am Schlusse noch einen accento graveabkriegte, als man diesen Namen verballhornte, hat mich schon oft gewundert. Vermutlich ist irgendetwas aus der Kartenzeichnung in den Namen hineingeraten und hat sich nun dort für immer häuslich niedergelassen.
Die Besteigung des Pizzo delle Streghe ist aus der Val Pontirone recht lohnend und wenn man nicht auf eine besondere Anstiegroute versessen ist, gar nicht schwierig.
Der schwierigste der mir bekannten Aufstiege ist jener direkt vom Passo di Giumella aus. Die Schwierigkeiten liegen dabei, wie mir Herr Alberto Negretti erzählte, der diese Kletterei als erster machte, nur in der untern Gratpartie. Es hat aber eigentlich keinen Zweck, zum Passo di Giumella hinaufzusteigen, wenn man auf den Pizzo delle Streghe gelangen will. Aus der Val Pontirone und aus der Val Calanca bedeutet das einen Umweg, für den die Kletterei doch nicht hinreichend entschädigt. Gerade aus letzterem Tale hat man es sehr bequem und mühelos, an den Berg heranzukommen Steigt man von Alpe di Cassinarsa westwärts an, so erreicht man hoch oben über harmlose Hänge eine breite Bresche im Südgrat. Von dort ist der weitere Aufstieg kurz, etwas steil, aber ebenfalls ungefährlich. Wer es hoch im Sinne hat, findet auch aus der Val Calanca einen schneidigen Aufstieg. Direkt von der Alpe di Stabbiorello zum Gipfel, über die Ostwand hinauf muss es auch gehen. Unmöglich ist es noch lange nicht, dagegen auf alle Fälle touristisch neu.
Von der Alpe di Cerino, womit aber nicht nur etwa die nächste Umgebung der Schäferhütte gemeint sei, kann man nach Belieben zum Gipfel klettern. Im Sommer ist das ein Genuss. Überall spriessen auf dieser Seite Blumen in Biasca und Val Pontirone.
allen Farben, und zu alleroberst erfreuen einem noch die bunten Blüten des Mannsschildes und der Ranunkeln. Der Wechsel der Vegetation ist sehr interessant und auffällig.
Da man den Aufstieg am meisten aus der Val Pontirone und von dort am ehesten von der Alpe Giumella aus unternimmt, so möchte ich auf folgende Route als empfehlenswert hinweisen:
Von der Alpe Giumella führt etwas tiefer als der Passweg ein Pfad zur Schafalp Cerino hinüber, dem folgt man, und zwar bis man etwa in der Mitte der Mulde steht, die sich zwischen der Schäferhütte und dem Südgrat ausbreitet. Nun steigt man direkt auf den Ostgipfel ( P. 2909 ) zu, der höchsten Erhebung des Berges. Man kommt anfänglich über einige felsige Stellen, die Einheimischen nennen sie « Piott bianch » ( weisse Platten ), wo es aber gar nicht schwierig ist, durchzukommen Weiter oben hält man eher etwas nach rechts hinaus, aber nicht allzu früh! Derart erreicht man die schon erwähnte Bresche im Südgrat, zu der man auch von Alpe di Cassinarsa gelangen kann. Der weitere Aufstieg wurde schon beschrieben.
Auf etwas sei hier noch bezüglich dieses Aufstieges aufmerksam gemacht. Man breche nicht zu spät auf, denn wenn die Hirten von Cerino mit ihrer Herde zum Südgrat hinausziehen, in die Weiden von « Pro dro Ross » ( Prato del Rossi ), dann ist es für eine Partie, die sich unterhalb der Herde befindet, höchst ungemütlich. Es ist kein Trost, wenn einem ein Stein auf den Kopf fliegt, zu ahnen, dass der Stein nur von einem Lamm, dem Symbol der Unschuld und der Demut, losgetreten wurde.Vor acht Uhr morgens sind aber Schafe und Schäfer gewöhnlich noch nicht unterwegs. So unangenehm es ist, diese Herde über sich durchdefilieren zu sehen, so interessant, ja geradezu schön, ist der Anblick derselben von sicherer Stelle aus. Gut einen Kilometer misst die Herde, wenn Schaf hinter Schaf auf dem schmalen Pfade zur Weide zieht. Schon aus weiter Ferne fällt einem die eigenartige Prozession auf, die sich wie ein weisser Wurm, ein Dichter würde sagen Perlenschnur, durch die grünen Hänge windet. Etwa 500 Schafe beleben die Weiden von Cerino, die sich westwärts weit in die Hänge hinausziehen. In dem kleinen Hüttli hausen zwei « Pecré » ( Schäfer ) und wachen über ihre Schutzbefohlenen.
Der erste, der dem Pizzo delle Streghe Aufmerksamkeit erwies, indem er ihn in der Literatur näher beschrieb, ist Dr. Darmstädter. Er schreibt darüber in der Zeitschrift des D. Ö.A.V. 1893, Seite 237/238:
« Vom Passo Giumella, auf den uns ( aus der Val Calanca ) ein langer Zickzackweg hinaufführte, folgten wir einem Schafstieg, der sich am Südabhange des Berges gegen West hinüberzog. Bot derselbe auch durch die vielen Felsrippen manche halsbrecherische Passage, so war er uns doch hoch willkommen, da er uns schnell vorwärts brachte.
Gegen 6 Uhr verliessen wir diesen Steig und liessen die Alpe di Cerina zu unserer Linken liegen. Anfangs ging es über sehr steile Grashalden aufwärts, dann folgten Felsen, die durch den Neuschnee geglättet und unwegsam waren; doch ohne Unfall erreichten wir 9 Uhr 30 Minuten den Grat und 10 Minuten später die auf der Siegfriedkarte ,Pizzo delle Streghe'genannte Vorspitze. Ich vermuthe, dass ihr Name, Hexenspitze'mit den Hexenprozessen zusammenhängt, denen im Jahre 1583 das Calancathal auf Betreiben des Kardinals Carlo Borromeo durch den Inquisitor Francesco Borsato heimgesucht wurde. Doch wusste niemand im Thale Näheres darüber. Selbst der frühere Bezirkspräsident de Nicola, dem ich für so manche andere Information verpflichtet bin, wusste keine Auskunft zu geben. Die letzten Stunden waren wir im dichtesten Nebel gewandert, und wenn wir auch wussten, dass die höchste Spitze vor uns im Norden lag, so würden wir sie doch nicht gefunden haben, wäre nicht im richtigen Moment der Nebel gerissen und hätte uns zwei Felsspitzen gezeigt, die wie nackte, öde Riffe aufragten und von denen die zweite sich als die höchste erwies. Um zu ihr zu gelangen, mussten wir den auf der Westseite des Grates gelegenen Gletscher in nördlicher Richtung queren. Kurz vor dem Ende des Gletschers stiegen wir östlich gegen den Gipfelturm aufwärts, dessen Westwand in jähen, glatten Felsen sich aufbaute. Die Besteigung des Turmes nahm nur 38 Minuten in Anspruch, sie ging aber meist über überhängende Wände oder kleine halsbrecherische Kamine, in denen der reichliche Neuschnee uns viel zu schaffen machte. Nach dreiviertelstündigem Aufenthalt auf der kleinen Plattform, von der nach allen Seiten jähe Wände abstürzen, verliessen wir den Gipfel über den Nordgrat. Am Absturz des Nordgrates fanden wir ein kleines gegen Süd hinab-laufendes Band, das zu einem fast senkrechten Schluff führte, über den wir etwas bessere Felsen, als wir sie zum Aufstieg hatten benützen müssen, erreichten. Vom Ende der Felsen ging es auf Schnee hinab zum Passo di Remolasco, den wir um 12 Uhr 45 Minuten erreichten. » Auch diese Darstellung von Dr. Darmstädter ist nicht klar. Der Neuschnee machte die Tour viel schwieriger, als sie ist, und zudem ist die Geschichte mit dem Gipfelturm ein Nebelspuk gewesen. Dr. Darmstädter ist im Nebel neben dem eigentlichen Pizzo delle Streghe vorbeigegangen und hat den Gipfelturm des Pizzo di Remia erklettert, auf den seine Beschreibung recht gut passt. Erwähnt sei, dass der Pizzo delle Streghe allerdings, wenn man so will, zwei Gipfel hat. Den höheren Ostgipfel, der im Hauptkamme liegt, und den Westgipfel, der das grosse Vermessungssignal trägt. Aber wie schon gesagt, sind beide Gipfel leicht erreichbar und treten nur wenig aus dem Grate hervor. Aus der Beschreibung des Dr. Darmstädter scheint mir im übrigen hervorzugehen, dass er so ziemlich jene Route eingeschlagen hat, die ich hier empfohlen habe.
Ausser den erwähnten, « für Alpenklubisten standesgemässen Aufstiegen » ( wie Carl Seelig einst schrieb ) sind auf den Pizzo delle Streghe bis heute keine gleichwertigen Routen bekannt, und doch liessen sich diese mehren. Man hat mir in der Val Pontirone erzählt, es seien im Frühling 1921, als noch schwer Schnee in den Bergen lag, « quattro Zurigani » westlich der Schäferhütte von Cerino durch die seichte Runse zum Westgipfel geklettert. Dieser Aufstieg ist tatsächlich auch bei Schnee ausführbar. Angenehmer und sicherer ist es entschieden, wenn die Planggen aper liegen. Das ist oft sogar im Winter der Fall.
Wer die Val Pontirone betritt, um neue Klettereien zu machen, wird es bald heraushaben, dass am Pizzo delle Streghe die interessanteste noch gar nicht gemacht ist, nämlich die Erkletterung des Westgipfels vom östlichen Ende des Trümmertälchens Borgeno aus. Auch die Gratkletterei von der Bocchetta di Borgeno aus zum Westgipfel ist noch nie versucht worden. Dann käme noch, wie schon bemerkt, eine Ersteigung über die Ostwand, die recht jäh in die Val Calanca abbricht. Harmlos aber sind die Aufstiege aus der Val Combra.
Der Pizzo delle Streghe hat eine ganz beachtenswerte Aussicht, nicht nur in weite Fernen und auf die vergletscherten Berge der Adula, sondern besonders in die einsamen, eigenartigen Täler, die einem hier zu Füssen liegen. Das alles ist auch dann schön, wenn man auf einer « strada di vacch » zum Gipfel steigt.
Wie vorn erläutert, stammt die Bezeichnung des Berges im topographischen Atlas aus der Val Combra. In der Val Pontirone hört man ihn verschieden benennen: Pizzo di Cerino, Pizzo di Borgeno und auch Sasso di Borgeno. Die letztere Bezeichnung bezieht sich also nicht etwa auf die zwei Felszacken ob der Alpe di Borgeno, wie nach dem topographischen Atlas anzunehmen wäre. In der Val Calanca zählt man den Pizzo delle Streghe zum Fil di Remia.
Vom Pizzo delle Streghe senkt sich gegen Westen, zur Bocchetta di Borgeno, ein wilder Felsgrat ab. In gewaltigen Felswänden bricht dieser zu den Alpen Ardetto und Borgeno ab und verleiht dem Berge von Westen ein gar imponierendes Aussehen. Diesem Grate entragen die im topographischen Atlas als Sasso di Borgeno bezeichneten zwei Felszähne, von denen der Tessinerführer sagt, sie seien bedeutungslose Erhebungen. Sicher ist, dass drüben in der deutschen Schweiz die « Bedeutung » dieser Zacken längst entdeckt worden wäre. Unberührt wären sie kaum geblieben. So martialisch wie von Süden sehen die beiden Felszähne, von Norden besehen, allerdings noch lange nicht aus. Immerhin erfordert ihre Besteigung auch von jener Seite Kletterei. In der Val Combra nennt man den östlichen Felszahn « Cavali » ( cavallo = Pferd ), den westlichen « Gheppa » und die Einsenkung zwischen den beiden Zacken « Fenestra di Padella » ( Fenster von Padella ).
Nach dem Sasso di Borgeno senkt sich der Grat zur Bocchetta di Borgeno ( 2233 m ) ab. Der Zugang zu ihr aus der Val Pontirone führt über die Maiensässe Mazzorino und zweigt bei Fontana vom Talwege ab. Das Weglein steigt über Matten und an kleinen Äckern vorbei zur Hüttengruppe Tucedvai und dann ziemlich direkt auf Mazzorino zu. In dieser Gegend trägt der topographische Atlas einige Namen, die wahrscheinlich der Druckfehlerteufel geschaffen hat. So ist die Benennung « Tudnei » ganz unbekannt. Es sollte wohl heissen « Tücnef » oder « Tütnef » ( tutte nuove = alle neu, damit sind die Hütten gemeint; die Bezeichnung ist alt, und darum sind es heute auch die Hütten ). Auch Cavori ist falsch, richtig ist « Chievrei », oder wenn man den Pontironeserdialekt in Bern nicht für hoffähig hält, hätte man Cavrei schreiben können, nur nicht Cavori Ferner gibt es hier kein « Tenarino », die Gegend, wo dieses Wort im topographischen Atlas steht, heisst « Farrarino », was ebensogut klingt.
Mazzorino liegt am untern Rande des Waldgürtels, der sich durch die rechte Talseite zieht. Ein wohlgemodelter, rundlicher Hügel springt hier vor und fordert auf, die hübschen Berge ringsum anzusehen, und das lohnt sich wirklich. Unten im schattigen Tale entdeckt man die Kirche von Pontirone und die hellen Gemäuer des Schulhauses und des Pfarrhauses. Sonnig und froh breiten sich die gegenüberliegenden Höhen aus mit dem felsigen Grate des Pizzo Mottone. Zur Rechten zieht sich der gezackte Kamm des Drosetto ( 2403 m ) in die Val Blenio hinaus. Das Hauptstück aber ist der stolze Torrentone.
Vom aussichtsreichen Hügel von Mazzorino leuchtet in der Nacht vom 10. auf 11. Oktober nach althergebrachter Sitte ein grosses Feuer ins Tal hinab. Warum dies geschieht, weiss niemand zu sagen. Man weiss nur, dass es schon zu Urgrossvaters Zeiten so war. Und warum soll man sich nicht an einem recht grossen « Bariott » freuen, wo das Holz hier gar nicht rar ist. Jung und Alt haben jeweilen ihr Ergötzen. Die Kinder umtanzen das Feuer und machen dazu mit Hörnern, Kuhglocken und alten Sensen einen möglichst grossen Lärm und laufen dann noch einige Tage russgeschwärzt, fast wie Neger, herum. Solche Feuer zünden sonst in der Val Pontirone die Sennen an am Abend, bevor sie die Alp verlassen. Man signalisiert so im ganzen Tal herum und vielleicht wird das Feuer von Mazzorino ursprünglich auch mit irgendeinem solchen Brauche im Zusammenhang gestanden haben. Herr Lehrer Magginetti in Biasca meint, dieses Feuer stamme von dem Brauche her, dass am 12. Oktober die « Trasa » beginnt, d.h. die Wiesen zum freien Weidgang geöffnet werden.
Mazzolino ist ein Gewirr von steinbedeckten Hütten, die, wie alle im Tale, neu oder alt, bescheiden und schmucklos aussehen. Nur die kleine Laube ( « lübiov » ), gibt dem Ganzen gelegentlich einen etwas freundlicheren Anstrich.
Viel ist in Mazzorino nicht zu sehen. Seine Hütten sonnen sich dicht geschart am Hang. Davor steht eine kleine Kapelle, die in ihrer Bescheidenheit und Armut das christliche Ideal zwar noch besser verkörpert als die Peterskirche in Rom. Baufällig ist das Kapellchen geworden, und noch scheint sich seiner niemand erbarmen zu wollen. Im Gegenteil, ein Rohling hat sich sogar einmal die Glocke als Ziel zum Büchsenschiessen erkoren, und der Klang ist dadurch nicht reiner geworden. Selten ist Gottesdienst da oben, aber immerhin ist man die letzten Jahre in der Val Pontirone wieder etwas frömmer geworden, und es kommt wieder vor, dass auf den Alpen gelegentlich wieder Messe gelesen wird, was während einer Reihe von Jahren nicht mehr der Fall gewesen sein soll. Auch als es nicht mehr regnen wollte, hat man sich des alten Herrgotts wieder erinnert und Bittgänge unternommen, und sogar ohne Geistliche. Da mögen wohl viele jener modernen Leute den Kopf schütteln, die mit Protestkundgebungen so viel rascher ihre Wünsche in Erfüllung zu bringen verstehen.
Beim Aufstieg von Mazzorino zur Bocchetta di Borgeno fällt beim Zurück-sehen immer der Blick auf den gewaltigen Torrentone. Dieses Bild verschönert sich in dem Rahmen der dunkeln Tannen, die einen da oben umgeben. Zwischen und über Felstrümmer windet sich das Weglein aufwärts zu der im topographischen Atlas unbenannten Alpe Stabiello. Den Namen Stabiello findet man viel in den Tessinerbergen; er führt wohl auf « stabulum », das ist Stall, zurück. Dieses Stabiello ist eine kärgliche, waldumsäumte Weide, auf der das Wasser wie in der ganzen Gegend von Borgeno recht knapp ist. Man tut gut, sich in Mazzorino unten noch die Feldflasche zu füllen, wenn man da oben zu tun hat. Je höher man steigt, um so wilder wird die Gegend. Nicht nur die dräuenden Felswände des Sasso di Borgeno rücken näher, sondern auch die nächste Umgebung nimmt ein immer rauheres und ernsteres Gepräge an. Ein grosses Gebiet ist da oben in Trümmer zerfallen. Vier trotzige Felstürme sind übriggeblieben, die wie alte, zerfallene Raubschlösser herabschauen und der Gegend noch vollends den Stempel der Romantik aufdrücken. Die Älpler haben die beiden obersten Türme « il vecc e la veccia » ( der Alte und die Alte ) getauft und glauben, in ihnen menschliche Figuren zu erblicken. Da mir die Phantasie zu derartigem abgeht, so kann ich nicht entscheiden, ob die Pontironesi recht haben. Im Trümmergewirr, das die Felstürme umgibt, wurzeln flechtenbehangene Tannen, dazwischen grünen Alpen- rosenstauden und Wacholder. Der Rücken, den die Überreste eines ehemaligen Felsgrates bilden, fällt gegen den Sasso di Borgeno in ein weltvergessenes Tälchen ab, in dem einige kleine Grasplätze zwischen Felsblöcken eingezwängt liegen. Der Hang, der aber gegen den Sasso di Borgeno ansteigt, besteht nur aus steinschlaggenährten Ganden. Oben im Tälchen erblickt man die verlotterten Hütten der ehemaligen Alpe di Borgeno. Ihre Weiden sind schon seit vielen Jahren vergandet, und bald dürfte auch das letzte Flecklein Gras verschwunden sein. Nur noch für wenige Tage treibt der Hirt von Stabiello das Vieh hier hinauf, wenn unten die Weide knapp geworden ist. Der verlassene Bergwinkel von Borgeno ist so das rechte Heim der Murmeltiere. Hier sind sie besonders zahlreich. Zwischen den Blöcken und Steinen finden sie immer noch saftige Kräuter, und warm und sonnig ist es in dieser Einsamkeit; Wasser scheinen sie keines zu bedürfen, sonst kämen sie hier nicht vor. Gegen das verpönte Ausgraben schützt sie das Blockgewirr sicher. Dass aber verbotenerweise mit der « Trapola » ( Steinfalle ) gelegentlich ein Tier gefangen wird, möchte ich nicht abstreiten. Aber meistens werden sie doch weidgerecht geschossen, und auf die Mäuerchen mit der Schiessscharte, welche der Tessiner « Spia » oder « Spion » nennt, stösst man nicht selten. Auch mich hatte vor vielen Jahren einmal das Jagdfieber gepackt, und ich wartete hier oben eine lange, kalte Nacht hindurch mutterseelenallein den Morgen ab, um Munggen zu schiessen. Wäre ich ein Kind des Tales gewesen, ich hätte mir das Erlebnis erspart, denn als ich am Abend die Alpe di Borgeno betrat, schlich der Nebel das Schuttälchen herauf, während es ringsum schön war. Dieser Nebel gilt in der Val Pontirone als Vorbote schlechten Wetters, und wirklich rieselte am Morgen ein feiner Regen herab, und die Munggen blieben in ihren Löchern. In jener langen Nacht weckte mich der Steinschlag von den Wänden des Sasso di Borgeno oft aus dem Halbschlummer. Schaurig widerhallte es im Trümmertälchen, und mir kamen alte Sagen und Geschichten in den Sinn, die mir, in der Phantasie der Jugend, die Gegend gar grausig und unheimlich erscheinen liessen. Des Tessinerspruches gedenk « un fög fa già un po allegria » wollte ich ein Feuerlein anfachen, aber mit dem feuchten und vermoderten Heu und Holz war das nicht möglich, und so musste ich die ganze stockdunkle, geheimnisvolle Nacht hindurch dem Morgen entgegenharren. Seitdem kenne ich Borgeno besser als von den verschiedenen andern Besuchen her. Als ich am Morgen das Schutt-tälchen nach Alpe Ardetto hinabstieg, frierend und nass, war ich froh, mich dort am Feuer wärmen zu dürfen. Eine hübsche, junge Bäuerin hantierte am Herde und gab mir von der Milch, die gerade über dem Feuer hing. Wie staunte ich, als ich die Frau zufällig wieder ansah; ein Totenschädel grinste mir entgegen, und im ersten Augenblick war ich mir nicht recht bewusst, ob ich noch in Borgeno oben sitze oder hier unten. Ein Steinschlag hatte beim Wildheuen diese Frau so entsetzlich entstellt, dass die eine Gesichtshälfte eine grausige Grimasse wurde, während die andere die ursprünglichen anmutsvollen Züge bewahrt hatte.
Da just von Alpe Ardetto die Rede ist, will ich noch bemerken, dass jetzt von dort ein recht hübscher Waldweg nach Mazzorino hinausführt.
Die Bocchetta di Borgeno ( 2233 m ) erreicht man von Alpe di Borgeno über einen mit Felstrümmern bedeckten Hang. Jenseits öffnet sich die schluchtähnliche Val Combra, die sich obenaus zu einer flachen Mulde weitet. Darüber hinweg fällt der Blick auf das Rheinwaldhorn mit seinen Trabanten. Das ist das Schönste dieses recht interessanten Ausblicks. Keine kühnstrebenden Berge sind es, sondern meist wuchtige, massige, die in die Breite geraten sind. Breit und gross ist auch das Tal, das sich vom Rheinwaldhorn gegen uns absenkt, die grüne Val Malvaglia. Über schönen Alpweiden und weiten Schutthängen baut sich links die Berggruppe des Simano auf. Jäher ist der Aufbau der Berge zur Rechten, des Pizzo Cramorino und dessen Nachbarn. Über ihre Grate blinkt der ewige Schnee des grossen Rheinwaldfirns. Steile, magere Alpen hängen an jenen Bergen. Wir werden es noch erleben, dass sie wie so viele andere im Tessin nicht mehr benützt werden und der Verwilderung anheimfallen. Die Schrift « Gli Alpi nel Cantone Ticino » entwirft ein betrübendes Bild von der Val Malvaglia. Die Alpwirtschaft werde vernachlässigt, die Jungmannschaft wandre aus oder wende sich der leichteren Beschäftigung im Tale zu. Frauen, alte Leute und Kinder hätten die schwere Arbeit auf den Alpen zu verrichten. So wird es wohl sein. Nun aber, lieber Leser, streife einmal in der Val Malvaglia umher und kehre dann in die Val Pontirone zurück. Dann wirst Du den Eindruck bekommen, dass es da drüben doch noch um vieles besser steht, trotz der vielen in oben erwähnter Schrift gewiss mit Recht angeführten Mängel. Der Tessinerbergler war eben immer zu auswanderungslustig. Wenn dann noch gar im Tale die Verdienstmöglichkeit so gross ist wie in Biasca, so entstehen für die Alpwirtschaft wegen des Mangels an Jungmannschaft bedeutende Schäden.
Verlassen wir diese Gedanken, die nur trübe Aussichten eröffnen, der Zug zur Stadt und zur Fabrik ist nun einmal da, wir können dem Rade der Zeit nicht in die Speichen fallen. Aber statt Geld für die Armenier und zur Bekehrung von Negerkindern zu sammeln, könnte man eine Muster-Alpwirtschaft anlegen und den Tessinerbauer durch Taten statt durch Worte die vielfache Rückständigkeit ihrer Betriebe vor Augen führen. Bei gutem Auskommen würde vielleicht doch mancher kräftige Bursche gern Boggese ( Senn ) werden und nicht unbedingt Bremser, Weichensteller oder Fabrikler werden wollen oder gar zum Wanderstabe greifen.
Aus der Val Combra windet sich ein im topographischen Atlas besser als im Gelände erkennbares Weglein zur Alpe di Caldoggio ( die Bauern sagen Caldöz ) und dem Hang entlang weiter zum Hauptkamme hinauf. Das ist der Passo di Remolasco ( 2650 m ), so benannt nach der jenseitigen Alp, südlich deren Alpe di Remia liegt, die vor vielen Jahren einst der Kirche von Biasca gehörte. Heute besitzt diese keine derartigen Grundstücke mehr, selbst nicht einmal in der Val Pontirone, denn was sich dort an Kirchgut befindet, gehört der Kirche von Pontirone selber.
In den Passo di Remolasco mündet auch ein Pfad, der von der Bocchetta di Borgeno über Alpe Padella führt und den Talkessel, in grossem Bogen ansteigend, durchquert. Wer aber auf Alpe Padella nichts zu tun hat, den reut es gewiss, dort hinabzusteigen, und wer gewohnt ist, sich durch dergleichen Gelände pfadlos durchzuschlagen, kann getrost versuchen, sich direkt ostwärts zu wenden. Er verliert dabei nicht viel an gutem Wege, denn diese Pfade sind alle selten begangen. Wer steigt auf die Bocchetta di Borgeno, auf « il Basso di Ciavei », wie man in der Val Combra sagt? Ein Hirt, der nach verlaufenem Vieh sucht, ein Jäger und kaum alle Jahre einmal ein Bergsteiger.
Von der Bocchetta di Borgeno aus kann man in etwas mühseliger oder, wenn man will, abwechslungsreicher Wanderung, es kommt auf die persönliche Auffassung an, den Höhenkamm begehen, der die Val Combra von der Val Pontirone scheidet. Da geht es vielfach bergauf, bergab. Manche Erhebung lässt sich bequem in der Flanke auf Grashängen umgehen. Da und dort kann man auch etwa aus einem Geisspfad Nutzen ziehen. Der Ausblick von diesem Kamme ist recht interessant. Über die tiefeingeschnittenen beidseitigen Täler hinweg erblickt man zur Rechten die einsame Bergwelt der Adula und zur Linken die immer prächtige Torrentegruppe mit dem zum Pizzo Magno auslaufendem Grate. Dazwischen gruppiert sich ein unzählbares Heer von nahen und fernen Bergspitzen.
Mit dem Vordringen nach Westen ändert sich das Bild allmählich. Die Kulissen der Val Malvaglia schieben sich auseinander, und man sieht die firngekrönten Ausläufer des Rheinwaldhorns neben dem Pizzo Cramorino hervortreten. In steilem Aufbau erheben sie sich aus dem dunklen Talgrunde. Dann kommt allmählich der Blick in die Val Blenio hinzu. Zuletzt kann man vom Pizzo Greco, allerdings auf jähem Pfade, direkt in diese hinabsteigen. Man gelangt dann entweder zur Maiensässe Sulgone und von dort nach S. Anna, wo man den schon beschriebenen Talweg erreicht, der zur Leggiunabrücke hinunterführt. Oder man steigt über Monte Greco nach Malvaglia ab.
Auf dieser Höhenwanderung, bei der man es nicht versäumen wird, sich ein hübsches Edelweiss auf den Hut zu stecken, betritt man keine ausgesprochenen Gipfel, denn die Erhebungen ragen nicht bedeutend aus dem Kamme hervor und bieten nur wenig sportliches Interesse. Einzig der Pizzo Greco macht als Gratende, vom Tale gesehen, Figur.
Der Name Pizzo Drosetto ist in den angrenzenden Tälern unbekannt. In der Val Pontirone nennt man den Drosettograt bisweilen kurzweg « i Stagg » und in der Val Combra « Pianca lunga » ( Staggia und pianca bedeuten dasselbe, nämlich eine Grasplangge ). Die eigentliche Gratschneide bezeichnet dagegen der Pontironese als « Sul fit di Biasan » ( sul filo di Biasagno, d.h. auf dem Grat von Biasagno ). Der Name Pizzo Drosetto ist immerhin nicht schlecht gewählt, denn es gibt wenigstens ein Drosetto. Es ist das eine kleine Weide oberhalb einer andern, die « al Dros » heisst, und beide liegen in der Val Combra oberhalb Alpe Gruesca. ( Eine Alpe al Dros kommt auch am Monte di Biasca vor, unterhalb der Alpe di Corigiolo. ) Mit « Dros » bezeichnen hier, wie bei uns drüben, die Bergbauern die Erlenstauden. Der Pontironese unterscheidet genau zwischen Erlenstauden und der als Baum wachsenden Erle. Die letztere nennt er « Alden » ( Also ). « I dros », erklärte mir ein Pontironese, wachsen nie gerade in die Höhe, sondern sie legen sich immer dem Hange nach abwärts. Das haben unsere « Drosstuden » auch so, und wenn sie sich noch aufrecken möchten, so sorgen der schwere Winterschnee und die Lawinen schon dafür, dass sie sich wieder ducken und so wachsen, wie mir der Pontironese erklärt hat. Auch bei uns haben diese Stauden in den Berggegenden mancher Örtlichkeit zum Namen verholfen.
Nach dem topographischen Atlas käme die Bezeichnung Pizzo Drosetto der östlich des P. 2403 gelegenen Graterhebung zu, und Freund Lisibach hat das im Tessinerführer in diesem Sinne dargestellt. Dieser Gipfel, wenn man überhaupt so sagen darf, bricht in Fluhsätzen in die Val Combra ab, während sich aus der Val Pontirone die Grasplanggen bis zu oberst hinaufziehen. Die Aussicht ist recht schön.
Westlich dieses Gipfels quert ein Weglein, das von Nedi zur Alpe Gruesca hinüberführt, den Grat. Als Übergang eignet es sich viel besser als die im topographischen Atlas eingezeichnete « Forcula di Biasagno ».
P. 2403 ist wahrscheinlich die von Freund Lisibach mit Pizzo Quadro bezeichnete Erhebung, wiewohl seine Höhenangabe nicht damit übereinstimmen würde. Die Bezeichnung Pizzo Quadro vernahm ich merkwürdigerweise trotz Umfrage nirgends, weder in der Val Pontirone noch in der Val Combra. Dagegen hörte ich in diesen beiden Tälern den Gipfel als « Crastallon » bezeichnen und in der Val Pontirone ferner noch als « Staggia », was aber vielleicht für den ganzen Gratzug gilt.
Und nun die schon angeführte « Forcula di Biasagno ». Da sie den Einheimischen unter diesem Namen nicht bekannt ist und wohl sehr selten benützt wird, viel weniger als der erwähnte, weiter östlich gelegene Übergang, so liegt hier wahrscheinlich eine Verwechslung vor. Übrigens ist die Forcula di Biasagno des topographischen Atlasses ziemlich unglücklich gelegen. Sie mündet auf der Nordseite in die Val Biasagno aus, in ein mühsam begehbares, pfadloses Felstobel, durch das abzusteigen gewiss keinem Menschen einfallen wird. Und um zu diesem kaum begehrten Ziele zu gelangen, muss man von der Maiensässe Nedi aus noch einen Umweg machen. So unpraktisch sind die Leute hier nicht. Wenn man sich auf der Nordseite nicht mit dem erwähnten Tobel herumschlagen will, so halte man zu oberst stark nach rechts, so dass man auf Alpe Gruesca gelangt, wie im Tessinerführer ausdrücklich hervorgehoben wird. Ich möchte da nur noch beifügen, dass man bei diesem Abstiege auf einen Pfad stösst, der sich ungefähr oberhalb der Alpe Gruesca quer durch die Nordhänge des Drosettogrates zieht. Dieser Weg ist wertvoll. Man kann auf ihm den Abstieg in die Val Combra weiter hinter oder weiter vorn wählen oder sogar nach Monte Greco oder Sulgone nehmen, denn das Weglein zieht sich um den Berg herum. Die Einheimischen benützen dasselbe mit Vorliebe. Es beginnt über den obersten Weiden von Sulgone auf einer kleinen Terrasse des Westhanges, welche Pian di Celtra genannt wird, und führt, ungefähr in dieser Höhe bleibend, auf und ab über al Dros in die Val Combra hinein.
Der aussichtsreichste und schönste Punkt des Gratzuges ist unbedingt der Pizzo Greco ( 2236 m ). Von ihm aus sieht man die Val Blenio hinauf, bis in den Hintergrund der Val Malvaglia, man überblickt die ganze Val Pontirone und sieht nach Biasca hinab auf die Häuser von Ponte. Bei der grossen Steilheit des West-und Südabfalles dieses Berges ist eine rasche Ersteigung begreiflich. Ich möchte eine solche über Sulgone empfehlen und den Abstieg, damit dieser nicht zu knie-brecherisch wird, in die hintere Val Combra. Doch sind da noch, je nach der Jahreszeit, ebenso lohnende andere Abstiege und Querwanderungen möglich.
Schon früh im Jahre, oft schon zu Ostern, ist der Pizzo Greco auf der Südseite bis zu alleroberst schneefrei ( nach Herrn Dr. Blotti wäre die richtige Schreibart « Greco » ). Dann ist eine Besteigung empfehlenswert, wenn man sich auf diese Seite beschränkt. Im Spätherbst, bevor aber noch die Nordseite verschneit ist, rate ich zu einem Abstieg in die Val Combra. Aber nicht bolzgrad über Alpe Gruesca nach der Maiensässe Combra hinunter, sondern so, wie ich den Abstieg weiter hinten noch beschreiben werde.
Steigt man von Biasca zum Pizzo Greco an, so wird man den Weg wählen, der über S. Anna-Sulgone führt. Er zweigt bei den obersten Hütten von S. Anna ab. Die am Eingang der Val Pontirone jäh aufragenden, von urzeitlichen Gletschern glattgeschliffenen, dunklen Felsen drängen den Weg nach links hinaus auf einen jähen Hang, über dem ihn ein Tannenwald aufnimmt. Wie mancher, der unter schwerer Traglast nach Sulgone hinaufkeuchte, mag die schattenspendenden Tannen schon begrüsst haben. Flog da auch mir, der ich doch in der Morgenkühle einst diesen Hang hinanschritt, der Rucksack gar leicht vom Rücken. Ich wollte noch einmal um mich schauen, bevor ich in das Waldesdunkel trat, und was ich erblickte, war einer Rast schon wert. In die Flussebene des Brenno geht es unheimlich steil hinab. Gegenüber liegt breit und schwer der Monte di Sobrio mit seinen dunklen Wäldern, aus denen saftig grüne Weiden und Heumatten hervortreten. Alles ist so rundlich und weich modelliert, dass ein Skiläufer bei diesem Anblick sofort an schöne Abfahrten denkt. Hinten dort, beim Passo di Nara, in Schussfahrten und Bogen durch Waldwiesen hinabzujagen, wie freut man sich bei diesem Gedanken!
Aus dem Tannenwald, der als « Favra sacra » ( Bannwald ) S. Anna schützt, zieht sich das Weglein weit oben auf einen freien Bühl hinaus. Die Val Pontirone liegt als tiefe Schlucht zu Füssen, und gegenüber thront der Pizzo Magno als trotziger Berg. Eine sonnige Halde empor erreicht man nun rasch das erste Ziel, die Hütten von Sulgone, die, eng um eine Kapelle geschart, in einer Mulde an steilem Hange kleben. Luftig, auf der Bergkante draussen, steht noch eine andere Hüttengruppe, die « Cà d'fò » ( Case di fuori = äussere Häuser ), zum Unterschied zu der andern « Cà d' int » ( Case di dentro = innere Häuser ), heisst. Wohlgefällig ruht die Sonne auf den Matten und Hütten von Sulgone. Schon sehr früh grünen die Matten, und zeitig schmücken sich die Kirschbäume mit ihrem Blütenkleide. Die Sonne meint es nur zu gut. Oft sieht man vom Tale aus die Matten von Sulgone, braungebrannt nach Regen heischend, im Sonnenglast trauern. Zum Glück für die Maiensässe quillt hinten im Tobel ein Brunnen aus der Erde, von dem selbst « i piu vecc » ( die ältesten Leute ) sich nicht erinnern können, dass er je versiegt wäre. So interessant das kühne Nestchen Sulgone sich aus der Ferne ausnimmt, es ist wenig zu sehen hier oben. Rauchgeschwärzte Steinhütten und dazwischen als Überbleibsel aus alter Zeit da und dort noch eine « Touvra », ein Holzhäuschen. Auch diese sind fast schwarz gesengt von der Sonne, und sie sind fast noch kleiner als die im Tale. Keines dieser Holzhäuschen ist mehr bewohnt. Bei dem denkwürdigen Schneefall im Jänner 1895 wurde der Bewohner einer Touvra in seiner Behausung eingeschneit. Der Schnee fiel so hoch, dass der Mann aus dem obersten Fensterchen des « Sorrent » ( Estrich ) gerade noch hinauskriechen konnte, und er bekam hiervon einen so nachhaltigen Eindruck, dass er nach Australien auswanderte, wo er sich wohl oft etwas von dem Überfluss an Schnee herbeiwünschen mag.
Ein guter, etwas rauher Alpweg führt auch von Pontirone her nach Sulgone empor. Wenn man von der Kirche talauswärts wandert, geht man richtig. Der Weg steigt allmählich an, quert ein Tobel und führt unter den Steilhängen von Rovrin durch an einer Kapelle vorbei. Darauf steigt er steil an durch rauhe Hänge und ein Wäldchen und windet sich dann zu den innern Hütten von Sulgone empor. Dieser Zugang ist gut. Dagegen vermag ich nicht zu sagen, wie es sich mit dem Zugange verhält, der nach der Einzeichnung im topographischen Atlas den Talweg zwischen Pontirone und S. Anna verlässt. Auch die Einheimischen wissen nichts von einem Alpweg, der nach dieser Wegeinzeichnung verläuft.
Nicht unerwähnt will ich lassen, dass von Sulgone ein Felsenstieg, man nennt ihn « ol Pontid » ( das Brücklein ), nach Cugnasco hinüberführt. Das ist ein Kletterweg, und es heisst scharf aufpassen, dass man ihn findet und unterwegs nicht verliert, denn die Spuren sind schwach, aber benützt wird diese Verbindung. Nimmt man sich genug Zeit, so wird jeder, der zu klettern gewohnt ist, seine Freude haben an dieser Promenade. Sie nimmt zu oberst in der grossen Schlucht, der « Valle granda », die östlich Sulgone herabkommt, den Anfang. Im Grunde erleichtert ein Balken den Überstieg. Ist der nicht zur Stelle, so muss man höhersteigen, um hinüberqueren zu können, aber dann wieder tiefsteigen, um auf die Fortsetzung des Weges zu gelangen. Nun folgen abschüssige, mit lockerem Gehölz überwachsene Felspartien: Motta di tiarn ( der Arvenhügel ), hierauf jenseits einem Tobel ( Val dre lüvina = Lawinental ) « Reghiad » und dann « Tecc de ieir ». Dann gelangt man an die « Schiära » ( Scala ), eine luftige Felsenstiege, worauf man rasch Cugnasco erreicht. Ich bemerke ausdrücklich, dass diese Wanderung nicht harmlos ist, Klettergewandtheit und guten Orientierungssinn erfordert, aber recht interessant ist. Dass dem so ist, zeigt schon ein Blick vom Talweg aus.
Um nun auf den Pizzo Greco zu gelangen, den man auf Sulgone kurzweg « Mottone » nennt, steigt man von Sulgone bis zu oberst in die Matten hinauf, « in cima dei prati », wie der Tessiner zu sagen pflegt, hält etwas links und gelangt auf eine kleine Terrasse im Westabfall des Berges, welche « Pian di Celtra » heisst. Von dort führt der schon erwähnte Pfad in die Nordflanke, über die hinauf man, ohne die Val Biasagno zu betreten, ohne Schwierigkeiten die Spitze erklimmt. Ein grosser Steinmann mit Triangulationssignal verrät, dass sich auch die « Ingegneri » den freien Ausblick zunutze gezogen haben. Von Ponte Leggiuna bis zum Gipfel mögen es etwa 4-5 Marschstunden sein.
Im Frühling, wenn am Nordhang noch Schnee liegt, wird es besser sein, den Gipfel mehr von der West- bzw. Südseite zu erklimmen. Besondere Schwierigkeiten treten auch dort keine entgegen.
Auch von Cugnasco her kommt man leicht auf den Pizzo Greco. Die Schwierigkeiten dieses Aufstieges, und es gibt tatsächlich solche, liegen im Aufsuchen des Alpweges nach Cugnasco. Wer sich an die Wegeinzeichnung des topographischen Atlasses hält, erlebt nicht besonders angenehme Überraschungen, wenn er auf einen nur einigermassen gut gangbaren Weg gerechnet hat. Ich will nicht so unchristlich sein und dem Topographen, der diese Gegend 1911 revidiert hat, wünschen, er möge einmal in einer Regennacht auf seinem Pfade von Pontirone nach Cugnasco hinaufsteigen, denn Gelegenheiten zu einem Schritt ins Jenseits gibt es dort zu viele. Der einzig praktikable Weg nach Cugnasco beginnt viel weiter oben, bei Stampa. Dort geht es in die Schlucht hinein, die östlich von Cugnasco herabkommt. Der Weg windet sich an deren westlichen Begrenzung steil zur Felskanzel von Cugnasco empor. Die Anlage macht der bäuerlichen Ingenieurkunst Ehre.
Ob Cugnasco steigt man in vielen Zickzacks weiter nach Nedi hinauf, das auch eine Maiensässe ist und in früheren Zeiten wohl länger bewohnt war als heute, wo man nur einen Monat dort oben haust. Noch verkünden die Campi, die treppenartigen Äckerchen, welche « i vecc » einstens mit vieler Mühe anlegten, dass da oben auf 1800 Meter noch « Pomm ed Orza » fortkamen. An Sonne mangelte es nicht.
Von Nedi kann man nun etwas links in die Forcula di Biasagno ( des topographischen Atlasses ) hinaufhalten, um auf den Pizzo Greco zu gelangen. Schwierigkeiten gibt es keine.
Der Pizzo Greco schreibt sich heute im topographischen Atlas Pizzo Crico. Warum diese Umtaufe stattfand, wo doch die Bezeichnung von der Maiensässe Greco an der Nordwestkante ( die im topographischen Atlas ihren Namen beibehalten hat ) herstammt, ist nicht verständlich. In der Val Pontirone nennt man den Berg, wie schon erwähnt, kurzweg nur Mottone. Auch in der Val Malvaglia scheint die Bezeichnung des topographischen Atlasses, und zwar die neue und die alte, bei den Einheimischen nicht bekannt zu sein.
Will man zur Abwechslung vom Pizzo Greco in die Val Combra absteigen, so kann ich das empfehlen. Nur tue man das nicht etwa direkt über Alpe Gruesca zur Maiensässe Combra hinab, sondern man benütze den von Pian di Celtra sich am Nordhang taleinwärts ziehenden Pfad und steige auf Alpe d' Albis hinunter und von dort in den Talgrund, wo ein recht guter Alpweg mit mässigem Gefälle beginnt. Recht hübsch ist die Wanderung das Tal hinaus, dem rauschenden Bach entlang, durch Wälder und über Matten. Und erstaunt wird man auch sein, wenn man vernimmt, dass die Leute ihr Tal gar nicht Val Combra nennen, sondern Val Combro. Und ebenso heisst die gleichnamige Maiensässe am Talausgang.
Bald erreicht man die Alpe di Pulgabio, deren Hütten und Wiesen einen guten Eindruck machen, trotzdem auch hier Männermangel herrscht. Die Leute von Malvaglia sind in der Hauptsache noch Bauern und achten diesen Stand höher als die in Biasca, wo er fast ganz zum Nebenberuf hinabgesunken ist. Es freut einen, wenn man sauber gekleideten Leuten begegnet und gutgepflegten « Asen » ( Asini = Esel ), welche den geplagten Weibern zum Teil wenigstens die ungebührlich grossen Traglasten abnehmen. Immerhin Wandervögel sind auch die Bauern von Malvaglia. Im Herbst ziehen sie als « Marronat » ( Kastanienbrater ) in die Ferne, hauptsächlich nach Paris, und im Frühling kehren sie zurück. Diese Auswanderung hat zurzeit wegen der Valuta etwas abgenommen. Nach Dr. Blotti in Malvaglia beträgt die periodische Auswanderung 500 Personen. In Paris soll eine stabile Kolonie von über 1000 Malvagliesen sein.
Cosnigo erinnert dem Namen nach an die Schlossruine bei Semione unten, die im Volke ebenso genannt, aber als Serravalle bekannter ist. Vielleicht, dass diese Weide einst dem Castello Serravalle zugehörig war.
Immer schöner wird die Talwanderung, und der romantische Winkel bei Ponte Cabbiera, wo ein kleines Wirtshaus auf Gäste wartet, bildet einen passenden Abschluss. Bei Ponte Cabbiera betritt man das Haupttal, die eigentliche Val Malvaglia. Ein guter Saumpfad kommt hier das Tal herab. In der Tiefe donnert die wilde Orina, die man am Talausgange auf einer kühnen Steinbrücke, dem « Ponte Lavü », überschreitet. Sie und die Kapelle jenseits auf dem Bergrücken, von wo man bis in die Riviera hinaussieht, vergisst man nicht so schnell wieder. Hier ändert sich das Landschaftsbild plötzlich überraschend. Aus dem Blätterdache des Kastanienwaldes heraus tritt man unter eine Pergola, die den Weg anmutig überspannt. Nicht nur Schatten spendend, sondern auch herrliche, grosse Trauben, wenn man mit den freundlichen Bauersleuten ein gutes Wort spricht. Denn wem könnte es einfallen, einem geplagten Bäuerlein seine Früchte um nichts abzunehmen?
Also vergnüglich wandernd erreicht man Malvaglia, und zwar den untern Dorfteil, « alla Chiesa ». Bei der Bahnhaltestelle gibt es eine gute Osteria. Wer noch Zeit genug hat, den soll es nicht reuen, der Lukmanierstrasse etwas talaufwärts zu folgen. Man lernt dann ein typisches, originelles Tessinerdorf kennen, und vieles, das in Biasca heute leider verschwunden ist, hat sich hier gut erhalten. Da erblickt man am Hange, fast schon ganz in der Talebene, gar nicht selten eine « Touvra », und unwillkürlich fragt man sich, wie es möglich ist, zur heissen Sommerzeit in einem solchen engen, kleinen Holzhäuschen zu leben. Aber man lebte eben zu den Zeiten, als diese « Touvr » die übliche Behausung der Bergbauern waren, im Sommer nicht im Tal unten.
Die Kirche, welche dem südlichen Dorfteil den Namen verliehen hat, ist ein auffälliger, eigenartiger Bau. Keck und hoch ragt der Campanile, als wollte er sich mit den Bergen messen. Auf seinem Dache wachsen Bäumchen, von denen der Volksmund sagt, das sei so seit der Zeit, da die Buzza di Biasca niederging und ein See entstand, aus dem nur noch die Spitze des Campanile herausragte. Bunte, farbenfrohe Malereien, die das Alter allerdings gebleicht hat, schmücken die Kirchenfassade, vor der ein Platz mit steinernen Bänken und Mäuerchen die Kirchengänger vor und nach dem Gottesdienst zum fröhlichen Schwatzen und Politisieren einladet. An einem Samstag Abend steigen viele Leute von den Alpen und Maiensässen zu Tal « per mangia beng e per scolta la messa », wie mir ein Bauer erklärte. Und am Sonntag Abend zieht man wieder schwer bepackt den Alpen zu. Wie heimelte mich das an, dieses Sitzen auf dem Kirchenmäuerchen beim Einläuten. Wie habe ich in Ingenbohl so oft mit andern Spiessgesellen das auch getan, und jedes Maitli, das den Kirchenbühl heraufkam, verfiel unserer Kritik. Ich will nicht undankbar sein, aber von den Ragazze di Malvaglia sah ich einige Müsterchen, bei deren Anblick ich sofort dachte, ich gäbe dem Kirchhof mäuerchen von Malvaglia den Vorzug, wenn ich wieder jung würde.
Von den Osterien Malvaglias will ich schweigen. Jeder lese darunter nach eigenem Geschmack aus. Ich bin dort stets gut gefahren, wobei ich selbstverständlich keine Ansprüche stellte, die über das Landesübliche hinausgingen.
Die wilde Orina scheidet den Dorfteil « alla Chiesa » vom nördlichen, « alle Rongie ». Aus einer finstern Schlucht hervor quillt der ungestüme Bach, aus geheimnisvollem Schosse. Dunkle Felsen ragen beengend auf, als wollten sie zusammenstürzen. Mit Staunen entdeckt man zur Rechten hoch oben, wie ein Schwalbennest angeklebt, eine Burgruine. Wer mochte sich dereinst in dieser grausigen Schlucht dort oben in schwindliger Höhe eingenistet haben, und wer wagte es nur, dort oben zu bauen, an einer Stelle, die lang als unzugänglich galt, bis ein Geissbub aus der Val Pontirone bewies, dass auch ein « buon cristiano » über die glatten, grifflosen und feuchten Felsen hinauf die Cà di pagan ( Jahrbuch 57, Seite 106 ) zu erklimmen imstande sei.
Von« alle Rongie », der alten Saumstation des Lukmanierpasses, war hier schon die Rede. Längst sind das Geklingel der Maultiere und die Rufe der Säumer in den Gassen verhallt. Sogar die gelbe « Diligenza » ist verschwunden, seitdem das « Tram » das Tal hinauffährt. In diesem Dorfteil, etwas seitab im freien Felde draussen, steht ein altes, behäbiges Landhaus, von dessen Front grosse Heiligenbilder, die Regen und Sonnenschein von Jahrhunderten gebleicht haben, auf die neue Zeit herabschauen. Behaglich und weit ist auch das Hausinnere, das in seiner Art, wenn es heute auch dem ursprünglichen Zwecke entfremdet ist, an seinen Erbauer erinnert, an den alten Haudegen Ranzoni. Nach ihm nennt man das Haus heute « la casa Ranzoni », wo sein Besitzer nach stürmischem Erdenwallen im Kreise seiner Mitbürger einen heitern Lebensabend genoss und sich in seinem Frohsinn und Gleichmut nicht stören liess. Das Haus, das eine solche glückliche Seele barg, ist schon darum wert, angesehen zu werden.
Ein Feldweg führt nach Semione hinüber zur rechtsufrigen Talstrasse, und wer es nicht so eilig hat, dass er mit dem « Tram » nach Biasca hinausfahren muss, dem rate ich, auf diesem Umwege dorthin zu wandern. Man kommt an den im Laube der Kastanienbäume halbversteckten Ruinen des Schlosses « Serravalle » vorüber 66 ). Die stattlichen Mauerreste erinnern an versunkene Grösse und Herrlichkeit, an Welschlandfahrten deutscher Könige und an den letzten Zwingherrn, den « bösen Taddeolo », den die Rache eines Malvaglieser Bauern traf. Neben dem alten Gemäuer hat sich auf freier, aussichtsreicher Stätte die alte Schlosskapelle erhalten. Wenn man vor ihr steht, fällt es schwer, zu entscheiden, ob man dem « kleinen, malerischen Gotteshaus, wie sie Rahn nennt, den Vorzug geben soll oder der wirkungsvollen Bergszenerie ihres Hintergrundes. Weit öffnet sich der Talausgang, den der wuchtige Bau des Pizzo Magno stolz überragt. Der Vorhof der Kapelle diente nicht kirchlichen Zwecken allein, denn ernst thront ob der Türe die « Justizia ». In der Rechten das Schwert, in der Linken die Wage, mit Block und Richtbeil zu Füssen erzählt sie aus alten, dunklen Zeiten, da hier Recht gesprochen wurde.
12. Die Torrentegruppe.
Nachdem wir nun die rechte Talseite durchwandert haben, die Sonnseite mit ihren Maiensässen an steilen Hängen, wenden wir uns der andern Talseite zu, die im Schattenhalb liegt. Der Gegensatz ist auffallend. Die Berge sind hier höher und tragen Firn und Eis, aber die Alpen sind weniger wild und die Hänge gebuchtet. An Wasser ist kein Mangel.
Von der Alpe Giumella, oben am gleichnamigen Passe, steigt südwärts durch den schuttbedeckten Talkessel ein Pfad zu den Hütten von Pratasc hinauf. Man entdeckt sie aus der Ferne nicht leicht, denn grau wie die Ganden ist auch ihr Gemäuer. Wenn der Schnee einmal weg ist, sieht es da oben nicht so unwirtlich aus, denn ein üppiges Grün sprosst zwischen den Steinen, und der « Pratasc » ( Prataccio ), was schlechte Wiese heisst, bietet dann für einen ganzen Monat gute Weide, nur mangelt es an Holz, und die Leute müssen es mit vieler Mühe weit heraufschaffen. Im topographischen Atlas steht Pra da Porchè, eine in der Val Pontirone heute ganz unbekannte Bezeichnung. Man soll allerdings früher « Pro de porcheï » gesagt haben, wie man mir mitteilt. Da aber in der Mundart statt porcheï persc gesagt wird, bin ich etwas im Zweifel, ob diese Angabe stimmt.
Pratasc ist ein geeigneter Ausgangspunkt für Besteigungen. Man kann es mit der Unterkunft hier oben genau so gut oder, aufrichtig gesagt, so schlecht treffen wie auf Alpe Giumella unten. Denn wenn ich daran denke, wie ich dort einst übernachtete, so ist mir das nach dem Spruche « Gehabte Schmerzen, die hab ich so gern », eine sehr köstliche Erinnerung. Es war mir ein Gädeli als Schlaf-quartier angewiesen worden, und ich hatte es nicht beachtet, dass das Dach sehr schadhaft war, wahrscheinlich, weil es den Geissen als Turnierplatz diente. Als dann mitten in der Nacht ein Gewitter losbrach, ging es mir recht übel. Mit raffinierter Bosheit bestrichen Wasserstrahlen den ganzen Raum, es blieb mir keine einzige trockene Ecke. So ging es, bis es tagte, und als ich in Not und Bedrängnis einmal laut auffluchte: « Es ist zum Teufel holen », erschien dieser flugs vor der Tür. In der freien Öffnung, die nur ein halbhohes Gatter abschloss, stand plötzlich ein grosses, zottiges Ungeheuer, das sich gar drohend vom blitzzuckenden Hintergrund abhob. Dieser Bote der Unterwelt « böckelte », und nun weiss man doch genau, dass ein solcher nach Schwefel stinken sollte, folglich gelang es mir nun leicht, ohne Anrufung der guten Geister den Spuk zu verjagen. Enttäuscht zog der Geissbock von Giumella weiter, vielleicht zudem noch ergrimmt, weil ihm, einer « bestia premiata », so ein zugelaufener « stranier » das Obdach streitig machte.
Und auch das andere Mal, da ich viele Jahre später da oben nächtigte, verwöhnte mich noch kein Komfort. Ich hätte mich aus besonderer Vergünstigung zu sechs giovanotti hochkant auf eine Pritsche legen dürfen. Aber ich schlafe nicht gern in Sardinenformation und zog es vor, am Feuer auf dem nackten, harten Bretterboden zu liegen, und ohne Zweifel hätte ich so ganz gut geschlafen. Aber unter mir ging es bald fürchterlich zu. Weil es auch diesmal wieder wie aus Kübeln goss, hatte man das Vieh unter Dach getrieben, und da konzertierten nun unter mir Kuh, Kalb und Schwein um die Wette; muhten, plärrten und grunzten. Dazu schüttelten sie fleissig die Köpfe und begleiteten das Vokalkonzert mit Schellengebimmel. Abgefeimte Pausen kamen vor, die einem eintretende Ruhe vortäuschten, aus denen der Radau aber wieder mit aller Wucht einsetzte. Schon auf gar mancher Alp im Tessin habe ich genächtigt, und das hatte oft etwas Biwakmässiges, aber nirgends war es so bös wie auf Alpe « Giumella », und ich glaube, auf Pratasc oben hätte ich es nicht schlimmer treffen können.
In der Umrahmung des Talkessels von Pratasc öffnet sich gegen Osten eine breite Scharte, der Passo Vedrino ( Mundart « Vederin » ), der auf die Alpe di Naucolo, in die Val Calanca hinüberführt. Der Übergang ist im topographischen Atlas eingezeichnet, aber unbenannt. Im Tessinerführer steht infolge eines Irrtums die Bezeichnung Passo di Naucolo. Vom Passo Vedrino kann man nicht nur zur Terrasse von Naucolo niedersteigen, sondern man kann weiterhin, den Passo Murello benützend ( siehe Tessinerführer ), in die Südflanke der Torrentegruppe gelangen, was für touristische Unternehmungen Vorteile bieten kann.
Nördlich des Passo Vedrino erhebt sich der leicht zugängliche Pizzo di Giumella ( 2443 m ). Was die Aussicht betrifft, für den Passo di Giumella eine wertvolle Ergänzung, denn von dem eingeschnittenen Joche aus ist der Blick beengt. Auch die Bezeichnung Pizzo di Giumella ist ein gemachter Name und den Einheimischen unbekannt. Sie nennen die Erhebung « Sul fit d'red » ( Sul filo della rete ) weil mit « i red » = le reti, d. i. die Netze, der Hang oberhalb der Alpe Giumella bezeichnet wird.
Den vom Passo Vedrino südlich ausbiegenden mauerähnlichen Grat nennt man in der Val Calanca Fil di Naucolo. Die Bezeichnung « Fil » ist charakteristisch für das genannte Tal und insofern auch ganz nett, als sie etwas Abwechslung unter das ewige offizielle « Pizzo » bringt. « Fil » heisst in der Berglersprache der Mesolcina, Val Blenio und Leventina Grat, womit auch der Gipfel gemeint sein kann. Es war daher nicht absolut nötig, dass man in Bern aus dem Fil di Naucolo eine Cima di Naucolo machte ( siehe topographische Karte 1: 100,000 ). Dieser Grat trägt an seiner höchsten Stelle ein trigonometrisches Vermessungssignal und im topographischen Atlas die Höhenzahl 2740,6 m. Da er nun einmal in einer offiziellen Karte einen Namen besitzt, wenn nicht gerade im topographischen Atlas, so will ich daher diese Erhebung Cima di Naucolo nennen. Sie ist der östliche Eckpfeiler des wilden Querkammes, der sich von der Val Calanca bis in die Riviera hinüberschiebt und in der Hauptsache die südliche Begrenzung der Val Pontirone bildet. In seinem ganzen Verlaufe fällt dieser Querkamm gegen Süden steil ab, von Sta. Domenica bis hinüber nach Osogna. Unter dem Pizzo di Termine, hauptsächlich aber unter dem « Torrentone », entwickeln sich diese Südabdachungen zu wilden Abstürzen.
Die Cima di Naucolo erreicht man aus dem Talkessel von Giumella ohne jede Schwierigkeit. Zu oberst erleichtert ein harmloses Gletscherchen den Anstieg in angenehmster Weise. Auch von Osten gewinnt man den Gipfel ohne Gefahr, nur etwas mühseliger als von Giumella aus. Anders verhält es sich mit der Südwand. Diese durchkletterte am 17. Juni 1906 Alberto Negretti allein im Abstiege. Allzu schwierig sei das nicht gewesen, erzählte er mir, denn die Steilstufe, welche die Südwand des Torrentone zu unterst durchzieht und welche selbst die klettergewandten Jäger dieser Gegend umgehen, beginnt erst etwas westlich der Fallirne der Cima di Naucolo. Bis zur Bocchetta di Piove di dentro hinein weist diese Steilstufe keine einzige schwache Stelle auf. Erst dort oben gibt es einen den Jägern bekannten Schlupf, den, welchen Negretti und Lisibach zur Erklimmung des P. 2948 benutzten ( siehe Seite 46 ).
Ein recht interessanter Punkt ist diese Cima di Naucolo. Die Val Calanca liegt als langer, tiefer Graben zu Füssen, so tief, dass man die Dörfchen in ihrem Grunde nicht sieht. Von den Gletschern des Zapporthorns bis hinab zum Talausgange von Sta. Maria durchmisst der Blick das Tal. Eine Reihe weltvergessener Berge, von denen kaum alle zwanzig Jahre einmal im Jahrbuch die Rede ist, scheidet die Val Calanca vom Haupttale, der Mesolcina. Es juckt mich in allen Gliedern, wenn ich je in diese « Terra incognita » hinüberschaue, wo in meiner Jugendzeit noch tapfer Bären geschossen wurden, und jedesmal erfüllt es mich mit gelindem Stolz, dass ich auch noch am letzten Bären geschmaust habe, der in der Mesolcina geschossen wurde. Das war im Herbst 1891, wenn ich mich recht erinnere 67 ).
Von der Cima di Naucolo zieht sich ein mauerähnlicher Grat zum Pizzo di Termine hinüber. Der Grat ist leicht zu begehen und löst sich vor dem Pizzo di Termine in einen Schuttrücken auf.
Im Pizzo di Termine ( 2867 m ) löst sich der sekundäre Kamm ab, der die Talkessel von Giumella und Sciengio voneinander scheidet. Aus der Val Pontirone betrachtet, fällt dieser Gipfel nicht besonders auf, und so ist denn auch sein Name « Piz da Termen » nicht recht geläufig und gehört ihm gar nicht zu. Man zählt den Pizzo di Termine vielmehr zum Torrentone, ohne ihm einen besondern Namen einzuräumen.
Die erste touristische Ersteigung des Pizzo di Termine erfolgte am 17. Juni 1892 durch Dr. L. Darmstädter mit J. und G. Stabeier anlässlich der Erstersteigung des P. 2948 ( damals im topographischen Atlas Torrone d' Orza genannt ). Die Besteigung ist nebst vielen andern in der Zeitschrift des D. O. A. V. 1893 unter dem Titel « Aus einem vergessenen Exkursionsgebiet des S.A.C. » beschrieben, und ich lasse hier den betreffenden Abschnitt als ein wichtiges Dokument der Besteigungsgeschichte der Pontironeserberge folgen. Also ausgerechnet ein Berliner und zwei Tiroler mussten kommen, um uns Schweizer auf die schönen Berge des Tessins aufmerksam zu machen. Aber es glückte ihnen nicht, diese Berge blieben auch lange nachher noch unbeachtet. Selbst der Tessinerführer hat hieran, gottlob, noch wenig geändert. Wenn die Tessinerberge von alpinen Heerscharen so überlaufen würden, wie etwa diese und jene Berggegend der deutschen Schweiz, so würden sie ihrer schönsten Eigenart, ihrer herrlichen Einsamkeit beraubt. Dass dies jammerschade wäre, sagen wohl alle, die sie kennen und lieben.
« Die Alpe di Naucolo, von wo aus die Besteigung geschehen sollte, liegt über dem schroff aufsteigenden, felsgekrönten Rücken, der einer Mauer gleich die Val Calanca zwischen Augio und Rossa westlich einfasst. Wir stiegen dicht hinter der Häusergruppe Torca, die zwischen Augio und Rossa gelegen ist, den Weg zu den Monti della Paré, einem ausgedehnten Maiensäss, hinan und gelangten von da durch den Wald zur Alpe di Naucolo, wo wir alles überflüssige Gepäck zurückliessen, da wir die nächste Nacht dort zu biwakieren gedachten. Hier erscheint zuerst die vordere Terminespitze als schlank in die Höhe sich thürmender Schneegrat. Wir wenden uns nun der Scharte zu, die südlich des Pizzo Giumella nach Pra da Porchè öffnet, steigen vom Joch einige Schritte auf dem südlich führenden Grat abwärts und streben auf der Westseite des Grates der Nordostwand des Massivs zu, auf der wir über steile Schneefelder in 2700 m Höhe den Grat erreichen. Auf luftigem Pfade gehen wir dem Grat entlang, vorsichtig die an vielen Stellen gegen das Agrothal überhängenden Wächten vermeidend. 11.25 Uhr stehen wir auf der 2867 m cotierten Vorspitze. Die Westseite der Vorspitze ist aus glatten, steilen Felsen aufgebaut, die zum Überfluss mit Neuschnee überdeckt sind. Schritt für Schritt und mit peinlichster Vorsicht steigen wir zu der südwestlich gelegenen Scharte hinab, dahinter erhebt sich, westlich einer zweiten Vorspitze, der höchste Turm des Pizzo di Termine... » Diese Besteigung fand am 17. Juni 1892 statt. Da sich die Benennungen Dr. Darmstädters mit denen des topographischen Atlasses und mit den ortsüblichen nicht überall decken und noch anderes nicht ohne weiteres klar ist, so sei hier noch folgendes erläutert: Dr. Darmstädter stieg über den Passo Vedrino in die Val Pontirone hinüber. Die vordere Terminespitze, die sich ihm als türmender Schneegrat darstellte, ist die Cima di Naucolo ( 2740,6 m ) mit ihrem Verbindungsgrat zum Pizzo di Termine. Die mit « 2867 m cotierte Vorspitze » ist der Pizzo di Termine selber, denn dieser trägt die angeführte Höhenzahl. Von hier an wird die Beschreibung überhaupt unklar. Vielleicht hat der Nebel getäuscht, oder Dr. Darmstädter hat seine Schilderung etwas spät aus der Erinnerung niedergeschrieben.
Über die Westseite der « Vorspitze » des Pizzo di Termine, womit er also den eigentlichen Gipfel P. 2867 meint, geht es tatsächlich sehr steil und über glatte Felsen in eine Scharte hinab. Es ist das jene, die, aus der untern Val Pontirone gesehen, so sehr auffällt, weil der obere Buglionegletscher in sie hinaufreicht und ihre tiefste Stelle mit Firn bedeckt. Diese Scharte scheidet den Pizzo di Termine vom Torrone alto. Dr. Darmstädter suchte aber den Pizzo di Termine noch weiter westlich, was mir eine irrtümliche Auffassung zu sein scheint. Der Pizzo di Termine, auf dessen Namen ich noch zurückkommen werde, gipfelt in zwei trümmerbedeckten Kuppen. Von der niedrigem Kuppe, der östlichen, senkt sich der sekundäre Kamm ab, der die Talkessel von Giumella und Sciengio voneinander scheidet. Die östliche, höhere Erhebung trägt die Kote 2867.
Aus der Val Pontirone betrachtet, fällt einem dieser Gipfel von keiner Seite auf, man zählt ihn zum Torrentone, und wenn man jetzt gelegentlich in der Val Pontirone von einem « Piz da Termen » spricht, so ist das nur der « Carta geografica » zu verdanken. Es gibt zwar einen Berg solchen Namens, aber er liegt in der Val d' Osogna drüben, und er wurde in der ersten Ausgabe der topographischen Karte 1: 100,000 auch ganz richtig benannt. Später hat es dann beliebt, die Bezeichnungen zu vertauschen, und so ist P. 2867 zu einem schönen Namen gekommen.
Der sich vom Pizzo di Termine in die Val Pontirone absenkende Kamm kann in seiner untern Partie an drei Stellen ohne Schwierigkeit überschritten werden. Einer dieser Übergänge ist im topographischen Atlas sogar eingezeichnet. Auch die Gratschneide selbst wird von den Jägern, mit Ausnahme der obersten Partie, begangen. Die Einheimischen nennen den obern Teil des Kammes, der zwischen dem Pizzo di Termine und dem im topographischen Atlas eingezeichneten Übergang ( Senta del bò ) liegt, « I verd ». Von einer Begehung des allerobersten Teiles dieses Kammes ist mir nichts bekannt. Es schärft sich derselbe in eine Gratschneide zu, welche in den Talkessel von Pratasc sich plattig abdacht und gegen den Buglionegletscher hohe Felsabbrüche aufweist. Die Gratschneide senkt sich dann plötzlich in einem Schwunge in die Tiefe und verläuft hierauf weniger steil. Diese weniger steil verlaufende Partie der Gratschneide wird begangen. Vom obern Buglionegletscher führen schuttbedeckte Bänder zu ihr hinaus, genau zur Stelle, wo der Aufschwung zum Pizzo di Termine anhebt. Die Wanderung über die Schneide « I verd » ist unterhaltsam. Erst geht es ganz bequem, dann fängt bei einem Gratabbruch das Klettern an, und weiter unten gibt einem ein Gendarm Arbeit. Es hat aber keinen Zweck, bis zum « Senta del bò » hinabzuklettern, wenn man nicht auf Gratkletterei erpicht ist, denn um in den Talkessel von Pratasc zu gelangen, tut man besser, die Gratschneide bald nach rechts zu verlassen, am besten oberhalb des erwähnten Gratabbruchs. Steil über Plattenhänge geht es in die Tiefe. Aber wenn man die rechte Stelle erwischt und, wie bemerkt, der Gratschneide nicht zu weit abwärts folgt, ist diese Überquerung leicht.
Noch leichter gelangt man vom obern Buglionegletscher nach Pratasc hinüber, wenn man gar nicht auf « I verd » hinaufsteigt, sondern auf die Westseite an ihren Hängen entlang zur « Senta del bò » absteigt. ( Bei der weichen Aussprache würde vielleicht besser « Senda de bò » geschrieben. ) Die Senta del bò ist der im topographischen Atlas eingezeichnete und mit der Höhenzahl 2298 m markierte Übergang. Im Tessinerführer trägt der Geisspfad irrtümlich die Bezeichnung « Passo Vedrino ». Senta del bSentiero del Bove, was auf deutsch soviel wie Ochsenpfad heisst, ist eine ziemlich deplacierte Bezeichnung. Für Geissen eignet sich das Weglein entschieden besser als für Ochsen. Herr Dr. Käppeli vermutet, dass dieser Übergang benutzt wurde, um die Kühe von Pratasc nach Alpe di Sciengio oder Cava zum Stier zu führen. Das würde den Namen allerdings gut erklären. Vielleicht war der Übergang früher besser. Schwierigkeiten bestehen indessen gar keine, wenn man sich an die Angaben des Tessinerführers hält. Vertraut man sich dagegen dem topographischen Atlas blindlings an, so kommt man bald ins Klettern. Das Weglein, dessen Spuren nicht überall deutlich sind, führt von Pratasc in die obere Val Sciengio hinüber. Diese rauhe, steinige Einöde, durch die Gletscherbäche niederrauschen, nennen die Einheimischen « el Buiung », was, wie mich ein Pontironese belehrte, « Buglione » geschrieben werden soll und was ich anmit pflichtschuldig befolge. Auch die Gletscher benennt man kurzweg mit « Buiung » und ebenso die oberste Alp in der Val Sciengio. Buiung dürfte wohl mit « Buglio » = Nebel erklärt werden. Die Einheimischen sind sich über die Bedeutung des Wortes nicht klar.
Von der Senta del bò aus geniesst man einen flotten Blick auf die westliche Torrentegruppe und die zu deren Fuss sich ausbreitenden üppigen Alpen von Fontaio, Sciengio und Cava und auf die schönen, dunklen Tannenwälder im Talgrunde.
Wer Lust zum Klettern und gerade Zeit dazu hat, dem rate ich, dem Grat nordwärts zum Scarione hinaus zu folgen. Er wird allmählich zur Schneide, und schliesslich durchbricht ihn eine enge Scharte, in die hinab man am raschesten vermittels des Seils gelangt. Auch über diese Scharte führen Wegspuren. Von Pratasc kann man hier in die Westhänge des P. 2347 hinübergelangen, wovon wahrscheinlich die Geissen am meisten profitieren. Über Platten geht es sodann in luftiger Kletterei in wenigen Minuten auf den im topographischen Atlas mit « Scarione » betitelten Gipfel ( P. 2347 ). Derselbe heisst bei den Einheimischen Crostallung; ferner bezeichnen sie das Gratstück vom « Senta del b » bis zum P. 2347 hinaus kurzweg als « sul fit » oder « sul fit da Pratasc » ( auf dem Grat ). In mächtigen Plattenschüssen fällt der Gipfel gegen Osten ab. Auch gegen Westen ist der Abfall steil, aber mehr begrast und gangbar. Und da nördlich des Gipfels eine Einsattlung liegt, in die man von Pratasc unschwierig gelangt, so kann man P. 2347 von dort aus auch auf einfachere Weise ersteigen als über den Grat hin.
Die vorerwähnte Einsattlung heisst man Bocchetta di Bidenc und das sich von ihr aus nach Westen absenkende Tälchen Valle di Bidenc.
Das Gratende, P. 2257, ist nun leicht zu erreichen. Im topographischen Atlas trägt es den Namen Pizzo Porchè, eine in der Val Pontirone vollkommen unbekannte Bezeichnung. Dagegen bezeichnet man mit Scarione die nördliche Abdachung des P. 2257, die von Runsen durchfurchten, steilen, mit dichtem Unterholz bekleideten Hänge, die als Schlupfwinkel für Jagdwild bekannt sind. Auch den ganzen Berg nennt man etwa Scarione, d.h. die nördliche Partie. Der Name Scarione hätte also besser zu P. 2257 gepasst als zu P. 2347.
Von beiden dieser kleinen Gipfel aus hat man eine recht interessante Rundsicht. Man steht auf ihnen im Zentrum der obern Val Pontirone und überblickt nicht nur die das Tal umschliessenden Berge sehr gut, sondern auch in den Talgrund mit seinen Buchten dringt der Blick unbehindert. Das Hauptstück aber ist und bleibt der Torrentone. Er ist der Herrscher des Tales, ein stolzer Berg, dessen höchste Erhebung ( 2948 m ) im topographischen Atlas jetzt den Namen Torrone alto trägt.
Ich weiss es, ich setze mich mit dem offiziellen topographischen Atlas in Widerspruch, wenn ich kurzweg Torrentone schreibe. Aber es ist nun einmal so, dass man in der Val Pontirone das ganze Bergmassiv mit diesem Namen belegt, und hieran möchte ich festhalten. Übrigens wiedergibt die topographische Karte 1: 100,000 eine ähnliche Benennung ( Torrente ) genau in diesem Sinne. Für die Benennung der einzelnen Erhebungen benutze ich die Namen, welche in der neuesten Ausgabe des topographischen Atlas enthalten sind, denn der Tourist wird sich an diese halten. Darüber, wie die Einheimischen die verschiedenen Gipfel benennen, wird der Kommentar Aufschluss geben. Auch über die merkwürdigen Wandlungen, die diese Bergnamen die letzten Jahrzehnte erfahren haben 68 ).
Fast ein Dreitausender ist der Torrentone, und was besonders beachtenswert ist, der südlichste Berg im grossen Südkamme des Rheinwaldhorns, der noch Eis und Firn trägt. Sein Fuss reicht beinahe in die sonnendurchglühte Riviera hinab, wo Trauben und Edelkastanien reifen. Aber dieser äusserste südliche Posten der Eisregion der Adula ist unbekannt. Jahre vergehen, bis wieder einmal ein Bergsteiger seine Wildnis durchstreift. Die einheimischen Jäger dagegen kennen den Berg, zählen sie ihn doch zu ihren dankbarsten « Jagdgründen ». Den touristischen Erstersteigungen und den meisten Routen dürften Begehungen durch Jäger vorausgegangen sein. Doch dadurch verliert der Berg wenig von seinem Reize, bietet sich doch auch so noch für den Bergsteiger allerlei Gelegenheit, seinen Schneid zu entfalten, und es ist keine Herabwürdigung, sich im Klettern mit den Jägern aus Pontirone und der Val Calanca zu messen. Diese Leute haben ihre Kletterkunst gelegentlich auf schwierige Proben zu stellen, wenn es gilt, verkletterte Ziegen oder Schafe herabzuholen. Wenn dies dann noch bei Neuschnee gemacht werden muss, was oft vorkommt, so werden Leistungen vollbracht, zu denen sich mancher Bergsteiger, der etwa auf sein Können pocht, recht lang besinnen würde.
Drei Wege sind bis jetzt genauer bekannt und beschrieben, die auf den Torrone alto ( 2948 m ), den höchsten Punkt des Torrentone, führen. Jene des Erstersteigers und dann die flotte Überschreitung durch meinen Freund Lisibach mit Alberto Negretti aus Landarenca.
Die Beschreibung des Erstbesteigers habe ich, soweit sie die mit seiner Tour in Verbindung stehende Besteigung des Pizzo di Termine betrifft, schon angeführt. Bezüglich des Torrentone schreibt Dr. Darmstädter weiter:
« Wir umgehen beide ( siehe vorn ) auf der Südseite und erreichen eine breite Scharte, die südlich nach dem Osognatal, nördlich nach dem Pontironetal sich öffnet. Die Nebel enthüllen uns endlich die Torronegruppe, deren Abstürze nach dem Osognatal wir staunend bewundern. Wir umgehen den ersten Turm der Torronegruppe und kommen glücklich über die bei dem heutigen Neuschnee lawinengefährliche Passage hinüber. Eine steile Schneerinne leitet uns zwischen dem ersten und zweiten Turm zum Grat hinauf, über dessen Blöcke und Platten wir zum dritten und vierten Turm vorwärtsdringen, welch letzterer nach Ausweis des Horizontglases der höchste ist. Der vor uns liegende Torrente Alto, den ein vielfach gezackter Grat mit unserem Turm verbindet, trägt einen Steinmann, weshalb auf dessen Besteigung verzichtet wird. Im Rückweg geht es von der zweiten Scharte auf den höchsten Terminegipfel, der keine Spuren früheren Besuches zeigt. Von hier wird der Abstieg auf der Pontironeseite bewirkt. Nach Überwindung der steilen Felswand des nach dem Pontironetal hinausziehenden Kammes fahren wir pfeilschnell, dichte Wolken von Schneestaub vor uns aufwirbelnd, bis nahe zum Joch hinab, von wo wir die Alpe di Naucolo um 6 %2 Uhr erreichen. » Die Beschreibung von Dr. Darmstädter bedarf der Erläuterung, um sie nach der heutigen offiziellen Nomenklatur und nach der ortsüblichen verstehen zu können.
Wie schon bemerkt, nennt man in der Val Pontirone das ganze Massiv des sich etwa über 2820 m erhebenden Kammes Torrentone. Der Pizzo di Termine ist also inbegriffen, der Torrone della Motta ( 2808 m ) dagegen nicht, denn diesen nennt man kurzweg Torrente. Nach dem topographischen Atlas wäre der lange, sich über 2820 m erhebende Teil des Kammes bis auf P. 2946 namenlos. Ich schlage daher vor, die ortsübliche Bezeichnung « Torrentone » anzuwenden. Damit nun aber der Pizzo di Termine nicht weiter Anlass zu Verwirrungen gibt, wie bei Dr. Darmstädter, so zähle ich ihn nicht zum Torrentone. Der Torrentone würde demnach im Osten durch die firnbedeckte Scharte begrenzt, in die sich der obere Buglionegletscher hinaufzieht. Im Westen würde die Bocchetta del Torrente ( siehe Seite 48 ) seine Begrenzung bedeuten. Der steilwandige, oft wie eine Mauer abbrechende Torrentone weist sieben mehr oder weniger markante Erhebungen auf, die von Dr. Darmstädter als Türme bezeichnet wurden, obwohl auf nur wenige dieser Name vollkommen passt. Da aber auch der topographische Atlas die Bezeichnung « Torrone » führt, so sei also von Türmen gesprochen. Als 1. Turm bezeichne ich jenen westlich der Firnscharte des obern Buglionegletschers. Durch eine schwache Einsenkung getrennt, folgt der höhere 2. Turm. Hierauf durchbricht eine tiefe Scharte die Gratmauer. Jenseits derselben gipfelt der 3. Turm. Das ist offenbar jener, der im topographischen Atlas die Höhenzahl 2880 m trägt, wo aber aus der Kartenzeichnung nicht klug zu werden ist. Der obere Buglionegletscher, dessen Firn in der Scharte ( östlich des 1. Turms ) bis zur Grathöhe reicht, wird beispielsweise nie so klein gewesen sein, wie ihn die Karte darstellt. Eine seichte Einsenkung führt vom 3. zum 4. Turm hinüber. Der 5. tritt wenig hervor, und ebenso ergeben sich nun bis zum 6. Turm keine bedeutenden Höhendifferenzen mehr. Der 6. Turm, P. 2948, der Torrone alto des topographischen Atlasses, ist die höchste Erhebung des Torrentone. Sein offizieller Name lautete früher Torrone d' Orza. Vom Torrone alto aus setzt sich der die Val Calanca und Riviera scheidende Hauptkamm gegen Süden fort. Ein scharfer, gegen die Bocchetta di Piove di dentro steil abfallender Grat deutet diese Fortsetzung an. Weiter westwärts senkt sich die Gratschneide des Torrentone stark. Es entragt ihr aber noch ein Turm, der 7. Dann folgt auf einen steilen Abfall eine fast wagrecht verlaufende Strecke bis zur Bocchetta del Torrente ( siehe unten die Textfig. 11 auf Seite 70)69 ).
Dr. Darmstädter rechnete den 1. und 2. Turm des Torrentone zum Pizzo di Termine. Den 2. Turm hielt er für den eigentlichen Gipfel dieses Berges und nahm an, dass sich die Höhenzahl 2880 auf ihn beziehe, was nach meiner Ansicht nicht wahrscheinlich ist. Der l.Turm sieht, vom Pizzo di Termine ( 2867 m ) aus betrachtet, recht respektierlich aus. Glatte Felsen panzern seine Brust und die rechte Flanke. Die linke, der Val Calanca zugewendete Flanke ist noch steiler, aber von Bändern durchsetzt. Man ist gern geneigt, den Weg dort durch zu wählen. Wenn aber der Berg schneefrei ist, scheint mir das ein Missgriff zu sein. Die Schwierigkeiten der rechten Flanke sind nicht gross, dagegen hat man auf den Bändern der Südwand immer den Eindruck, man verklettere sich in eine Sackgasse, und ich glaube, es kann einem das dort auch leicht passieren und viel Zeit kosten. Vom Gipfel des 1. Turmes erreicht man rasch und ohne Schwierigkeit jenen des 2. Turmes. Nun folgt eine tiefe Scharte, von der sich zur Rechten und zur Linken steile Schluchten in die Tiefe senken. Es ist dies jene Scharte, von welcher Dr. Darmstädter schreibt, sie öffne sich südlich nach dem « Osognatal » und nördlich nach dem Pontironetal. Ersteres ist ein Irrtum, die Val Osogna ist noch weit entfernt von dieser Stelle und beginnt erst beim 6. Turm. Diese Scharte fällt einem von der Val Pontirone aus auf, denn die Schlucht, die bei ihr beginnt, durchreisst die ganze Wand bis auf den untern Buglionegletscher hinab, und auch im Sommer noch liegt in ihrem Grunde Schnee.Von Süden hält es dagegen schwierig, ihre Lage zu bestimmen. Eine Unmenge von Runsen durchfurchen hier die Flanke, und unzählig sind die Kamine und die Bänder, die von Runse zu Runse führen. Da hier der Schnee früh weggeht und wo nur möglich Gras zwischen den Felsen sprosst, haben die Gemsen in der Südwand des Torrentone einen herrlichen Tummelplatz. Gegen unten schützt sie der lange Felsabsturz, der sich vom Pizzo di Termine bis zur Bocchetta di Piove di dentro hinein zieht. Im Sommer wechseln die Gemsen gern über die Scharten auf die Firnflecken der Nordwand hinüber, wo sie dann aus der Val Pontirone gelegentlich entdeckt werden und alle Cacciatori in Aufregung versetzen. Aus der Scharte erhebt sich wuchtig der dritte Turm. Links neben ihm erblickt man die wilden Abstürze der Südwand. Rechts sieht es auch nicht gemütlich aus, und ich glaube es Dr. Darmstädter gern, dass es eine heikle Arbeit war, bei Neuschnee dort durch den 3. Turm, den er den « ersten Turm der Torronegruppe » nennt, zu umgehen. Man kann aber auch hier ziemlich bolzgrad hinauf, und zwar auf recht amüsante Weise. Mitten in der starren Felsbrust dieses Torrone klafft ein tief hineinreichender Spalt, in dessen Grund auch im heissesten Sommer immer Eis liegt. Dort hinein schlüpften wir bei unserer Besteigung, nachdem mein Träger Rè noch vorher einen wackeligen Block, der drohend über der Spalte hing, unter mächtigem Gepolter in die Schlucht hinunterbefördert hatte. Mit Stemmen ging es tief hinten eine schlüpferige Wand empor zu einem Gesimse, das uns wieder ans Tageslicht führte. Die weitere Kletterei zum Gipfel des 3. Turmes ist dann nicht mehr von Bedeutung, und ebenso verhält es sich mit der Wanderung zum 4. Turm hinüber. Der 5. Turm ist kein solcher, sondern eine hohe Mauer und ebenso sieht, aus der Val Pontirone betrachtet, der 6. Turm aus, der im topographischen Atlas die Bezeichnung Torrone alto und die Höhenzahl 2948 m trägt. Er ist der höchste Punkt des ganzen Torrentone. Dem von hier gegen Westen stark abfallenden Grate entragt der 7. Turm, ein kecker Zacken, der aus der Val d' Osogna auffällt.
Hier mag der schwierigste Teil des Torrentonegrates liegen. Die Jäger umgehen ihn durch die Südwand, und zwar wohl weniger der Schwierigkeit als des Zeitaufwandes wegen. Denn von der Bocchetta di Piove di dentro zur Bocchetta del Torrente hinaus gelangt man auf Bändern verhältnismässig rasch. Wenn also Dr. Darmstädter darauf verzichtete, noch zum « Torrente alto » ( dem Torrone della Motta der neuen Auflage des topographischen Atlas ) hinauszusteigen, so ersparte er sich damit ungeahnt viel Zeit und Mühe. Es ist sogar höchst fraglich, ob es ihm, trotz seiner trefflichen Tirolerführer, gelungen wäre, am selben Tage noch diese Gratstrecke zu bewältigen. Das Gratstück zwischen P. 2948 und der Bocchetta del Torrente ist noch nie von Touristen begangen worden. Nicht einmal versucht hat man es. Sicher hat es seiner ganzen Länge nach auch noch nie ein Jäger durchklettert.
Eine interessante Überschreitung des Torrentone gelang am 30. Juli 1904 L. Lisibach und A. Negretti. Sie erkletterten den Torrone alto auf dem kürzesten Wege, von der Bocchetta di Piove di dentro aus, und nahmen den Abstieg über die jähe Nordwand auf den untern Buglionegletscher. L. Lisibach schreibt darüber im Jahrbuch des S.A.C. 1904/05, Seite 136—138:
« Nach nahezu zweistündigem Marschieren kamen wir an den Fuss eines breiten, mit rutschigem Schutt bedeckten Couloirs, das sich in nordwestlicher Richtung steil in die schroffen Wände des Torrone hinaufzieht und schliesslich, in einen eigentlichen Kamin sich verengend, rechts der Bocchetta Piove di dentro ausmündet. Nachdem am linken Rande des Couloirs ( im Sinne des Anstieges ) etwa 50 Meter zurückgelegt waren, gewannen wir links eine mit spärlichem Graswuchs bedeckte Rippe, schritten bis nahe den obern Felsen, die uns weiter nach links hinausdrängten, und über Schutt und lose Steinplatten gelangten wir in eine Scharte des Verbindungsgrates zwischen Torrone d' Orza und Pizzo degli Uccelli. Ein zirka 10 m hoher Gratturm liegt zwischen uns und der südlich gelegenen Bocchetta Piove di dentro ( 2600 m ). Westlich blickten wir in die Val d' Osogna hinab, nordwestlich sehen wir den Grat, welcher sich vom Torrone zum Torrente hinüberschwingt und uns den Ausblick in die Val Pontirone noch verdeckt. Schroff und zackig ragt die Wand des Torrone d' Orza vor uns auf. Nur der nächstliegende Teil des weitern Aufstieges kann überblickt werden. Über den schmalen Grat wegschreitend, wandten wir uns zuerst etwas östlich, dann wurde auf schmalen Stufen und unter zum Teil überhängenden Felsen — ventre à terre — ein Couloir erreicht. Dieses sich oben ausweitend, war bald erklettert und damit der Grat wenig unterhalb der Spitze und einen Augenblick später diese selbst betreten.
Ungemein wild sieht die nächste Umgebung aus. Trotzig ragen zwei gewaltige Türme aus dem zerzackten Grat, der den Torrone d' Orza mit dem Pizzo di Termine ( 2867 m ) verbindet. Grausig sind die Abstürze in die Täler von Calanca, Osogna und Pontirone, das Gesamtbild und die Rundsicht aber sind ungemein fesselnd, der Himmel, trotzdem es schon halb 3 Uhr ist, noch von seltener, nur dem Süden eigener Klarheit. Im Steinmann konnten wir keine Dokumente finden. Ob Herr Darmstädters Besuch seit 1892 der einzige geblieben?
Wie schon erwähnt, hatten wir von der Alpe Piove di dentro einen Teil unseres Gepäckes direkt nach der Giumellaalp tragen lassen. Um dahin zu gelangen, hätten wir die Route Darmstädters über den Grat und Pizzo di Termine einschlagen können. Nach eingehender Besichtigung des Westabsturzes — soweit eine solche möglich war — stach uns der Haber. Es sollte der Abstieg auf der Pontironeseite versucht werden. Freilich sieht die Wand nichts weniger als einladend aus. Ich selber hatte dieselbe bei meinen früheren Besuchen des Ponti-ronetales für unmöglich gehalten. Die Felsen sind schlecht, und es erheischt das überall lose aufliegende Geschiebe um so mehr Vorsicht, als wir angeseilt marschieren...
Es ist ein Hin- und Herlavieren, da sich der Abstieg selten auf grössere Distanz überblicken lässt. Wir können aber nicht sagen, dass die Schwierigkeiten etwa ausserordentliche waren. Wir hielten die Richtung auf den unter uns liegenden Gletscher; in einiger Entfernung zur Rechten blieb uns eine grosse Runse, welche zwischen den Punkten 2948 und 2830 zum Gletscherchen abfällt. Nachdem so zirka 400 m zurückgelegt waren, wurde die Sache etwas heikler. Zu unseren Füssen fanden sich glatt abstürzende Felsen. Es hätte des Hinweises meines Genossen, dass hier wahrscheinlich die Stelle sein müsse, wo sein Vetter — auch ein Alberto Negretti — Ende Juni 1891 auf der Jagd zu Tode gestürzt sei, nicht bedurft, um mich zur Rückkehr zu bewegen. Wir müssen etwa 50 m zurückklettern, westlich auf eine schwach ausgeprägte Rippe ausweichen, hinter der wir eine steil abfallende, zum Teil vereiste Schneerinne bemerkten, die unter den Felsen durch in die vorhin erwähnte Runse führte, von der aus ein Band nördlich der Wand entlang auf harmloseres Terrain zu führen schien. Es folgte nun die unangenehmste Stelle des Abstieges. Von den leicht überhängenden Felsen troff das eisige Schneewasser auf uns nieder. Kaltblütig mussten wir diese unangenehme Douche hinnehmen, kein hastiger Schritt durfte gemacht werden, endlich noch einige Stufen ins blanke Eis, und die Runse war erreicht. Wir hatten uns nicht getäuscht. Leicht kamen wir an der gegen den Gletscher hinausstrebenden Wand herum bis zu einer zweiten grösseren Runse, die sich eine Weile beim Abstieg benützen liess, dann verursachen die untersten glatten und grifflosen Felsen, welche uns noch vom Gletscher trennen, wie auch die Randkluft etwelche Mühe. Der erstere wurde ziemlich nahe seinem nördlichen Ende betreten. Fast drei Stunden hatte uns der Abstieg bis hierher, also für eine Höhendifferenz von 550 m, gekostet; doch — und dies ist die Hauptsache — es war glücklich verlaufen. Dass er neu ist, darf mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden. Ausführbar scheint er uns aber nur im Sommer und Herbst, bei trockenem Wetter... » Hierzu sei bemerkt, dass der von Lisibach und Negretti ausgeführte Aufstieg von Süden der beste und kürzeste ist. Er bietet in der langen Südostwand des Torrentone die einzige Möglichkeit, ohne ausserordentlich schwere Kletterei in die Wand hineinzugelangen. Es war dieser Schlupf den Jägern schon längst bekannt und wurde wohl öfters benutzt, um in die günstigen Schussplätze hinaufzuklettern. Zum Aufstiege ist diese Route sehr zu empfehlen, und recht lohnend mag es sein, dann über den Grat ostwärts abzusteigen zum obern Buglionegletscher. Von dort hat man die Wahl, über den Pizzo di Termine zur Alpe di Giumella oder zur Alpe di Naucolo abzusteigen oder nach Pratasc über den Senta del bò oder auch über das Buglione hinab nach Alpe di Sciengio. So ganz einfach ist zwar diese Route nicht. Man tut gut, im Sinne des Abstieges die Route rechts zu wählen, gegen den Senta del bò hin. Aber auch mehr links kommt man durch, doch ist es nötig, hier guten Überblick zu haben, um zwischen den Plattenschüssen den Weg zu finden.
Mit den beschriebenen Routen sind die Anstiegsmöglichkeiten noch nicht erschöpft. Gute Kletterer fänden am Torrentone einen dankbaren Berg, wo noch allerlei Neues zu machen wäre. Auf den Westgrat habe ich schon hingedeutet.
Die Einheimischen behaupten, den Gratabsturz, der allein grössere Schwierigkeiten bieten kann, schon erklettert zu haben. Man tue dabei gut, etwas in die Südwand auszubiegen, was die Kletterei bedeutend erleichtere, erklärte mir ein Älpler aus der Val d' Osogna, und er mag im allgemeinen recht haben. Den Gratabsturz erreicht man jedenfalls von der steilen Schneerinne her, die sich aus der Val Pontirone schief zum Grat emporzieht und die einem schon aus der Ferne auffällt. Von den Jägern wird die Stelle, wo die Schneerinne den Hauptgrat berührt, Bocchetta del Torrente genannt, und sie wissen von derselben, dass sie in die Südwände des Torrente hinüberführt, also auch aus der Val d' Osogna erreichbar ist, und zwar noch leichter als von Norden.
Weiter westwärts im Kamme folgt der Torrone della Motta ( 2806 m ). Auch der ist ein schöner, imponierender Berg, von woher man ihn auch beschauen mag. Mir, als mit meinen Jugenderinnerungen verflochten, macht er ja vielleicht mehr Eindruck als dem, der ihn als Klettergerüst beurteilt.
Die Ersteigung des Torrone della Motta über die Bocchetta del Torrente bietet keine besondern Schwierigkeiten. Pikant ist die Wanderung auf der schmalen Gratmauer, von der der Blick in die schattige Tiefe des Alpkessels von Sciengio taucht. Aber auch zur Linken versinkt der Grat schroff und jäh, doch weniger wild. Als ich einst mutterseelenallein über ihn dem Gipfel zueilte, im Wettlauf mit den aus der Riviera heraufquellenden Gewitterwolken, wie war mir da so sonderbar herrlich zu Mut inmitten des sich entfaltenden grandiosen Naturschauspiels. Ja, die Alleingängerei ist unvernünftig und dreist, aber sie hinterlässt von solchen Erlebnissen unauslöschliche Erinnerungen. Übrigens gab es am Torrone della Motta, auf dem von mir eingeschlagenen Wege, eine einzige etwas exponierte Kletterei, die sich halbwegs zwischen der Bocchetta del Torrente und dem Gipfel befindet. Recht steil war zu oberst der Ausstieg aus der Schneerinne in die Bocchetta, und eine Seilsicherung durch einen Begleiter wäre mir bei dem durchweichten Schnee willkommen gewesen. Abgesehen hiervon, war die Ersteigung wirklich weit weniger schwierig, als ich mir vorgestellt hatte.
Vom Torrone della Motta an senkt sich die Gratmauer des Torrente in zwei Stufen tief ab, was dem Berge, von Westen betrachtet, ein sehr schroffes Aussehen verleiht. Ein langer Felssporn fällt vom Gipfel in den Talkessel von Sciengio ab, der dadurch, dass er so tief fusst und so steil ist, dass in seinen Wänden der Schnee nicht hängen bleibt, höher erscheint, als er tatsächlich ist.
Über den erwähnten Felssporn hinauf kletterten im August 1915 die Herren G. Miescher und K. Oettiker zum Gipfel. Zweifellos ist das ein recht kecker und schöner Aufstieg, wo der Kletterer gewiss auf die Rechnung kommt. Er findet sich im XX. Jahresbericht des A.A.C.Z., Seite 22, beschrieben:
« Auf dem Wege zur Alpe di Sciengio ( Hintergrund der Val Pontirone ) biegt man bei den mittleren Häusern von Fontaio ab, überschreitet den von Westen her einmündenden Bacharm und ersteigt, teilweise kletternd, auf schlecht sicht- barem, in den Alpenrosenstauden verborgenen Hirtenpfad die Felsstufe, welche die untere von der obern Alpe di Sciengio trennt. In gleicher Richtung weiter, dem von Süden herabfliessenden Wasserlauf folgend, über schroffige Felsen auf die grosse Geröllterrasse am Nordostfusse des Berges. Aus der südwestlichen Ecke dieser Terrasse führt ein steiles, schon von weitem sichtbares Firnband auf einen Absatz des Nordgrates hinauf, dort, wo er an die schroffen Felsen des Gipfelstockes anstösst. Von hier in prächtiger Kletterei bald auf der Kante, bald östlich davon ohne grössere Schwierigkeiten, aber ziemlich exponiert, zum Gipfel ( Fon-taio-Gipfel 4-5 Stunden ). Der Abstieg wurde über die sehr steile, schroff durchsetzte Südflanke ausgeführt, direkt zur Alpe in Orza. » Dieser Kletterei zur Seite stellt sich würdig der Aufstieg über den Westgrat, der am 17. Oktober 1920 meinem Neffen Walter Rebsamen glückte. Er erzählte mir hierüber folgendes:
« Ich stieg von Biasca am späten Nachmittag auf dem steilen Felsensteig der ,Bedra del vent'( siehe Jahrbuch 57, Seite 169 ) über die Maiensässe Nadro zur Forcarella di lago empor. Von dort nahm ich Richtung auf Forcarella d' Orso ( siehe Seite 51 ) und erreichte in der Dunkelheit die Alpe di Casnedo ( 1980 m ). Nach langem Suchen stiess ich endlich auf die Hütte und verbrachte dort trotz der primitiven Unterkunft eine gute Nacht.
Um 7 Uhr früh brach ich auf, dem Torrone della Motta entgegen, um dessen Felsen Nebel trieben. Aber es sah wenigstens nicht so trostlos aus wie an den vorhergehenden Tagen. Über hügelige Weiden erreichte ich Alpe la Motta. Ich liess deren Hütte links liegen und wandte mich direkt der Südwestwand des Torrone zu. Den ganzen Abfall dieses Berges in die Val d' Osogna durchfurchen eine Menge Rinnen, und es sieht hier nicht so schlimm aus wie auf der Nordseite, besonders wenn man sie von der Forcarella di lago aus betrachtet. Der Westgrat schwingt sich in zwei Sätzen steil zum Gipfel empor. Ein fast horizontales Gratstück von zirka 200 m Länge trennt die beiden Steilstufen.
Ich hätte nun, wenn ich die untere Steilstufe auch über die Gratschneide hätte erklimmen wollen, nach Nordwesten ausbiegen müssen. Statt dessen zog ich vor, die erste Stufe direkt aus meiner Anmarschrichtung durch die Flanke zu erklettern. Ich schlug also nördliche Richtung ein.
Das oben erwähnte horizontale Gratstück wird östlich durch ein eigenartiges Felsgebilde von sphynxähnlichem Aussehen begrenzt, das man schon von weitem sieht. Diese Sphynx nahm ich zum Ziel. Ich betrat die Wand dort, wo eine in der Fallinie des Gipfels herabkommende Rinne in glatten ausgewaschenen Platten ausmündet ( zirka 2250 m ). Ich wandte mich sofort etwas links, westlich, und gelangte so auf die die Rinne begrenzende Rippe. Über Stufen und Bänder folgte ich derselben ein Stück aufwärts, dann hielt ich wiederum links, ziemlich genau nördlich, querte die nächste flache Rinne und erreichte auf etwa 2550 m das schon erwähnte horizontale Gratstück unmittelbar bei der ,Sphynx '. Hier ist ein prachtvoller Ausblick. Tief, fast senkrecht zu Füssen, dehnen sich die Weiden von Cava und Sciengio aus.
Ein grosser Gratturm sperrt hier die sich steil auftürmende Gratkante und verdeckt den Blick auf dieselbe. Hier hielt ich es für nützlich, die Kletterschuhe zu verwenden. Ganz gut gewann ich eine scharfe Rippe empor an Höhe. Dann drängte mich ein Überhang nach rechts hinaus, aber bald konnte ich den weitern Aufstieg wieder auf der Rippe fortsetzen, bis ich am Fusse des erwähnten grossen Gratturmes stand. Fast senkrecht bäumt sich dieser, es wurde schwierig. Klein und spärlicher wurden die Griffe, aber sie waren solid. Den Übergang, den der Gipfelblock dieses Gratturmes bildet, umging ich durch eine Ausbiegung in die Südwand, das war recht luftig. Zu meiner angenehmen Überraschung entdeckte ich nun, dass hier die Steilheit der Gratschneide und die Schwierigkeiten aufhören. Leicht ging es hinter dem Gratturm in eine wenig tiefe Scharte hinab und dann über einen Blockgrat vollends zum Gipfel ( 2806 m ).
Die Kletterei kostete mich vom Fusse der Wand an 1 %2 Stunden, und dabei hatte ich, wie ich nachträglich feststellte, nicht die beste Route eingeschlagen.
Auf dem Rückweg, den ich durch die Südflanke nahm und dann westwärts querte, sah ich mir dann noch das unterste Stück des Westgrates an. Auch diese Stufe ist ziemlich steil, aber bei weitem nicht so schwierig wie die obere. Durch Ausbiegen in die Südflanke kann man auch hier den Schwierigkeiten ausweichen. Ich stieg nun über den Gratrücken zur Alpe della Cava hinab und marschierte durch die Val Pontirone nach Biasca zurück in aller Eile, denn schon wieder drohten die Schleusen des Himmels, sich zu öffnen. » Die rinnendurchfurchte Südflanke bietet allerlei Anstiegsmöglichkeiten, und trotz der Steilheit sind die Schwierigkeiten nicht gross. Öfters benützt und von Süden in leichter Kletterei erreichbar ist die Bocchetta del Torrente, deren nördlicher Zugang weit weniger harmlos ist.
Vom Gipfel kann man ziemlich direkt durch die Südflanke absteigen, wie mir mein Neffe erzählte. Eine Rinne senkt sich dort die Wand hinab, der man von zu oberst folgen könnte. Besser ist es aber, man gehe vom Gipfel erst einige Schritte vorwärts und steige südlich über die Gratabzweigung zu dem tiefergelegenen Steinmann, der ob der Rippe steht, die direkt zur Hütte der Alpe Orzo abfällt. Leicht geht es über Blöcke und bewachsene Bänder in die Tiefe. Dann benützt man mit Vorteil die Rinne zur Linken Der Abstieg bis zum Fusse der Wand nahm etwa 3/4 Stunden in Anspruch.
Die Südflanke des Torrone della Motta ist den Einheimischen gut bekannt, und auch den Gratturm des Westgrates kennen sie und haben ihn « Capella di Camus » ( Capella dei camosci ) getauft. Zweifellos haben Einheimische den Gipfel des Torrone della Motta schon besucht, bevor meine hochoffizielle erste touristische Besteigung erfolgte. Aber da bin ich mir nicht im klaren, warum sie es vergessen haben, ihren Besuch dort oben irgendwie zu dokumentieren, und wenn es nur durch eine kleine Steindaube geschehen wäre. Dr. Darmstädter schreibt zwar, er hätte ( 1891 ) auf dem Gipfel des Torrone della Motta vom Torrone alto aus einen Steinmann entdeckt. Einen solchen konnte ich aber nie erblicken, als ich 1892 und die folgenden Jahre oft in der Val Pontirone herumstreifte. Ich hielt den Berg daher für unbestiegen. Als ich dann am 23. Juli 1903 von der Bocchetta del Torrente her über den Grat zum Gipfel hinausschritt, stiess ich einzig bei der Gratbresche, wo seinerzeit L. Lisibach und F. Wäber wegen schlechten Verhältnissen und Zeitmangel hatten umkehren müssen, auf ein Zeichen früherer menschlicher Anwesenheit. Das war eine Steindaube, die eine Blechbüchse mit der Karte der beiden Herren enthielt. Auf dem Gipfel fand ich nicht die Spur eines Steinmannes vor, und ich hatte Mühe genug, Steine zusammenzuschleppen, bis ein Steinmann zustande kam, der in die Val Pontirone hinunter meinen Besuch verkünden sollte, was er dann auch pflichtschuldigst besorgte, wie ich später hörte. Ob vielleicht der Blitzschlag den Gipfel reinfegt, der Torrone della Motta ist den Gewittern stark ausgesetzt. Ich bezweifle nur, dass die Zerstörung eine so radikale hätte sein können, dass ich gar nichts mehr gefunden hätte.
Unter der westlich des Torrone della Motta sich erhebenden stumpfen Graterhebung ( 2506,9 m ), welche einen mächtigen Steinmann trägt und heute im topographischen Atlas als Cima Muscioni bezeichnet ist, nimmt die lange Felsmauer des Torrente ihr Ende. Weiter westlich reichen die Schutthänge bis auf den Gratrücken, und auch gegen Süden ist die Abdachung nun weit weniger steil. Die Cima Muscioni ist ein Beispiel für die Unsicherheit und Wandelbarkeit der Gipfelbezeichnung in dieser Gegend, denn seit die « Cima Musiung » nun ein so hoher Steinmann schmückt, nennen sie die Älpler aus dem Val d' Osogna « Piz della Triangulaziung »!
Die aus der Val Pontirone und Val d' Osogna gut erreichbare Grateinsenkung westlich der Cima Muscioni wird gelegentlich begangen. Sie ist schon darum beachtenswert, als sie die einzige leicht begehbare Verbindung der zwei Täler ist. Alle andern sind Kletterwege und liegen überdies viel höher. Im Tessinerführer ist diese Einsenkung Forcarella d' Orso getauft worden. Schön ist von hier eine Wanderung zu den Alpen la Motta und Orza hinein. Die letztere breitet sich auf einer freundlichen, flachen Terrasse aus, am Fusse des sich schroff aufschwingenden Torrente. Der wilde, einsame Talhintergrund ist von seltsamem Reiz. Unten bei Corte basso sprudelt die kälteste Quelle des ganzen Kantons aus dem Boden2° ).
Die Val d' Osogna war bis 1921 ( jetzt nicht mehr ) Freiberg, « bandita di caccia ». Die Grenze des Jagdbannes führte über den ganzen Gratscheitel des Torrente hinweg. Ob eine solche Begrenzung besonders klug ist, möchte ich nun doch bezweifeln. Ganz bestimmt würde der Wasserlauf eines Talgrundes eine sicherere Grenze und auch eine gewisse neutrale Zone bieten. Wenn der Pontironese in der Nordflanke des Torrente jagt, was ja erlaubt ist, und das Wild verzieht sich in die Südflanke hinüber, glaubt man denn da wirklich in den Bureaux, dass er dann umkehre. Nein, so brave Gemsjäger habe ich bis jetzt noch keine kennen gelernt. Auch die Gefahr, dass das Wild aus dem Freiberg getrieben wird, ist sehr gross bei einer derartigen Begrenzung, was aber fast ausgeschlossen ist, wenn tief eingeschnittene Täler die Grenze darstellen, und solche hätte es in diesem Gebiet. Der Reichtum an Gemsen ist am Torrente nicht besonders gross, aber es sei immer etwas zu holen, versicherten mir Jäger. Erfreulich ist es, zu vernehmen, dass die Zahl der Gemsen etwas im Zunehmen ist, was übrigens mit meinen eigenen Wahrnehmungen übereinstimmt 70 ). Murmeltiere, « Varoz » nennt sie der Tessiner, gibt es hier wie überall in den umliegenden Bergen ausserordentlich viele. Die warme Tessinersonne scheint diesen Tieren ganz besonders gut zu behagen. Aber dass man das Murmeltier seines Fettes wegen jagt wie in Uri drüben, wo das « Munggefett » ein berühmtes Heilmittel für alle möglichen Gebrechen ist, kommt hier nicht vor. Auch weiss man noch nichts davon, dass dieses Fett so « gottlos tiäf » eindringt, wie mir ein Ratsherr aus dem Schächental versicherte, nach dessen Erklärung Munggenfett, auf einen klafterlangen Stock ( Baumstrunk ) gelegt, in 4 Wochen unten herausdringe. Es ist klar, dass es folglich auch in den Menschen eindringt. Aber die Tessiner sind vielleicht kompliziertere Naturen als die Schächentaler, wo es ja nur zwei Krankheiten geben soll « dr Stich » und « dr Wind », je nachdem sich das Übel auf der Brust oder im Bauch bemerkbar macht.
Nicht der Torrente mit seinen Gletschern ist der Stolz der Leute von Pontirone, denn solche Attraktionen schätzen sie noch nicht, dafür aber die schönen, üppigen Alpen, die sich zu Füssen dieses Berges ausbreiten. Der übliche Zugang dazu zweigt bei Sciresa vom Talwege ab und führt die Leggiunaschlucht hinauf ( siehe Seite 21 ). Der im topographischen Atlas angegebene Weg zweigt dagegen erst bei Biborgo hinten ab. Weitere Zugänge führen über die Forcarella di Lago und über Svallo direkt aus den Haupttälern herauf. Für die grossen Alpen Cava und Sciengio fällt aber mehr der erstgenannte Zugang in Betracht.
Der Weg zu diesen Alpen führt von Biborgo steil in die Tiefe zur Leggiuna hinab. Die Häuser dort am Hang tragen den bezeichnenden Namen « la Foppa », d. i. die Grube, ein Ausdruck, der auch bei den romanischen Bündnern im Gebrauche ist. Der Talgrund ( al pian ), den man bei der Vereinigung des Baches aus der Val Sciengio mit der Leggiuna betritt, ist ein Tummelplatz roher Naturgewalten. Hier messen sich die beiden Wildbäche, das Ufer trägt traurige Spuren davon, und bis in den Sommer hinein bekunden oft Lawinenreste, dass auch in der stillen Jahreszeit hier hinten nicht immer eitel Friede herrscht. 1922 wurden von den 3 Hütten die dort standen 2 weggeschwemmt.
Im Frühjahr 1922 hat das kantonale Forstamt in der Leggiuna mehrere tausend Bachforellen ausgesetzt, und es ist zu wünschen, dass man damit mehr Glück hat als einst mit den Äschen. Diese hatten sich recht gut entwickelt; nach einigen Jahren ging aber der ganze Bestand ein, als die Leggiuna und der Sciengiobach besonders schlimm tobten. An eine natürliche Besiedelung vom Brenno her ist nicht zu denken, denn ein hoher Wasserfall unterhalb Pontirone macht es den Fischen unmöglich, aus dem Haupttal hier heraufzugelangen.
Durch eine grüne Mulde und durch Wald steigt der Alpweg zur Alpe Fontaio empor. Schon im Worte hört man das Rauschen des Baches und das Rieseln der Quellen, und so ist es auch tatsächlich auf Fontaio, an Wasser ist kein Mangel, und bei uns drüben würde sie Brunnialp heissen. Auf einer höhern Etage des Talkessels liegt Alpe Sciengio di sotto, eine schöne, respektable Alp. Die genannten Alpen sind mit der Alpe della Cava die begehrtesten; grosse, saftige und gefahrlose Weiden, guter Zugang und dazu noch Wasser und Holz. Was bleibt da einem bescheidenen Tessinersennen noch für ein Wunsch offen? Jeder sehnt sich danach, auf diesem Paradies zu alpnen, und eine wohl ausgeklügelte Regel sorgt dafür, dass jeder Biaskese einmal Chance hat, einmal des Glückes von Sciengio teilhaftig zu werden.
Hoch auf einem Bühl, am Fusse des Torrente, thront Alpe Sciengio di sopra. Ein lotteriges Weglein führt, nach rechts ansteigend, durch ein Tälchen dort hinauf. Auch hier wie unten liegen die kleinen Sennhütten zerstreut auf der Weide. Alles ist zum Familienbetrieb eingerichtet.
Sciengio di sopra ist rauher als di sotto, und der Unterstand, die « Sosta », die es dort unten gibt, fehlt da oben, wo er sehr nötig wäre. Auch dem Lawinensturze ist die obere Alp ausgesetzt, und es ist keine Seltenheit, dass deswegen die Leute lange Instandstellungsarbeiten vornehmen müssen, wenn sie im Sommer wieder auf Sciengio di sopra ziehen wollen.
Zu Sciengio gehören auch die gegenüberliegende Alpe Partichereggia und die kleine Hochalp Buglione, oben gegen den Gletscher hin gelegen. Nur wenige Tage weide das Vieh dort oben, aber es wachse ein ausgezeichnetes Gras, und dementsprechend sei der Milchertrag. Mit Fontaio dazu hat Sciengio 500 ha Flächeninhalt, wovon die Hälfte produktive Weide, und es nährt 80 Haupt Grossvieh und 380 Ziegen, Schafe und Schweine.
Sciengio, die Einheimischen sagen « Sceng », ist dieselbe Bezeichnung, auf die wir mehrfach am Monte di Biasca gestossen sind. War dort darunter ein von unzugänglichen Felspartien umschlossener Weidplatz verstanden, so ist hier damit eine umfriedigte Weide benannt. Oder vielleicht war Sciengio einst vom Wald umfangen, denn dieser reichte früher weit über Sciengio di sopra hinaus. Wurzelstöcke von Lärchen ( « sciüc » ) fand man noch vor kurzem hoch ob den Weiden der Alpe della Cava am Hange des Torrente und zwischen den beiden Seen. Sie werden ausgegraben, verholzt und zum Feuern verwendet, wie heute noch auf der ganz vom Wald entblössten Alpe Pradasc.
Über dem mit lichtem Wald und dichtem Alpenrosen- und Erlengestrüpp bedeckten Hang, der auf Sciengio folgt, liegt in einer weiten Talmulde die Alpe della C a v a. Auch hier erblickt man weit zerstreut die typischen, kleinen, steinernen Sennhütten. Aber sie sind meist besser als in Sciengio unten, und überhaupt macht einem diese Alpe einen ausgezeichneten Eindruck. Die Steine werden sorglich zusammengelesen. Eine stattliche Mauer teilt die Weide ab, die Leute auf Cava sind fleissig. Aber die Alp sei etwas rauh, klagte mir ein Bauer. Der Schnee weiche langsam aus der flachen, hochgelegenen Mulde, in die er hinter dem Kamme des Torrente in gewaltigen Massen falle. Diesem Umstand, und dass die Alp am Nordhange liegt, ist es zuzuschreiben, dass die Weide trotz allem Zutun der Älpler nicht ganz das ist, was sie sein sollte.
Unterhalb Cava, am Wege, der von Sciengio heraufkommt, sei einst Kalk gebrochen und gebrannt worden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Kalk-steinbruchcava ) der Alp zum heutigen Namen verholfen hat. Das Vorkommen von Kalkstein inmitten dieser Gegend, wo Gneis, Granit und Glimmerschiefer sich sonst ablösen, ist keine Selbstverständlichkeit und interessiert selbst den Geologen. Die Tatsache, dass Kalk ausgebeutet wurde, besteht aber wirklich, wiewohl ich nicht Gelegenheit hatte, die Kalköfen, von denen noch ringförmige Spuren deutlich zu erblicken seien, selbst zu sehen. Die Mitteilungen, die ich hierüber empfing, waren zu übereinstimmend und zu genau, als dass hier Phantasie im Spiele sein könnte. Das ist das allereinzige Kalkvorkommen im Tale, und als in Pontirone unten die heutige Kirche erbaut wurde, sei der Kalk dazu hier oben gebrannt worden.
Oberhalb der obersten Hütten der Alpe della Cava gabelt sich der Weg. Gradaus gelangt man in die auffällige Einsenkung des im Westen aufragenden Felsgrates, über die als Forcarella di lago ein Weg nach Biasca hinabführt. Der nordwärts abzweigende Weg steigt zu dem Felsriegel empor, hinter dem sich die äussern Alpen des linken Talhanges: Alpe d' Albeglia, Alpe d' Airoldo und Alpe di Jarè ausbreiten. Der Übergang heisst Forcarella d' Albeglia ( 2114 m ). Das Weglein steigt von ihm noch weiter an, quert die steinigen Hänge am Nordfusse des Mottone und berührt anfänglich die Alpweiden nicht. Erst vorn an der Nordkante des Pizzo Magno senkt es sich zu den Hütten der Alpe d' Airoldo ab.
Weiter hinüber, die Nordkante hinab, erreicht es Svallo, dann durch den Westhang des Pizzo Magno den Schuttkegel des Bergsturzes und schliesslich Biasca. Die letztern Alpen sind rauh, steil und steinig und selbstverständlich weniger begehrt als die üppigen Weiden von Sciengio. Ein breiter, dunkler Wald zieht sich unter diesen Alpen, von Svallo an taleinwärts bis in den Talkessel von Sciengio, und bekleidet die steilen, gegen Pontirone abfallenden Hänge. Mit den Alpen zusammen stellt der Wald den Reichtum der Val Pontirone dar. Aber während die Alpen genutzt werden können, muss der Wald geschont werden, und wohl nur mit Vorsicht darf einst geschlagen werden, wenn man verhüten will, dass die Lawinen immer breitere Breschen in den heute so schönen Bestand reissen.
13. Kommentar.
1. Zu LVII, S. 62, Z. 24. Nach dem historisch-biographischen Lexikon betrug die Einwohnerzahl Biascas 1513 = 400 Einwohner, 1567 = 130 Haushaltungen, 1836 = 1912 Einwohner, 1858 = 2315, 1900 = 2733, 1910 = 3299. Heute wird die Zahl von 3350 kaum mehr erreicht sein.
2. Zu LVII, S. 62, Z. 31. Es gab an Italienern im Tessin:
im Jahre 1860 = 6200 Personen, 1870 = 8396,1880 = 9603,1888 = 17,653, 1900 = 27,000, 1914 = 40,000, 1920 = 30,092.
3. Zu LVII, S. 63, Z. 40. Das oratorio di San Roccho entstand infolge einer der grossen Pestepidemien, welche Biasca heimsuchten. Hier am Durchgang internationaler und lebhaft begangener Verkehrswege breitete sich die Seuche besonders gern aus. Bald wurde sie von Süden, bald von Norden, bald von Osten her eingeschleppt.
Die erste für die Gegend bekannte Pestperiode fällt in die Jahre 1472 bis 1494. Sehr wahrscheinlich ist die Seuche aber früher schon hier aufgetreten. 1472 herrschte sie, von Norden her eingeschleppt, in der Leventina, 1483 verbreitete sie sich in der Val Blenio, wohin sie von Bleniesen, die sich vor ihr aus Mailand geflüchtet hatten, gebracht worden war. Von der Val Blenio griff sie in die Leventina und die Riviera über und forderte im folgenden Jahre in Giornico noch Opfer. 1494 drang sie wahrscheinlich von Graubünden her, wo sie schon das Jahr zuvor regiert hatte, wieder in die Gegend. Hierauf scheint sie für viele Jahre die Tessintäler verschont zu haben.
Heftiger wütete die Pest in den Jahren 1584 und 1585. Ihr erstes Auftreten erfolgte in Verbindung mit einem anderen Landesunglück. Im Juni des Jahres 1584 richtete ein Wettersturz mit grossem Schneefall und starkem Regen in Biasca und in den umliegenden Tälern gewaltigen Schaden an. Einen Monat darauf brach plötzlich die Pest aus. Sie verbreitete sich die Leventina hinauf, in die Val Blenio hinein und würgte Hunderte von Einwohnern. In Biasca wütete sie hauptsächlich im Jahre darauf.
Im Jahre 1610 trat die Pest längs der Gotthardstrasse auf und erlosch erst im folgenden Jahre.
Wohl am schlimmsten hauste sie in der Zeit von Ende Juli 1629 bis Anfang Mai 1630. Innert 9 Monaten raffte sie damals 140 Einwohner weg, etwa ein Viertel der Bevölkerung. Die ganze Lombardei litt damals fürchterlich unter der Pest. Es waren die Zeiten, über die Manzoni in seinen unvergänglichen « Promessi sposi » eine ergreifende Schilderung gibt. Das edle Beispiel, das in Mailand der Kardinal Federico Borromeo mit seiner hingebenden furchtlosen Pflege der Pestkranken gab, feuerte die Geistlichkeit zur Nachahmung an. Hierbei erlagen in Biasca fast alle Geistlichen der Pest, darunter auch der eifrige Propst Basso.
Unter den « Monati », von denen Manzoni erzählt, dass sie in Mailand die von allen gemiedene und gefürchtete Arbeit des Wegführens der Pestkranken und Pest-toten besorgten, befanden sich zum grössten Teil Leute aus schweizerischen Talschaften: Tessiner, Graubündner und Deutschschweizer. Das war schon in der Pestzeit von 1576 in Mailand so gewesen. Auch Biasca war damals unter den « Monati » vertreten, wenigstens der Name eines solchen « Pietro del Moro di Biasca » tut dies in einer erhalten gebliebenen Aufzeichnung kund.
Ob die Pestepidemie von 1634 und 1635 über Bellinzona hinaus bis nach Biasca vorzudringen vermochte, ist mir nicht bekannt.
4. Zu LVII, S. 68, Z. 11. Franscini schrieb dem schlechten Trinkwasser das Vorkommen von Kretins und Kröpfen zu. Von erstem gibt es heute in Biasca nicht mehr als in andern Orten des Tessins, und die Kröpfe sind zurückgegangen. Aber der sich hieran knüpfende Übernahme « Goss », mit dem die bösen Nachbarn die Biaskesen plagen, ist geblieben ( Goss, Mundart von Gozzo = Kropf ).
5. Zu LVII, S. 71, Z. 4. Die originellen Fresken in der Kapelle della Madonna del Rosario wurden erstellt von Maler Gorla von Bellinzona laut noch erhaltenem Brief vom 18. Januar 1618.
6. Zu LVII, S. 77, Z. 17. Die Bezeichnung Tarugis beruht wahrscheinlich nicht auf einer Verwechslung des Ticino mit dem Brenno. Heute noch und früher wohl viel mehr bezeichnet das Volk der Trevalli jeden grösseren Bach als « Tessing ». So nennt man auch den Brenno in der Val Blenio.
Der Name « Brenno » dürfte von der Talbezeichnung herstammen und scheint überhaupt nicht alt zu sein. Blegno und Brenno sind jedenfalls dasselbe. Die Einheimischen nennen ihr Tal « Val de Bregn ». Ohne hier die Folgerungen früherer Forschungen zu bezweifeln, kann ich es doch nicht unterlassen auf die Tatsache hinzuweisen, dass « bregn » die mundartliche Bezeichnung des Farrenkrautes ist. Val de Bregn = Farrental. Jedenfalls ist diese Auslegung wahrscheinlicher, als wenn man den Flussnamen Brenno mit dem Gallier Brennus in Verbindung bringt, der den besiegten Römern sein Schwert in die Wagschale warf. Die Bezeichnung « Biaschina » für den Brenno scheint selten gebräuchlich gewesen zu sein. Erwähnt wird sie im Lexikon Leu.
7. Zu LVII, S. 81, Z. 39. Isidoro Rossetti hat für die Bedeutung des Namens Biasca im Bollettino storico, Jahrgang 1883, eine Erklärung zu geben versucht, die kaum zu befriedigen imstande sein wird. Die Ähnlichkeit des Namens mit Bignasco und Giubiasco und das Vorkommen der Endung asca in den Flussnamen ( Calancasca, Gribbiasca usw. ) dürfte eher auf eine Beziehung zu den beiden Flüssen Ticino und Brenno hindeuten.
8. Zu LVII, S. 82, Z. 22. Herr Dr. Eligio Pometta machte mich darauf aufmerksam, dass er diese Auffassung nicht teile. Er hält die Schenkung für Tatsache und bemerkt, dass Bischof Atto von Vercelli im Jahre 945 Biasca an das Kapitel S. Ambrogio in Mailand abtrat. Atto war Herr über die Leventina, Val Blenio, Biasca und Intrasca ( Intra ). Er liess sich Biasca 945 wieder zurückgeben, später ging dasselbe aber wieder an das Kapitel von Mailand zurück.
Damit würde das erste Erscheinen Biascas in der Geschichte bedeutend früher erfolgt sein, als vorn angegeben.
9. Zu LVII, S. 93, Z. 4. Die Muggiasca stammen aus Corno und liessen sich in Bellinzona nieder. Ihr Name wurde dadurch bekannt, dass sie die Eisengruben in der Val Morobbia ausbeuteten.
10. Zu LVII, S. 93, Z. 45. Battista Tatto war wahrscheinlich ein Bürger Biascas. Ein Tatti Christoforo war 1457 Vikar des herzoglichen Kommissärs in Bellinzona. Im Jahre 1472 ist dieser Tatti Podestà von Biasca, was vermuten lässt, dass er dort Bürger war. Unter den Familien des Patriziates Biasca kommt heute noch der Familienname Tatti vor.
11. Zu LVII, S. 97, Z. 13. Streite zwischen Biasca und Iragna kamen wegen den Schutzmassnahmen gegen Ticino und Brenno gelegentlich vor. 1438 und 1450 siehe Pometta, Bd. I, S. 64.
12. Zu LVII, S. 99, Z. 11. Die Val Blenio liess sich bei dem Übertritt zu den Urkantonen ihre alten Rechte bestätigen. Pometta, Bd. I, S. 174. Doch scheinen diese im Laufe der Zeit verkümmert zu sein.
13. Zu LVII, S. 100, Z. 31. Nach Dr. O. Weiss, « Die tessinischen Landvogteien der XII Orte im 18. Jahrhundert », Seite 297, war der Tessiner Bauer meist frei vom Zehnten und besser daran als der Bauer in der deutschen Schweiz. Es mag das vielleicht auch auf Biasca zutreffen, wo allerdings das Vorkommen des Zehnten nachgewiesen ist.
14. Zu LVII, S. 104, Z. 27. Vielleicht steht die Entstehung des Kirchleins auf Monte di Paglio im Zusammenhang mit dem Schicksal der Pfarrkirche von Lodrino, das ein sehr bewegtes war. Wir wissen, dass 1446 die Pfarrkirche der Überschwemmung wegen nicht benutzbar war. Wahrscheinlich erfolgten damals Bestattungen aus diesem Grunde auf Monte di Paglio, und später bildete sich hieraus die erwähnte Legende. Im Jahre 1747 stürzte das Chor der Pfarrkirche ein, und 1917 wiederholte sich dieser Vorfall.
15. Zu LVII, S. 104, Z. 30. Das Kirchlein soll schon vor 1215 existiert haben und Pfarrkirche gewesen sein, als 1446 wegen Überschwemmungen des Tessins die Kirche in der Talebene nicht mehr benutzbar war. Rahn glaubt, dass das Kirchlein aus romanischer Zeit stammt.
16. Zu LVII, S. 106, Z. 2. Das Bollettino storico, Jahrgang 1883, Seite 191 zählt eine ganze Reihe solcher CA di pagan auf. Auch am Monte di Biasca soll sich ein solches befinden. Es war mir aber absolut unmöglich, hiervon etwas in Erfahrung zu bringen. Ebensowenig von den Höhlen in der Nähe einer Alpe Tecciasso in der Val d' Osogna, von denen Brusoni in seinem Reisebuch Luzern-Mailand, Seite 117, berichtet. In der Val Blenio soll man diese Heidenhäuser auch Baita digls Grebel oder Gröisch nennen. Grebel soll wilder, roher Mensch bedeuten, eine Bezeichnung, die seltsamerweise auch in der Innerschweiz vorkommt.
17. Zu LVII, S. 107, Z. 14. An die Gana erinnern noch Örtlichkeiten: Val de Gana, Tetti di Gana. Die noch vorkommenden Gana führen das Prädikat « de » nicht mehr. Gana ist die mundartliche Bezeichnung für eine Geröllhalde, also dem Sinn und Namen nach verwandt mit unserem « Gand ».
18. Zu LVII, S. 110, Z. 18. Als aber Carlo Borromeo auf der Höhe seines Ansehens stand, kam es vor, dass sich auch eidgenössische Amtsleute seiner Autorität fügen mussten. Der Vogt der Riviera musste, weil er einen Kapuziner beleidigt hatte, vor dem Vicario delle Riviere öffentlich Abbitte leisten und unter weitläufigen Zeremonien versprechen, in Zukunft in allem dem Papste Pius V. und Borromeo zu gehorchen.
19. Zu LVII, S. 111, Z. 23. Nach Mitteilung von Hr. Propst Bornaghi wird das Grab immer noch verehrt, indem die Leute glauben, dass ein an ihm verrichtetes Gebet für kranke Kinder besondere Erhörung finde. Die Leute pflegen beim Beten den Ring der Grabplatte auf die andere Seite umzulegen. Nach dem Bollettino storico, Jahrgang 1884, Seite 212, wird die Grabstätte des Propstes Basso als « Tomba del prevosto » vom Volke verehrt. Vermutlich handelt es sich um dasselbe Grab.
20. Zu LVII, S. 115, Z. 23. Die betreffende Weisung des Herzogs von Mailand lautet: 1431, Nov. 3. Abbiategrasso. Il duca di Milano dà facoltà a Marco Pozzo-bonelli di lasciar entrare in Bellinzona l' imperatore Sigismondo, già arrivato ad Belegno ove è logiato molto sinistramente perché non have nè lecti, nè altri appa-rechiamenti.
21. Zu LVII, S. 120, Z. 9. Es gab vor 1803 im Tessin eine einzige kurze Wegstrecke, die man als fahrbar bezeichnen konnte. Das war das horizontal verlaufende Strassenstück zwischen Mendrisio und Capolago. In der Val Blenio unterhielten die einzelnen Vicinanzien die ihr Gebiet durchziehenden Wege, vorzugsweise aber den von der Bündnergrenze sich nach Biasca hinausziehenden Saumweg des Lukmanierpasses. Man nannte diesen « la strada Francesca ». Wie Brenno Bertoni, « Les eaux thermales de Acquarossa », wohl richtig vermutet, erinnert diese Bezeichnung an ihren Urheber, den Herzog Francesco Sforza. Unter der Regierung der mailändischen Herzoge wurden, bevor der Kanton Tessin sich konstituierte, die grössten öffentlichen Arbeiten ausgeführt.
Die Gotthardstrasse bzw. der Saumweg nach Bellinzona und zum Gotthard wurde « la strada maestra » genannt ( Karte des Karl Epp aus dem 18. Jahrhundert im Archiv der Propstei ).
22. Zu LVII, S. 120, Z. 38. Nach dem im Jahre 1810 erschienenen Reisebuch von J. G. Ebell war die Gotthardstrasse damals von Biasca an abwärts für kleine Karren fahrbar.
23. Zu LVII, S. 122, Z. 37. Dergleichen Felsstürze sind auch aus den historischen Zeiten aus dem Tessin mehrfach bekannt. Verschüttet wurde das alte Bodio, das in der Gegend der Eisenbahnstation lag, ferner Taverne bei Ponte Valentino, und stark beschädigt wurden Grono und Airolo im vergangenen Jahrhundert.
24. Zu LVII, S. 124, Z. 12. Mit dem Dekret IV des Jahres 1567 wurde den Domherren von Biasca die Verpflichtung auferlegt, dass wenigstens einer von ihnen in Biasca wohnen müsse, das sie nach der Katastrophe von 1513 scheinen verlassen zu haben.
25. Zu LVII, S. 126, Z. 32. Eine nähere, wenn auch kurze Beschreibung hat der Bergsturz von Biasca in der Dissertation des Geologen Hermann Lautensach ( Glazialmorphologische Studien im Tessingebiet ) gefunden. Er schreibt Seite 48:
« Der Gneis des Pizzo Magno nordöstlich von Biasca lässt auffällige, nördlich-fallende Klüftungsflächen erkennen. Diese haben mit der Parallelstruktur nichts zu tun, die ich mehrerenorts sehr steil, fast saiger beobachtete, soweit sie überhaupt hervortritt; denn es handelt sich durchweg um einen Augengneis mit teilweise zollgrossen, unregelmässig gelagerten Feldspäten. In den durch die Übertiefung geschaffenen Steilsturz des Pizzo Magno nagte sich von Osten her ein Wildbach ein, in seinem obern Teil sich verzweigend, so dass hier eine Art Halbtrichter mit sehr steilen Wänden entstand. Langanhaltende Regengüsse während des September 1512 lockerten den Zusammenhang des Gesteins längs der Klüftungsflächen, und das erwähnte Erdbeben brachte dann die so entstandenen Spannungszustände zur Auslösung. Eine gewaltige Felsmasse löste sich längs der Klüftungsflächen und stürzte herab, jedoch nicht in der Richtung von deren Fallen ( Norden ), was nicht möglich war, sondern in der Richtung des Gehängefallens ( NW ). Sie eilte durch den Wildbachkanal wie durch einen Trichter und breitete sich an dessen Mündung als ein rissiger, etwa 2 km2 im Umfang messender Fächer aus, so dass ihre heutige Oberflächenform der eines allmählich rein fluviatil gebildeten Schuttkegels gleicht. Sie staut den Brenno noch heute sichtlich auf, der von Malvaglia an eine häufig überschwemmte, ganz rezente alluviale Niederung verwildernd durchschlängelt, während sein stärkeres Gefälle im Bereich des Bergsturzes die Energie zur elektrischen Beleuchtung der Stadt Biasca liefert. Eine andere kleine Talstufe wird wenig oberhalb zwischen Motto und Malvaglia durch den rebenbestandenen Trümmerhaufen von Ludiano bedingt, dessen Ausbruchnische unter Ghiringhello zu suchen ist. » Gotthard End.
Schon früher hat ein Geologe den Bergsturz beschrieben. In den « Geognostisch-mineralogischen Beobachtungen im Quellgebiete des Rheins » von G. von Rath ( Zeitschr. Deutsch. Geol. Ges. 1862, Seite 455 ) ist zu lesen:
« Bei Malvaglia gewinnt der vollkommen ebene Talboden eine Breite von mehr als 1 km. Ehemals mündete das Bleniotal in derselben Weise bei Biasca in die Riviera aus. Jetzt aber verschliesst ein ungeheurer Felssturz von dem im O. 2000 m über dem Tal aufragenden P. Magno herab die Talebene von Malvaglia. Wären nicht die hohen Berge ringsum, so würde der Trümmerkegel als ein wahres Gebirge erscheinen, denn er bedeckt, von den östlichen Bergen sich zu den westlichen hinüberziehend, einen Raum von wenigstens 2 km2, und seine Höhe im Osten, wo er sich an die Felswände des P. Magno lehnt, mag 300 m übersteigen. Er ist einer der grossartigsten Felsstürze, welche sich in den Alpen ereignet haben. » Bertoni, der in seiner Schrift « Les eaux thermales de Acquarossa » den Bergsturz von Biasca beschreibt, datiert denselben auf den 28. September 1513. Bertoni flicht einige Bemerkungen in seine Beschreibung, die für Einzelheiten in der Geschichte des Bergsturzes von Wert sind. Er nennt den Pizzo Magno « Crenone » und setzt neben letzteren Namen auch die Bezeichnung « Carnone«, was an das noch erhaltene « Sass Carnon » ( siehe Seite 125, Bd. 57 ) erinnert. Wichtiger ist Bertonis Wahrnehmung, dass man an der dem Schuttkegel gegenüberliegenden rechten Bergflanke Spuren des ursprünglichen, den Brenno stauenden Schuttwalles erblicke und hieran die Höhe desselben ermessen könne. Diese Stelle fällt einem auf, wenn man das Bergsturzgebiet aufmerksam durchstreift. Unter dem ersten Eindrucke wäre man geneigt, zu glauben, es sei auch ein gleichzeitiger Sturz vom Sasso di Pollegio niedergegangen, es hätten also zwei Bergstürze stattgefunden, von beiden Talseiten her. Mit dieser Ansicht würde sich die Beschreibung der Gule-rischen Chronik decken, welche erzählt, dass « zwei Berge zusammenfielen ». Höchst wahrscheinlich beruht aber diese Darstellung nicht auf einer unmittelbaren Beobachtung des Bergsturzes, sondern es wurde derselbe lang nachher ( die Chronik datiert von 1616 ) beschrieben.
Der Schuttrest an der rechten Talflanke rührt nach meiner Ansicht unbedingt vom Absturz des Pizzo Magno her. Man entdeckt am Sasso di Pollegio nichts, das auf eine Entstehung von dieser Seite hindeuten würde. Die Form des Schutthanges im obern Teil scheint letzteres überhaupt auszuschliessen. Volle Klarheit könnte vielleicht ein Vergleich der Gesteinstrümmer mit dem anstehenden Gestein des Sasso di Pollegio bringen. Eine solche Untersuchung steht aber leider noch aus. Bemerkt sei, dass auch die Zeitgenossen nicht von zwei Bergstürzen, sondern nur von dem des Crenone sprechen.
Bertoni schreibt ferner, dass sich der Stausee auf 400 m Meereshöhe erhoben hätte, 1250 m breit und 4700 m lang gewesen wäre. Malvaglia sei unter Biasca und Val Pontirone.
Wasser gestanden. Nach meiner, auf mehrfacher Betrachtung der Gegend fussenden Überzeugung wird diese Annahme richtig sein.
Auf Seite 126 des Jahrbuches 57 findet sich die Angabe, der Schuttkegel des Bergsturzes messe 600 m in der Breite und Länge. Diese Angabe ist irreführend, sie bezieht sich auf ein engeres Gebiet, das wahrscheinlich die Anhäufung der zuletzt abgestürzten Masse umfasst. Der ganze Schuttkegel misst ein Vielfaches davon. Doch bleibt immerhin die Wahr- scheinlichkeit bestehen, dass schon viele Jahrhunderte vor dem bekannten Bergsturze, vielleicht schon aus vorgeschichtlichen Zeiten her, ein Schuttkegel bestanden hat.
Wenn der Geologe Rath von einer überdeckten Fläche von im ganzen 2 km2 spricht, so kommt das den Tatsachen sehr nahe.
Ich habe auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Carnon und Crenone dasselbe Wort sein könnten ( Jahrbuch 57, Seite 125 ). Auch Bertoni stellt ja beide Namen nebeneinander. Nun macht mich Herr Frey-Binda in Bellinzona darauf aufmerksam, dass in der dortigen Mundart « Crena » Spalt bedeute. Crenone würde demnach grosser Spalt heissen, eine auf die Abrissschlucht des Pizzo Magno sehr gut passende Bezeichnung.
26. Zu LVII, S. 132, Z. 9. So gibt es beispielsweise in der Gegend von Visnone am Ufer des Ticino und bei Fraccette streifenartige, äusserst schmale Grundstücke, von nur 11/2 m Breite. Sie sollen einst alle Allmendland gewesen sein und nach der Über- schwemmung von 1868 an die geschädigten Patrizi geschenkt worden sein. Dabei sei die Länge des Land-streifens nach der Grösse des erlittenen Schadens bemessen worden.
27. Zu LVII, S. 132, Z. 32. Verschiedene Flurnamen erinnern noch an den ehemaligen Besitz der Stiftskirche. « La monicheria », die Gegend des heutigen Vieh-marktes, « Prevosture » auch « Quaresima » und andere.
28.Zu LVII, S. 134, Z. 29. Siehe Fig. 1, Konstruktion einer « Többia ».
Gotthard End.
29. Zu LVII, S. 139, Z. 45. Dieses Gericht wird wie folgt zubereitet: Gesottene Erdäpfel ( « pomm in bordoi » ) werden geschält, zerkleinert und dann auf einer kräftigen Hebelpresse, der a Maccapomm n, die in keinem ländlichen Haushalt fehlt, durch ein Sieb gedrückt. Die nachher zusammengeknettete Masse wird in einer grossen Pfanne in zerlassener Butter geröstet, bis sie durch und durch goldgelb ist. Das dauert fast eine Stunde, während der mit einem Schäufelchen fleissig gewendet und geknetet wird. Zuletzt kommen noch dünne Scheiben von jungem Käse ( Ma-jocca ) dazu.
Das Gericht kommt nun aber nicht etwa mit Teller, Messer und Gabel auf den Tisch. Es geht bedeutend einfacher her. Jeder langt sich sein Stück Fladen von Hand aus der Pfanne, formt sich daraus, je nach seiner Phantasie einen Zapfen oder Gipfel oder Horn und isst nach Herzenslust. Der Durst, der sich bald einstellt, wird mit Milch gestillt.
Zu LVII, S. 139. Siehe Fig. 2, Die Maccapomm.
30. Zu LVII, S. 142, Z. 47. Siehe Fig. 3, Maiensässhütte am Monte di Biasca und Fig. 4, Dachkonstruktion.
32. Zu LVII, S. 144, Z. 21. In der Gemeinde Biasca und in der Umgebung sind folgende Übernamen gebräuchlich:
Biascagoss ( gozzuti = kropfige ).
Valle ( Pontirone ) perse ( porchi = Schweine ). SulgoneChiei ( cani = Hunde ).
Cugnascobascioi ( gracchie = Dohlen ).
Mazzolinoasen ( asini = Esel ).
Osognaparüsc ( Ziegenart ).
PollegioChiäng ( cani = Hunde ).
33. Zu LVII, S. 144, Z. 25. Diese Ansicht deckt sich mit den Ausführungen in Dr. Karl Meyers « Leventina und Val Blenio n, Seite 65. Damals war die Bevölkerungs-dichtigkeit des Duecento kaum wesentlich schwächer als heute. Sogar die entlegensten Alpweiler und heute abgegangene Örtlichkeiten tauchen in den Urkunden jener Zeit auf.
Biasca und Val Ponttrone.
34. Zu LVII, S. 145, Z. 2. « Campi », die nicht grösser sind als 2 Meter lang und breit, kommen viel vor. Ich liess mir sagen, dass diese unglaubliche Zerstückelung von einem alten Erbgesetz herstamme. Heute kann nach dem neuen kantonalen Gesetz eine Parzelle von weniger als 1500 m2 nicht mehr geteilt werden.
35. Zu LVII, S. 145, Z. 21. Der gesamte Viehstand der Gemeinde ergibt nachstehendes Bild. Seine Schwankungen im Laufe der Jahre scheinen nicht gross zu sein, wie aus der danebengestellten Statistik des Jahres 1859 hervorgeht:
18591920 Pferde8 26 ( dazu 2 Maultiere, 17 Esel ).
Stiere2 Kühe600572 ( total Rindvieh ).
Ziegen18001583 Schafe396347 Schweine 120194 Dieses Vieh ist fast ausnahmslos Eigentum der « Patrizi ». So waren beispielsweise unter den im Jahre 1919 aufgetriebenen 512 Kühen nur 24 Stück, welche Niedergelassenen gehörten, und unter den 1521 Ziegen waren es sogar nur 16 Stück.
Herr Dr. Käppeli bemerkte mir bezüglich der Anzahl der Ziegen, dass die offizielle Angabe kaum stimme. Die Bauern geben der Steuer wegen immer eine geringere Stückzahl an, als sie tatsächlich besitzen. Herr Dr. Käppeli schätzt die Zahl der Ziegen in der Gemeinde auf gegen 3000 Stück.
Gotthard End.
36. Zu LVII, S. 145, Z.31. Eine solche gemischte Herde wird « roda » genannt und der Hüter, wie schon erwähnt, « rodé ». « Andare a roda » sagte man aber auch, wenn bei- spielsweise ein alter Vater abwechslungsweise, der Reihe nach, bei den Familien seiner Kinder zum Essen ging. Ein Brauch, der in Biasca vorkam. Das Wort « rodé » wurde mir als altertümlich bezeichnet. Gewiss ist es erwähnenswert, wenn man hierüber in der interessanten Ausführung « Die Rodarienzinse » in Dr. K. Meyers « Leventina und Val Blenio », S. 145 u. ff., liest.
37. Zu LVII, S. 146, Z. 29. Siehe Fig. 6, Ohrenmarken der Ziegen.
38. Zu LVII, S. 147, Z. 27. Siehe Fig. 7, Traggeräte.
39. Zu LVII, S. 148, Z. 14. Siehe Fig. 8, Fussbekleidungen.
40. Zu LVII, S. 149, Z. 17. Ebenso war das in manch anderem Bergtal. So schreibt Leu über die Val Lavizzara:
«... von den Einwohnern begeben sich eine grosse Anzahl den Sommer über in frembde Lande, etwas für den Winter zu erwerben, und sind einige davon in solchen Stand kommen, dass sie auf den Jahrmarkten in Deutschland, Eydgenossschaft ecc. die kostbarste Seidenwahren feil haben. » Und ähnlich, wenn auch weniger schmeichelhaft, berichtet Leu über die Leute der Val Calanca:
« Calanker werden in Graubünden und anderwerts genennt ein in dem Land herumziehendes Völklein, welches theils aus diesem Thal theils aus dem S. Jacobs Thal gebürtig, da die Männer ehemals mit Zeinen und Körben, auch aus den Bäumen gesammelten Harz, jetz auch mit Stein- und Stauden-graben, auch mit herumtragen von etwas Seifen, Eisendraht, Wetzsteinen etc. sonderlich auch mit der Wegschaffung des f. v. abgegangenen Viehs, deswegen sie auch einiger Orten die welschen Schinder genennt werden... etc. » 41. Zu LVII, S. 151, Z. 2.
Die Wanderung einer Bauernfamilie.
Biasca und Val Pontirone.
43. Zu LV II, S. 153, Z. 46. Über die Einzelheiten des in der Val Pontirone üblichen Verarbeitens der Milch mag folgendes zur Auskunft dienen:
Man melkt unter Benutzung des überall üblichen Melkstuhles 1 ) in Eimer 2 ) und giesst zur Reinigung die Milch 3 ) durch ein Sieb mit Trichter 4 ).
Zum Ausscheiden des Rahms 5 ) lässt man die Milch darauf bei gewöhnlicher Temperatur stehen. Im Sommer etwa 24 Stunden lang. Später, gegen die Alpentladung hin, wo die Kühe schon weniger Milch geben und die Temperatur niedriger ist, bis 48 Stunden. Hierzu bedient man sich weiter, flacher Gefässe. Früher waren diese aus Holz, wie heute bei uns noch fast überall. Die Bauern fertigten sie selber an oder bezogen sie aus der Gegend von Disentis. Jetzt sieht man fast ausschliesslich nur Gefässe aus Weissblech und Kupfer 6 ). Der Rahm wird mittels einer flachen, hölzernen Kelleabgeschöpft. Die verbleibende Magermilch 8 ) gelangt zum Verkäsen 9 ) ins Kessi 10 ), das in bekannter Weise am Turner, einem drehbaren Arm 1l ), über den offenen Feuerherd 12 ) gedreht werden kann.
In die auf etwa 30° C erwärmte Milch ( selten wird das Thermometer benützt; man taucht den Finger ein und schätzt nach dem Gefühl ) kommt das Lab 13 ), das sie zum Gerinnen bringt. Dann wird das Kessi ab dem Feuer gezogen und die Käsemasse mit der Rahmkelle zerteilt. Während dieser Arbeit erkaltet der Kessiinhalt, er wird wieder erwärmt auf 35-42° C, unter beständigem Umrühren mit dem Käsbrecher 1 ). Dann wird die auf dem Kessiboden liegende Käsemasse zu einem Klumpen zusammengeballt, herausgehoben und in die bereitstehende Käsform 2 ) hineingedrückt. Das geschieht alles von Hand, das Kästuch kennt man nicht. Es kommt auch vor, dass gleich im Kessi über die zusammengeballte Käsemasse die Käsform gedrückt und der Käse so ausgehoben wird, doch ist dieses Verfahren selten.
Die Käsform wird in eine Holzmutte 3 ) gelegt und die Käsemasse in sie hineingepresst. Das Ablaufen des Wassers befördert man, indem man die Mutte von Zeit zu Zeit schräg hält. Gewöhnlich wird der Käse nicht einmal beschwert. Als weitere Behandlung kommt noch das Salzen. In etwa 2 Monaten gilt der Käse als reif.
Aus der im Kessi zurückbleibenden Käsmilch ( Molke)4 ) wird noch der Zieger 5 ) gewonnen. Dazu wird diese aufs Feuer gesetzt und bis nahezu 90° C erwärmt. Wenn dann die ersten Bläschen aufsteigen und sich Schaum zu bilden beginnt, wird die Buttermilch beigegossen. Siedet das Ganze, so wird Milchessig 6 ) beigegeben und noch einmal aufwallen gelassen. Der obenaufschwimmende Zieger wird mit einer durchlöcherten Kelle ( Schaumkelle ) 7 ) entweder in ein Fass 8 ) geschöpft oder in einen Sack frei zum Vertropfen aufgehängt. Ersteres ist mehr in der Val Pontirone, letzteres am Monte di Biasca üblich.
Die noch im Kessi verbleibende Schotte 9 ) wird den Schweinen verfüttert.
Der Rahm wird in dem primitiven Stossbutterfass 10 ) zu Butter l1 ) verarbeitet und aus der verbleibenden Buttermilch 12 ) noch Zieger gewonnen. Das Buttern geht neben dem Käsen her.
Die « geschwungene Nidel » wird auch hier geschätzt. « Polenta e crama » bilden das beste Gericht, das der Älpler kennt. Aus ihm besteht das Abschiedsmahl, wenn er eine Alp verlässt, zu einer andern oder ins Tal hinabzieht.
44. Zu LVII, S. 154, Z. 45. Über das Wort « favra, faura » siehe Bollettino storico 1894, Seite 226.
45. Zu LVII, S. 157, Z. 14. Siehe Fig. 10, Beispiel einer « Marca ».
46. Zu LVII, S. 157, Z. 21. Auch auf das Ziehen der Weinrebe und auf das Schneiden des Haupthaares glaubt man, dass der Mond Einfluss besitze.
Wenn die Leute auch noch so sehr beteuern, sie seien frei von Aberglauben, so stosst man doch noch da und dort auf seine Spuren. Die Angst vor dem bösen Blick ( Malocchio ) ist nicht verschwunden, und Verwünschung seitens eines alten Weibes nimmt man schwer. Kommt Krankheit über ein Kind oder ans Vieh, so erblickt man hierin leicht die Folge der « invidia » ( Missgunst eines Nachbarn ). Man lässt dann das kranke Kind segnen. Dem kranken Vieh verabreicht man gesegnetes Salz.
Auch hier scheint der Freitag als Unglückstag zu gelten. Wenigstens soll am Freitag nie ein Alpwechsel stattfinden, das bringt sonst Unglück.
47. Zu LVII, S. 159, Z. 1. Schon früher kamen Italiener als Waldarbeiter in den Tessin. Karl Viktor von Bonstetten erzählt ( Seite 157 ): « Ob Locamo trafen wir zwei Männer an mit grossen Sägen ( Resichini ). Sie sind alle von Trident. Sie hauen Bäume und Bretter in den Wäldern mit Fig. 10.
grosser Fertigkeit. » 48. Zu LVII, S. 165, Z. 9. Dieses Haselnussfest findet am 2. oder 3. Fasten-sonntag statt und scheint verschwinden zu wollen wie andere alte Bräuche. Noch vor kurzem war es üblich, den Josefstag ( « San Giuseppe » ) besonders zu feiern, indem auf jenen Tag « scfoiad » ( Küchli ) gebacken wurden. Wer Giuseppe hiess, und es gibt deren viele, wurde von seinen Freunden aufgesucht und musste dann diesen einen Trunk zahlen. Immer noch kommt am Kirchweihtage ( St. Peter, 29. Juni ) eine Torte auf den Tisch, « la torta di San Pietro », und man nennt den Tag daher auch « la festa di tortei ». Sonst ist man nicht verwöhnt, und das Gitzi-fleisch, das der Bauer im Frühling hat mit Polenta und « ris a lacc », nennt er schon eine Schleckerei.
49. Zu LVII, S. 165, Z. 21. Die Einheimischen scheinen die Bezeichnung « Ara di Caspare » nicht zu kennen, und es ist dieselbe in der letzten Ausgabe des Blattes Biasca des topographischen Atlasses verschwunden. Man nennt die betreffende Örtlichkeit « Sür Ara ». Unter Ara soll man eine Hütte mit pultförmigem Dach verstehen.
50. Zu LVII, S. 167, Z. 18. Diese Terrassenbildung hat schon früh die Aufmerksamkeit der Geologen erweckt und zu interessanten Annahmen geführt. Wer Näheres hierüber wissen will, dem sei die Studie « Glazialmorphologische Studien im Tessingebiet » von Hermann Lautensach, 1910, empfohlen, wo er unter « Die alten Talboden des Tessingebietes » interessante Erklärungen über diese Erscheinung findet. Auch von den riesigen Gletscherströmen, welche zur Eiszeit die Tessintäler derart ausfüllten, dass nach den Gletscherschliffen das Eis bei Biasca bis auf 1900 Meter Meereshöhe hinaufreichte, ist in der Studie die Rede.
51. Zu LVII, S. 170, Z. 10. Bezüglich « Scieng » schreibt Franscini Seite 308: Sceng = kleine Weide oder Wald zwischen nackten Felsen. Inscengià und dascen-già = eine Kuh oder ein Rind in eine solche Weide führen und dort einschliessen bzw. dort holen. « Dascengià » sagt man auch, wenn man eine verkletterte Ziege aus ihrer Lage befreit.
52. Zu LVII, S. 172, Z. 37. Selbstverständlich stehen auch hier die Reist-bahnen unter Aufsicht. Soll eine solche benützt werden, so ist zuerst der Gemeindeverwaltung Anzeige zu machen, worauf das Reisten am Sonntag vor der Kirche ausgerufen wird. « Si fa grida il trenc », Reisten nennt man « remanare ».
53. Zu LVII, S. 175, Z. 22. « Gualt » scheint Wald zu bedeuten und ist ein altes Wort, dessen Sinn heute bei den Einheimischen kaum mehr bekannt ist. In alten Urkunden stösst man gelegentlich darauf ( siehe Dr. K. Meyer, « Leventina und Val Blenio », Seite 44, Anmerkung 1 ). Die Bezeichnung tritt in der Val Pontirone an einigen Stellen auf: Pe dru Gualt bei Sciresa, Cascina di Gualt bei Alpe della Cava.
Eine sehr interessante Ausführung über das Wort findet sich in der « Neuen Zürcher Zeitung », Nr. 1726, B. November 1919, aus einem Vortrag von Dr. Escher-Bürkli in der Zürcher antiquarischen Gesellschaft « Vom schweizerischen Wald ».
54. Zu LVII, S. 177, Z. 30. Herr Sekundarlehrer P. Knoblauch, dem ich betreffend diese Monographie manche Unterstützung verdanke, machte mich darauf aufmerksam, dass dergleichen Löcher zum Zerstampfen von Kastanien auch an anderen Orten im Tessin zu sehen seien. Wahrscheinlich handelte es sich um das Zerstampfen gedörrter Kastanien. Auffällig ist, dass die Bauern die Bestimmung des Gerätes nicht mehr kennen. Eine prähistorische Herkunft scheint mir auch ausgeschlossen zu sein.
55. Zu LVII, S. 182, Z. 40. Andere auf das Wetter bezügliche Sprichwörter lauten: « Quand ol so o fa finestra, acqua sur la testa. » Oder: «... ol temp o fa tempesta. » Wenn die Sonne durch Wolkenrisse scheint, gibt es Regen bzw. schlechtes Wetter.
« Quand che i nüri i va in Calanca — acqua non manca. » Wenn die Nebel gegen die Val Calanca ziehen, komme Regen.
« Quand che piov al di di dre Scensiung, gent e beste i va a borlong. » Wenn es am Tage nach Auffahrt regnet, stürzen Leute und Vieh ab.
« Santa Barbara e San Simung con cüri dere saete e del trung. » Sankt Barbara und Sankt Simon bewahrt uns vor Blitz und Donner.
« Brütt chierent e bel il mes. » Wenn der erste Tag im Monat schlecht ist, wird der Monat gut. Im Gegensatz dazu behauptet man, das Jahr werde gut, wenn seine 12 ersten Tage gut seien bzw. so wie diese Tage seien, würden auch die 12 Monate ausfallen.
Wenn die Ziegen ein dickes Fell bekommen, so soll das einen kalten Winter anzeigen.
Wenn die Weiden lang wachsen, so soll der Winter lang andauern.
Schütteln die Ziegen häufig den Kopf, so soll das ein Zeichen von baldigem Schneefall sein.
Putzen sich die Katzen hinter dem Ohr und streichen nach vorn, so künde das schlechtes Wetter an. Wenn die Schneeammern ( i giaussa ) in grosser Zahl im Tal auftreten, so soll das ein Anzeichen von Schneefall sein.
In der Val Pontirone kennt man vier Winde: il vent = Westwind, l' aria = Ostwind, vom Passo di Giumella her, ol tarborizzi = Sturmwind, besonders für orkanähnliche aria, il foin = Nordföhn, kommt von S. Anna her. In Biasca weht der foin ebenfalls, dort kommt er aus der Leventina.
56. Zu LVII, S. 183, Z. 7. « Madei » dürfte soviel wie Wildheumatte heissen, denn « andò al madei » sagt man, wenn man zum Schneiden des Wildheus auszieht. Dazu wird fast ausnahmslos nur die Sichel benützt. Das Wildheugras wächst auf Allmendboden, wo es von Ende Juli an geschnitten werden darf. Man verschmäht auch das Waldgras nicht.
56bis. Zu LVII, S. 185, Z. 24.
Anmerkung der Redaktion. Die Notiz über den verschwundenen Gedenkstein des ersten Tessiner Bundesrates Stefano Franscini entspricht nicht den Tatsachen. Wie mir Dr. Haffter mitteilt, wurde Franscini am 21. Juli 1857 im Monbijou-Friedhof zu Bern bestattet. Als später dieser Friedhof aufgegeben wurde, wurden die Gebeine Franscinis nach seinem Heimatort Bodio verbracht, während man seinen Grabstein gleichzeitig auf die Südseite des Gebäudes des eidgenössischen statistischen Bureaus an der Inselgasse ( sog. Hallerhaus ) in Bern verlegte. Dies geschah im Sommer 1894. ( Vgl. hierüber Zeitschrift für Schweizerische Statistik, Jahrgang 34, 1898, Seite 665, 694, ferner ebendaselbst Seite 744 ff., wo die Feier- lichkeiten geschildert und die Reden abgedruckt sind, die anlässlich der Trans-ferierung der Gebeine Franscinis von Bern nach Bodio und der Verlegung seines Grabsteins vom Monbijou-Friedhof nach dem Hallerhaus gehalten wurden. Auch findet man a.a.O., Seite 748, eine Abbildung dieses Grabsteins. ) Als dann 1911 das Hallerhaus abgebrochen wurde, um einem Neubau Platz zu machen, musste auch dem Grabstein Franscinis ein neuer Standort angewiesen werden. Derselbe fand sich in den dem eidgenössischen Archivgebäude ( auf dem Kirchenfeld ) vorgelagerten Gartenanlagen, wo dieses Monument in bestem Zustand noch heute zu sehen ist.
57. Zu LVII, S. 185, Z. 41. Die Alpe d' Airoldo dürfte ursprünglich ganz Privatbesitz gewesen sein, daraufhin deutet ihr Name. Derselbe kam einst in der Gegend vor: Johann de Airoldo von Claro 1316 ( Dr. K. Meyer, « Leventina und Val Blenio », Seite 52, Anmerkung 6 ). Die Alp ist jetzt noch teilweise Privatbesitz. Eine Familie ( Pini Agostino ) hat das Recht, die Alp den ganzen Monat Juni bis zum allgemeinen Alpauftrieb zu nutzen.
Die Alp Jan ist ganz Privateigentum der Familien Maggini Sigismondo und Vannini Aristide.
58. Zu LVIII, S.U. Z. B. Siehe Dr. K. Meyer, « Leventina und Val Blenio », S.7. Zu S. 11, Z. 47. Die Monti Leggiuna sollen früher zu Biasca gehört haben und erst durch das Schiedsgericht Malvaglia zugefallen sein. Nach der Überlieferung sollen Urkunden, die dieses Urteil verunmöglicht hätten, in Biasca auf dem Wege der Bestechung beseitigt worden sein.
59. Zu LVIII, S. 13, Z. 10. Bezüglich dem Zugange zur Val Pontirone von Ponte Leggiuna bis S. Anna, schrieb mir Herr Forstinspektor Schell, dass für jene Strecke die Anlage eines bequemen Saumsträsschens geplant sei, dessen Erstellungskosten auf Fr. 35,000 veranschlagt seien. Die Verwirklichung des Projektes sei aber noch ungewiss, wegen der Haltung der Biaskesen, während die Pontironesi aus begreiflichen Gründen dafür eintreten.
60. Zu LVIII, S. 16, Z. 23. In seiner gründlichen und sehr interessanten Arbeit « Aus der schweizerischen Korrespondenz mit Cardinal Carl Borromeo 1576-1584 » beschreibt Herr Dr. Wymann, jetzt Staatsarchivar in Altdorf, das Vorkommnis und bemerkt dazu: Pietro Martinolo, der 1620 das Leben und die Taten unseres Heiligen in lateinischen Versen besang, widmet diesem Abstecher die Verse:
« Scissuram Pontironi conscendit iniquam Horas insumit tres superando jugum. » Als Poet stellt Martinolo dem heiligen Karl auf dieser Reise einen Engel zur Seite. Die Tinetti sollen, als San Carlo unruhig geworden sei, ausgerufen haben: « Ehi ghiamba el feresch not brot scia no, to re vèi sgiù i lè. » ( Ehi gamba di felce, non ti movere Se no, vedilo laggiù ) oder nach einer andern Fassung:«Chierle, Chierle Sta int in to gabanil Warda fora par to fanestril E'n parla brichia Sa no ta batum ju par l' antervalle. » Diese Worte übersetzte Herr Dr. Wymann in die Nidwaldner Mundart:
« Karli, Karli, Häb di der tusig gottswillä Doch ai äs bitzili stillä Und thuän is nid ä so gnappä, Sust gheist is dui nu dri appä. » ( Geschichtsfreund, Bd. LIV, Seiten 211 und 225. ) Diese Erzählung ist heute in der Val Pontirone nur noch wenig bekannt.
61. Zu LVIII, S. 17, Z. 20. Eigentlich soll San Michele Schutzpatron sein, denn nach dem Bollettino storico 1884, Seite 278, war, als im September 1639 in der Val Pontirone « la festa di S. Michele, patrone della Parocchia e Chiesa di Pontirone » gefeiert wurde, der « Eminentissimo e Reverendissimo sig. Cardinale Cesare Monti », Erzbischof von Mailand, persönlich zugegen. Und dass zu « San Michel » bei Regenmangel Zuflucht genommen wurde ( siehe unter Fontana ), deutet auch darauf hin, dass dieser Heilige eine besondere Verehrung genoss im Tale.
62. Zu LVIII, S. 19, Z. 12. Über die « Festa di Bacco » finden sich nähere Angaben in « Les eaux thermales de Acquarossa » von J. und M. Bertoni: Seite 9. « C' est qu' à Ponte Valentino, au principe du siècle passé, an célébrait encore les fêtes de Bacchus, tant comme dans l' antiquité, et nous pouvons en lire la description détaillée dans une poème écrit en 1692 ( Genora: liber exametrorum sive heroicorum carnimum ). » 63. Zu LVIII, S. 20, Z. 29. Im Sommer 1922 hat die Leggiuna auch ohne den Rì secch schlimm genug gehaust. Hinten im Tale, bei der Alpe Leggiuno, ging während starken Regengüssen ein bedeutender Erdschlipf nieder. Der Schutt wurde von der Leggiuna talabbefördert und bei Ponte Leggiuna unten abgelagert, so dass das grosse, weite Delta sich um mehr als 1 Meter hob. Die Leggiuna bahnte sich dabei südwärts Bahn, mitten durch die mühevoll angelegten Waldkulturen. Provisorisch angelegte Dämme halfen wenig. Bei jedem neuen Hochwasser nahm die Leggiuna wieder einen neuen Lauf und gefährdete Bahn und Strasse, Wald und Felder ernstlich. Nun werden solide Steindämme errichtet. An eine Verbauung im Tale hinten kann der hohen Kosten wegen nicht gedacht werden.
Das morsche Gestein der Val Pontirone hat in den letzten 20 Jahren manches Stück Weidland mit Steinschutt überdeckt, und zahlreiche Rüfen und Erdschlipfe sind entstanden. Es fehlt nicht an Anzeichen, dass der Verwitterungsprozess auf der rechten Talseite stetig seinen Tribut fordern und zum Verlassen der einen und anderen Maiensässe Anlass geben wird. Die linke Talseite ist diesbezüglich besser daran, denn die Hänge sind meist weniger steil und zum Teil mit grossen Nadelholzwaldungen bedeckt. ( Mitteilung von Herrn Forstinspektor Schell in Biasca. ) 64. Zu LVIII, S. 22, Z. 28. Die erste Erwähnung der Granaten von Biasca findet sich in der Chronik von Johannes Guler von Weineck 1616 und lautet:
« In der Gegend da das Palenser und Livinertal zusammenstossen nahe bey dem dorff Abiasco hat man zun Zeiten Galeatzij Sfortie Meyländischen Hertzogs Carfunkelstein so vorhär allein auss den Indien zu ons bracht wurden auss dem steingebirg ans Licht gebracht, die es an glantz den Orientalischen bevor thaten; wurden aber also schwerlich auss den felsen herfür gehauwen dass oft der kosten die nutzung übertraff.»Es liegt hier wahrscheinlich eine Verwechslung zwischen Abiasco und Albinasca bei Airolo vor, wo granatenführender Glimmerschiefer vorkommt wie noch an manchem Ort in den Tessinerbergen. Nur gerade in der Gegend von Biasca kommen diese Granaten nicht vor. Gleichwohl ist Gulers Angabe in spätere Bücher übergegangen.
In Faesis Staats- und Erdbeschreibung, 2. Band, Seiten 217/218, findet sich zu der von Guler gegebenen Bemerkung noch der Zusatz, dass man in derselben Gegend ( Biasca ) ein anderes Gestein von « gräulichweisser » Farbe finde, mit schönen, schwarzen Streifen, welche sehr artig ineinanderlaufen. Dann ist noch von Kristall-gruben und Schwefelquellen die Rede, deren Scheuchzer in seinen « Bergreisen » gedenkt. Alle diese Angaben deuten auf Albinasca und nicht auf Biasca. Das ersterwähnte Gestein ist offenbar Chenopodit, der bei Albinasca neben dem Granatschiefer viel vorkommt. Eine Schwefelquelle findet sich ebenfalls in der Nähe, unten am Ticino.
Biasca und Val Pontirone.
65. Zu LVIII, S. 22, Z. 40. Im Sommer 1923 wurden vom Patriziat Biasca aus eigenen Mitteln auf den beiden Alpen Giumella und Leggiuno neue geräumige Ställe gebaut, wie mir Herr Forstinspektor Schell schreibt.
Nicht mit Unrecht bemerkt Herr Schell, das Volk beginne den Wert für die Alpwirtschaft einzusehen.
66. Zu LVIII, p. 37, Z. 18. Über Serravalle finden sich nähere Angaben in: Dr. K. Meyer, « Leventina und Val Blenio », Dr. Eligio Pometta, « Come il Ticino... a, R. Rahn, « Die mittelalterlichen Kunstdenkmäler des Kantons Tessin ». Ferner in J. und M. Bertoni, « Les eaux thermales de Acquarossa » und « Almanaco del Popolo Ticinese 1900 ».
67. Zu LVIII, S. 39, Z. 40. Dieser Bär, ein mächtiges Tier, wurde vom Gemeindepräsident Riva von Grono, in einem Seitental des Misox, auf der Gemsjagd geschossen. Einige Jahre vorher schoss Marci in der Val Calanca 2 Bären, die von San Bernardino her in jenes Tal gekommen waren. Marci in Rossa, ein gewaltiger Nimrod vor dem Herrn, der über 1800 Gemsen und unzähliges anderes Wild geschossen hat, erzählte mir ausführlich von seiner Bärenjagd, die er mir immer als ein mühseliges, aber wenig gefährliches Unternehmen schilderte.
Wann in der Val Pontirone die letzten Bären auftauchten, weiss niemand mehr. Dass in der Val d' Osogna drüben noch 1830 herum ein Bär geschossen wurde, habe ich schon erwähnt ( Jahrbuch 57, Seite 175 ). Im 18. Jahrhundert war das Vorkommen von Bären in diesen Seitentälern gewiss keine Seltenheit.
Viel zahlreicher waren die Wölfe. Wie ich an anderer Stelle ( Jahrbuch 57, Seite 165 ) bemerkt habe, traten diese gelegentlich ganz nahe bei den Ortschaften auf. Im 18. Jahrhundert machten sie sich stark bemerkbar. So erzählen beispielsweise die « Monatlichen Nachrichten von Zürich », dass in dem kalten Winter 1772/73 in der Riviera 1 Bär und 3 Wölfe erlegt worden seien. Einige Tage nachher habe man bei Lodrino wieder 3 Wölfe gesehen. Auch über die damals in Biasca üblichen Wolfs-fallen und daran sich knüpfende Begebenheiten weiss diese Zeitschrift zu erzählen.
68. Zu LVIII, S. 43, Z. 18. Die mangelhafte Nomenklatur in der Val Pontirone tritt in der Torrentegruppe am auffälligsten hervor. Entweder wurde dieselbe von den Topographen als Nebensache behandelt, indem man sich über die ortsüblichen Benennungen hinwegsetzte, oder es liegt eine unglaubliche Oberflächlichkeit vor. Bei einem solchen Vorgehen muss es einem wundernehmen, dass die Tessiner nie Einspruch erhoben haben. Denn wenn man sich vorstellt, es käme bei uns ein fremdsprachiger Topograph in die Gegend und er würde mit den Namen unserer Berge derart umspringen, so wäre die Entrüstung eine gewaltige. Wie man mit der Taufe von Bergnamen vorgegangen ist, mag folgende Aufstellung erläutern:
Höhen- Topographischer Atlas 1:50,000 Topographische Karte Volkstümliche Benennung in zahl vor 1910/11 1910/11 1:100,000 Val Pontirone Va] d' Osogna Val Calanca 2740,6 Unbenannt Unbenannt Cima di Naucolo Unbenannt Fil di Naucolo 2867 Pizzo di Pizzo di Unbenannt Unbenannt UnbenanntTermine Termine 2880 Unbenannt Unbenannt UnbenanntFil di 2.948 Torrone Torrone alto Torrente alto u.
Torrente Torrente alto Piancalon d' Orza Pizzo di Termine alto
J
2806 Torrente alto Torrone della Torrente basso Torrente Torrente basso
—
2506 Torrente basso Motta Cima Muscioni Unbenannt Capeila dei Dotta del Torrenti
—
2298 Unbenannt Unbenannt Unbenannt Camosci Senta del bò Motta del Torrone
_
._
Pratasc 2257 Pizzo Porchè Pizzo Porchè Unbenannt Scarione —
—
Gotthard End.
70. Zu LVIII, S. 51, Z. 38. Der Pontironese unterscheidet bei den Gemsen ebenfalls zwischen Waldtier und Grattier. Erstere nennt er « boschirei », letztere t camos ». Seltsamerweise nennt man mit ersterem Namen auch den Waldarbeiter.
14. Ergänzungen und Berichtigungen.
Über die heutigen Waldverhältnisse im Tessin und in der Val Pontirone im besondern macht mir Herr Forstinspektor Schell folgende interessante Mitteilung:
« In der deutschen Schweiz ist so ziemlich weit die Meinung verbreitet, als sei der Kanton Tessin ganz waldarm. Ganz sicher haben frühere Jahrhunderte Wunden geschlagen, die nur schwer wieder heilbar sind. Darauf einzugehen, ist hier nicht der Ort. Dagegen möchten wir darauf hinweisen, dass gerade der obere Tessin noch reichen Waldschmuck birgt, und es finden sich noch zahlreiche, dem'reisenden Auge'verborgene Seitentäler, welche namhafte Holzvorräte bergen. Ein solches Nebental ist auch die Valle Pontirone. Wir wollen hier mit einigen Daten vor den Leser treten.
In den Jahren 1905 bis 1909 wurden aus den dortigen Waldungen 16,858 m3 Nutzholz mit einem Reinerlös von Fr. 154,772 geschlagen ( pro m3 = Fr. 9. 18 ), ferner in den Jahren 1912 bis 1920 weitere 5940 m3 mit Fr. 77,985 Reinerlös ( pro m3 = Fr. 13. 11 ), d.h. von 1905 bis 1920 wurden insgesamt Fr. 232,757 netto aus den Pontironenwaldungen erzielt.
Im Jahre 1913 hatte das Forstamt die stammweise Kluppierung aller Bäume von über 16 cm Brusthöhendurchmesser des Patriziates von Biasca durchgeführt. Für die Valle Pontirone ergab sich ein Holzmassenvorrat von zirka 66,000 m3 ( Fichten, Tannen und Lärchen ) und dies wohlverstanden nach Beendigung der grossen Schläge von 1905 bis 1912.
Man beachte in den obigen Daten das Anschwellen des Nettoerlöses in der Kriegsperiode. Dieser Hochkonjunktur folgte dann bekanntlich ein starker Rückschlag, der sich in der hiesigen Gegend und im Blenio sehr fühlbar machte, derart, dass wir vor zwei Jahren im Buche ,Biasca und Val Pontirone'die Mit- teilung machten, dass unter jenen Verhältnissen kaum mehr wie Fr. 6. Netto-erlös aus einem Nutzholzschlag in Pontirone erzielt werden konnte. Glücklicherweise fängt die Kurve wieder zu steigen an, und wir können diesbezüglich mitteilen, dass uns soeben Offerten von Fr. 10. pro m3 auf dem Stock für einen Schlag in der Valle di Malvaglia, die gleiche Verhältnisse wie die Valle Pontirone aufweist, zugegangen sind. Dementsprechend wäre auch die in obigem Buche angegebene Werteinschätzung der Biaskeser Waldungen zu korrigieren. Wir hoffen nur, dass diese Korrektur in einem für uns günstigen Sinne noch weiter in die Höhe zu rücken ist. » Die Holznutzungen sind heute in den Patriziats-Waldungen von Biasca durch den Wirtschaftsplan geregelt. Wie bereits im Kapital « Die Val Pontirone » bemerkt, ist ein allgemeiner Hieb in den Jahren 1905 und 1920 in jenem Tal durchgeführt worden. Derselbe ist natürlich nach den forsttechnischen Grundsätzen unter Berücksichtigung der an den Ort angepassten besonderen Verhältnisse angezeichnet worden. Das Patriziat steckte damals tief in den Schulden ( über Fr. 120,000 ); der Reinertrag aus den Waldungen hat ihm wieder « auf die Beine » geholfen. Für die weitere Zukunft bedürfen nun die Waldungen der Val Pontirone einstweilen einer Ruhepause.
Betreffend den Viehmarkt, macht mich Herr Dr. Käppeli aufmerksam, dass heute an einem Markttage höchstens noch 20 Wagen Vieh versandt werden.
Seidenraupen. Nach Mitteilung von Herrn Dr. Käppeli in Biasca stimmt die im letzten Jahrbuch, Seite 81, enthaltene Angabe nicht ganz, indem es heute noch in Biasca einige Familien geben soll ( etwa 10 ), welche Seidenraupen züchten und die « bozzoli » verkaufen.
Ziegen. Es scheint, dass mich meine Biaskeser Gewährsleute nicht in allen Punkten genau informierten. Es ist sehr leicht möglich, dass ihre Angaben nur auf ihre eigenen Verhältnisse genau zutreffen. Herr Dr. Käppeli, Tierarzt in Biasca, der die Viehhaltung dort und in der Umgebung gründlich kennt, schreibt mir folgendes:
« Es gibt in Biasca nur ganz wenige Bauern, die ihre Ziegen in der Gitzizeit ( Wurfzeit ) nicht einstallen. Die meisten tun dies aber, daher gibt es fast auf allen Monti Ziegenställe. Dann gibt es auch ausschliesslich Ziegenmonti mit ihrem Stall; ich meine z.B. Pizzigüt, Bedra del vent, alla Motta. » Die Ziegen gitzeln in der Hauptzahl im März-April, also noch in kalter Jahreszeit, werden daher möglichst tief im Tal drunten gehalten. So besonders in den Ställen: Sass Carnun sulla Costa, alla Buzza oder sogar in piano ( tetti di Ganna ). Tagsüber werden die Ziegen laufengelassen, nachts eingestallt.
« I sterli » wird gewöhnlich nur für junges Rindvieh gebraucht, entspricht dem luzernischen « Gusti ». Weibliche Ziegen, die gegen zwei Jahre gehen und noch nicht trächtig waren ( die also im ersten Jahre nicht gedeckt oder gedeckt, aber nicht aufgenommen haben, also noch Gitzi sind bis zu zwei und mehr Jahren ), nennt man « nisell », während eine Ziege, die im Frühling nicht gitzelt und so das ganze Jahr hindurch dann galt bleibt: « bim » genannt wird, « una bima ».
( Bezüglich letzterem muss ich bemerken, dass ich die Bezeichnung « sterli » für Ziegen fast noch mehr zu hören bekam als für Rindvieh, was vielleicht Zufälligkeiten zuzuschreiben ist. ) Zwick ist ein unfruchtbares Rind, das nie stierig wird, daher nie kalbt und somit nicht vergalten kann. ( Gewöhnlich ist bei zweigeschlechtlichen Zwillingen das weibliche Exemplar immer ein Zwick. Franscini nennt « Zwick » kurzweg = una vaccha sterile. ) Herr Staatsarchivar Dr. Wymann in Altdorf hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht zutrifft, dass der Propst Domenico Quattrino von Roveredo im Jahre 1583 wegen Ketzerei und Zauberei verbrannt worden sei, wie ich im Jahrbuch 57, Seite 110, angegeben habe. Nach d' Alessandri, « Atti di S. Carlo riguardanti la Svizzera, Locarno », Seite 354-355, lebte dieser Propst vier Jahre später immer noch. Herr Dr. Wymann bemerkt dazu, dass « condannato » nicht immer ein Todesurteil bedeutete, sondern auch für gerichtliche oder autorative Bestrafung verwendet wurde.
Ich schöpfte meine unrichtige Angabe aus mehreren Autoren, die wahrscheinlich alle dieselbe ungenaue oder oberflächliche Quelle benützten oder, was noch wahrscheinlicher ist, einander abschrieben.
Bezüglich der Viehhaltung verdanke ich Herrn Dr. Käppeli noch folgende Angaben:
In Biasca wird nur Vieh der Braunviehrasse ( Schwyzerrasse ) gezüchtet von durchschnittlich mittlerer Qualität. Schwere und erstklassige Tiere gibt es wegen den beschwerlichen und gefährlichen Wegverhältnissen nicht.
Früher war in Biasca die Nostranarasse heimisch, diese eher kleine, schwarzbraune, äusserst genügsame Kuh. Diese wurde allmählich durch die Schwyzerrasse verdrängt, da seit ungefähr 50 Jahren Stiere und auch einzelne weibliche Tiere aus der Innerschweiz, besonders aus Schwyz, eingeführt wurden. Diese Schwyzer-stiere wurden zuerst von einzelnen bessergestellten Bauern eingeführt und gehalten. Später kaufte die Gemeinde Biasca jährlich einen Schwyzerstier an und übergab die Stiere zur Wartung einem Bauern, den sie für Futter und Besorgung entschädigte. Dann übertrug die Gemeinde das Zuchtwesen der im Jahre 1906 gegründeten Viehzuchtgenossenschaft ( consorzio d' allevamento del bestiame bovino Biasca ), die vertraglich mit der Gemeinde verpflichtet ist, drei prämierte oder wenigstens zur Zucht anerkannte Stiere zu halten, im Bedarfsfalle auch vier; einer der prämierten Stiere ist für die Tiere derjenigen Bauern bestimmt, die nicht Mitglieder der Viehzuchtgenossenschaft sind. Die Gemeinde entschädigt dafür die Genossenschaft mit Fr. 500 pro Jahr. Für jeden Sprung ist die Genossenschaft berechtigt, von Nichtmitgliedern Fr. 8 zu verlangen, während die Mitglieder Fr. 5 bezahlen und dabei noch das Recht haben, ihre Kuh noch zweimal gratis decken zu lassen, wenn sie durch den vorhergehenden Sprung nicht befruchtet wurde.
Alljährlich im Herbst wird von der Genossenschaft durch zwei Delegierte auf der Zuchtstierausstellung in Zug oder auf einem Markte in Schwyz ein Jährling gekauft, der dann gewöhnlich 2, maximal 3 Winter hindurch gehalten wird, um hierauf zur Schlachtung verkauft zu werden.
Im Winter werden die Stiere im Tal gehalten. Im Sommer dagegen muss einer der Stiere auf die Alp getrieben werden, und zwar das eine Jahr auf Alpe della Cava, das andere auf Alpe di Sciengio. So haben im ersten Falle die Älpler von Carigiolo den kürzern Weg mit ihrem Tier zum Stier, im andern die von Giumella-Pradasc. Werden dagegen zwei Stiere auf die Alpen getrieben, so geht einer auf Alpe di Carigiolo, der andere auf Alpe di Sciengio.
Buchweizen ( siehe Seite 135, Jahrbuch 57 ).
Herrn Giov. Tamò verdanke ich folgende Richtigstellung: Buchweizen heisst nicht miglio ( « mei » ), sondern grano saraceno ( Mundart « feina » ) und wird ebenfalls nach dem Roggen angesät. Der Buchweizen wird gemahlen und aus dem dunklen Mehl Polenta bereitet. Als Hühnerfutter wird der Buchweizen nur ausnahmsweise verwendet. Ob die « Polenta storna », die nach Angabe von Herrn Tamò im untern Misox das Mittagessen der Älpler darstellt, in Biasca auch üblich ist, weiss ich nicht, vermute es aber sehr. Die Polenta storna besteht aus Buchweizenmehl mit Rahm. Dazu wird Buttermilch genossen. Dass diese Speise nicht nur sehr nahrhaft, sondern auch recht gut ist, will ich nicht bezweifeln.
Miglio ist Hirse. Diese wird, wie von mir angegeben, nach dem Roggen angesät und als Hühnerfutter verwendet, vorzugsweise für die Küchlein. Zu Speisen ist die Hirse fast ganz ausser Gebrauch gekommen.
15. Beschreibung der in der welschen Schweiz üblichen Holzgeleiten.
( Aus H. Schinz « Beiträge zur näheren Kenntnis des Schweizerlandes », 1783. ) Die Waldungen an hohen Gebirgen liegen meistens in sehr unzugänglichen Orten, wohin man ohne Beyhilf oder Kunst, entweder wegen des steilen und gehen Abhangs, oder wegen den Klüften und Präzipitzen, wovon die Berge unterbrochen sind, nicht kommen kann. Wo diese sogenannten Hochwälder in der Nähe von Seen oder Flüssen, oder auch nur in der Tiefe nahe dabey durchfallenden Bächen liegen, da kann man sich dieser bedienen, das Holz aus den innersten Tälern herauszuflössen, und näher an die Orte zu bringen, wo es einen Werth hat — wo aber kein Wasser anzutreffen, dessen man sich zum Flössen bedienen könnte, oder wo die Täler zu enge sind, sodass das in die Bäche hinabgestürzte Holz sich selbst den Weg sperren muss und längere Balken nicht forttreiben können, so muss man die Waldungen entweder ungenutzt einfaulen lassen, oder auf ein Mittel bedacht seyn, ohne Wasser das Holz herauszubringen und künstliche Wege in Wildnissen zu veranstalten, wo die Natur keine gebahnt hat.
Dieses erzielen die welschen Holzhändler durch eine Art von Brücken oder Geleise, mittelst derer auf die kühnste und künstlichste Weise, nicht blos geringe Stücke Holz, sondern beträchtliche zum Sägen tüchtige Stämme, ohne Hilfe des Wassers, und ohne grosse Mühe, aber nur zu Winterszeit, aus den entferntesten und wildesten Alpgegenden bis in den nächsten Fluss gebracht und von demselben weiter fortgeflösst werden können.
Diese Geleite oder Brücken werden nur aus Holz verfertigt, ohne Bindung von eisernen Haken oder Nägeln, bekommen sie ihre Haltbarkeit von der künstlichen Einrichtung und Anfügung eines Balkens in den andern, und vermittelst ihrer wechselseitigen Sperrung und Drückung auf einander. Ihre mehrere Vestigkeit aber erhalten sie im Winter durchs beflastern mit Eis und Schnee und durch die Zusammenfrörung. Auf denselben glitschen die schwersten Holzstämme mit unaufhaltbarer Schnelligkeit über Berg und Thal weg. In der welschen Sprache heisst ein solches Geleit Soveneda. Ihr Bau ist eine ganz eigene Arbeit, welche gemeine Zimmerleute oder Holzhacker nicht im Stand sind zu verfertigen. Nur die Einwohner des kleinen Thals Pontirone ( welches ein kleines Bergthal gegen Südost in der Landschaft Riviera, unten am End des Liviner- und am Eingang ins Bolenzer-Thal ist ) geben sich mit derselben Bau ab, und verstehen dieses Handwerk, dazu sie von Jugend auf gezogen werden, sehr wohl. Die Männer von Pontirone beschäftigen sich mit nichts anderem; den grössten Teil des Jahres verlassen sie, wie es in dortigen Gegenden die Gewohnheit ist, Weib und Kinder zu Haus, verdingen mit den Holzhändlern nach Klaftern diese Geleite und quartieren sich zur Verfertigung derselben, in den unwegsamen Wildnissen der Gebirge für Wochen und Monate ein. Es ist als ob diese Leute, auch ohne Anbau ihrer grossen Anlagen und schnellen gesunden Verstandes, ein besonderes Geschick zu dieser Arbeit haben. Die meisten sind ungemein wohlgestaltete, starke, gesunde, schöne Männer; in ihren Augen sitzt eine besondere Lebhaftigkeit und Kühnheit, danahen das Augenmaass ihnen statt aller geometrischen Ausmessungen und Berechnungen dient, darauf sie sich auch ganz unfehlbar zu verlassen gewohnt sind. Zu den rohesten und härtesten Arbeiten, bey der allereinfachsten Speise, sind sie von der Jugend auf gewöhnt; was wir Schwindel heissen, ist ihnen ganz unbekannt, und muss ihnen unbekannt seyn, wann ihre Arbeit sie abwechselnd bald an steile Felswände, bald an fürchterliche Berg-Abhänge, bald ans Rand grauenvoller tieffer Klüften und darin abstürzender Waldwasser führt. Ihrer Unerschrockenheit und Kühnheit halber sind diese Pontironen in dortigen Gegenden berühmt und zeichnen sich von den übrigen Welschen aus.
Nun gibt es in dem schweizerischen Italien verschiedene Holz-Handlungs-Gesellschaften ( die meisten sind von Brissago am Langen See unter der Landvogtei Luggaris ), welche die grosse Stadt Mayland, die aus ihrem fruchtbaren Land alles in Überfluss ziehet, aber an Holz Mangel hat, grösstentheils mit Bau-und Brennholz versehen; diese setzen grosse Capitalien zusammen, erkundigen sich, wo hin und wieder abgelegne Wälder auf den Gebirgen feil seyn möchten, mit den erfahrnesten Pontironen nehmen sie an Ort und Stelle den Augenschein. Diese klimmen dann überall auf dem Gebirg herum—und wissen nach Besichtigung der Gegend, und nach ihrem auf blosse Erfahrung gegründeten Kenntnissen genau zu sagen, ob das Holz aus diesem Hochwald, alle Umwege und Krümmungen durch Tieffen und Höhen berechnet, durch welche es zu laufen hat, genug Fall bis zum nächsten Fluss habe.
Hat man sich die Gegenden angemerkt, durch welche man das Geleit führen und anlegen will, so wird nach Massgabe derselben der Kauf um einen Hochwald geschlossen. Das Schlagen oder Fällen des Holzes verdingt die Handlungs-Gesellschaft mit den Pontironen, nach grossem oder kleinern Bezirken, sowie den Bau des Geleites nach Klaftern, deren Summ zum voraus berechnet wird, um zu vernehmen, ob der Wald gross genug seye, die Unkosten zu ersetzen, welche über den Bau des Geleits ergehen. Ist der Wald nicht gross genug, um einiche Jahre vierzig und mehr Männer zu beschäftigen, oder siehet man nicht vor, dass man in umliegenden Gebirgen in der Folge andere Hochwälder einkaufen kann, so unterbleibt das Unternehmen des Geleits völlig. Wann aber alles seine Richtigkeit hat, so theilen sich die Pont i r o n en, mit denen die Handlungs-Gesellschaft einen Vertrag schliessen will, in Rotten, je zehen machen gemeines Interesse, verdingen eine Strecke des Geleits in Gemeinschaft zu verfertigen, und ordnen einen aus ihnen zum Haushalter und Koch. Gehen dann planmässig an ihre Arbeit und fällen die Waldung nach derjenigen Richtung, die zum Zweck am bequemsten ist, sodass die Stämme genau nach dem Platz hinstürzen, aus welchem sie am leichtesten in das Geleit eingewälzt werden mögen. Die Bäume, wenn sie geschlagen sind, werden in Sagblöcher zerschnitten, deren Länge nicht unter 8 und nicht über 15 Schuhe seyn darf. Die kleinen Äste bleiben auf dem Platze liegen und verfaulen meistentheils, weil es nicht der Mühe lohnt, sie bis zum Fluss zu führen, durch welchen sie weiter geflösst werden können — das Holz aber so sich nicht zu geraden Blöchern schneiden lässt, wird zum Bau des Geleits gebraucht, welches unmittelbar bey dem geschlagenen Wald, oder gleich unter demselben in dem Thal angefangen wird, wann nehmlich der Wald so gelegen, dass man das Holz ohne Geleit bis unten an irgend einen Absatz des Berges herabrollen kann, wobey man einzig darauf zu sehen hat, dass das Holz genugsamen Fall, und durch diesen in seiner eigenen Schwere genugsamen Trieb zum wegglitschen bekomme Um so viel möglich Arbeit und Holz zu spahren, bedient man sich zum Geleit des blossen Erdbodens, soweit er nehmlich abhängig ist, räumt die im Wege stehenden Unebenheiten weg, ziehet auf jeder Seite der ausgezeichneten Bahn einen kleinen Damm von Erde, Kies und Steinen, schaalt die Höhlung aus und bedeckt den Damm in fortgehender Länge mit Balken, die überlegt, eingeschnitten, oder an der Seite mit Pfählen befestigt werden ( bb. ). Fangt die horizontalere Fläche an sich in eine Kluft zu verliehren, so führt man das Geleit an den Abhang derjenigen Bergseite fort, an der man nach der Ansicht der Gegend, in die man das Holz bringen will, die wenigsten Krümmungen, Winkel und Ecken wahrnimmt. Sperrt verschiedene Rippe oder Querbälken an den Berg an, und unterstützt sie aus der Tiefe mit drei gegen einander sperrenden Bugen oder hölzernen Strebepfeilern, brücket über diese Rippen nach der Länge hin Tragbalken, und quer über diese so viele kleine Bälken, oder Brüggel als nöthig sind, um darauf mit Sicherheit gehen zu können, und oben über werden in einer Flucht mit den untern Tragbalken auf jeder Seite als ein Damm ein oder zwey auf einander und in einander überlegte und angeschnittene dickere Balken gelegt. Zwischen diesen Dämmen muss das Geleit immer wenigstens 3 Schuhe breit seyn, so dass der dickste Sägbaum frey da durchlauffen kann. Muss das Geleit über eine Kluft und Thal oder über Wildwasser und wilde Felsschropfen hinüber geführt werden, so geschiehet es auf ähnliche Art, nur muss es von beyden Seiten mit Strebbäumen unterstützt, und gleich einer Brücke auf Pfeiler gebaut werden — nicht selten ist das Thal, über welches es geführt wird, so tief, dass die höchsten Tannen zu Pfeilern gebraucht werden müssen, und wo etwann in dergleichen Tieffen lebendiges Holz stehet, von was Art es auch seye, so werden davon die höchsten Bäume auf solche Weise zur Unterstützung angewendet, und ihre Gipfel mit in das Geleit verflochten. Die meiste Erfahrung braucht es, um die scharfen Ecken und Winkel, um die das Geleit zu laufen hat, so abfällig und landlich zu bauen, dass die Sagblöcher daran abglitschen und durch die Kraft, die sie durch eigene Schwehre, und den Druck des Falls bekommen, den Damm nicht zerreissen, oder sich darin verstecken, die nachkommenden Bäume aus-schwellen, und diese dadurch aus dem Geleit in die nebenstehende Tiefe gesprengt werden.
Aus gleichem Grund dürfen die Sagblöcher eine gegebene Länge nicht überschreiten, wären sie länger, so würden sie sich in den Rändern und Winkeln, die sie zu lauffen haben, versperren, wären sie kürzer, so hätten sie zum glitschen und treiben nicht Schwere genug. Zum Bau dieser Geleiten wird also eigentlich nur minder kostbares, abgehendes Holz gebraucht, nur das was unter einer gewissen verhältnismässigen Länge und Dicke, oder krumm und unförmig ist, und hernach meistens nur zu Brennholz bestimmt wird, und auf solche Weise gehen die schmalen Brücken oder Holzgeleite oft zwey Stunden und noch weiter, bald zizak, bald gerade, bald horizontaler, bald abhängiger durch alle Krümmungen des Gebirges und über alle Hindernisse fort, die bey jeder andern Art, dass Holz aus den entlegenen Wildnissen an wegsamere Orte zu bringen, unübersteiglich wären. Ergibt es sich, dass zwischen dem Gebirg a, aus welchem das Holz auf die Stelle b geführt werden soll, ein Hügel dazwischen liegt, den das Flössholz, ungeachtet des forttreibenden Gewalts, den es von der steilem Strecke des Geleits erhalten hat, nicht überglitschen kann und dieser Hügel ist zu weitschweifig, als dass man das Geleit um denselben herum führen könnte, so wird der Hügel durchgegraben, und auf solche Weise der Weg abgekürzt, an allen den Stellen, wo der Pfad horizontaler läuft, muss kurz zuvor das Geleite steiler oder perpendikularer angelegt werden, eben damit die Holzlast durch die steilere Strecke eine grössere Forttreibungskraft für die ebenere Strecke erhalte und gleich schnell darüber hinglitsche. Wo der Pfad wegen einem Bergabsatz gar zu steil und winklich perpendikular wird, so wird ein Sammler für das Holz angelegt, hat die Natur keinen Raum dazu übrig gelassen, so wird ein künstliches Gerüst dazu gehauen, in welchem viele hundert Stämme sich sammeln und aufthürmen können; die Lockernheit, nach der sie auf einander sich anlegen, verhindert dass sie sich durch den hohen Fall nicht zersplittern oder zerstossen. Aus diesem Sammler, der die Holzblöcher auffasset ( die wir hierfüro Burre nennen wollen, wie sie die Pontironen heissen ) wann ihrer eine genugsame Menge vorhanden, müssen die Burratoren, oder die zur Forthelfung der allenfalls sich saumenden Burren bestellten Pontironen, selbige wieder aufs neue in das Geleit einwelzen, und ihnen folgends die gehörige Richtung und schnellen Lauf geben, wie in der Zeichnung, Ziefer ( 2 ) zu sehen. Hie und da wo scharfe Ecken und Winkel in der Soveneda vorkommen, wo man befürchtet, dass die Burren sich stecken, oder ausgleiten, werden in die Bergwand Höhlen eingegraben, oder in die Felsen eingehauen, grad eben da, wo das Geleit an steilen Wänden durchgeht, wo sich einige Burratoren aufhalten können, um den Lauf der Burren zu beobachten und ihn zu richten.
Diese Holzgeleite oder Sovenede werden des Sommers verfertigt und gehauen, wie schon gesagt, und von den Holzhändlern oder Entrepreneurs nach einem gewissen Maass verdungen; dieses Maass heissen sie Pontana, es hält 26 Schuhe unseres Maasses. Für eine Pontana wird nach dem Mittelschlag, die Soveneda mag dann durch mehr oder weniger gefährliche Orte durchgehen, 7 und ein halben Mayländer Lr. Arbeitslohn bezahlt, eine Lr. ungefähr zu 18 Kr. berechnet, worunter dann alles inbegriffen ist, so wohl das Holz zu hacken als aber zu bauen. Diejenige Soveneda, welche ich von Anfang bis ans End ganz erstiegen bin, und bei der ich eine ganze Nacht durch das Holz habe fortflössen gesehen, war 500 Pontane, folglich 2162 und ein Drittels Klafter lang, es gibt aber noch längere und kostbarere.
Ist nun der Hochwald geschlagen und nach angezeigtem Maasse zerschnitten, so werden die Burren oder das vornehmste und schönste Holz an die Soveneda hin und auf einen Hauffen so gewälzt, dass im Winter zwey Männer mittelst hölzernen Hebeln ohne Mühe jede Minute eine Burre in die Soveneda einwälzen können, immer wird ein Hauffen von mehreren tausend Burren in Bereitschaft gehalten. So bald nun die kalten Nächte des Jenners und Hornungs kommen, und man die Kälte einige Nächte anhaltend vermuten kann, so geht der Holzhändler oder ein geschickter erfahrener Aufseher mit 50 bis 100 Burratoren an die Soveneda hin, die, da sie nur flüchtig aus Holz auf vorbeschriebene Weise, ohne Nägel und Eisenwerk zusammengesetzt ist, nicht fester ist, als dass sie ein paar Männer tragen kann, die fein sachte darüber hergehen müssen, um sie nicht durch Erschütterungen zu zerstören. Allenthalben ziehen sie von beyden Seiten Schnee in die Soveneda, füllen damit die Lücken zwischen dem Holzgeripp und in dem Gebälk derselben aus, leiten wo sie immer Gelegenheit finden irgend ein Bächlein, oder auch nur den Bergschweiss, der heraustrieft, auf die Oberfläche der Soveneda, oder tragen es in Eimern auf dieselbige, begiessen sie überall und vornehmlich wo ihre Teile zusammengesetzt sind, zur Befestigung des Gebälks und der Rippen, welche dadurch zusammenfrieren; oder wann ihnen Wasser mangelt, so zünden sie hie und da Feuer an, damit an den Bergwänden der Schnee schmelze, und sein Wasser auf die Soveneda abtrieffe, und so das ganze Werk in der Kälte der Nacht mit einer Eiskruste überzogen werden, zusammenfriere, und durch das Eis seine Vestigkeit und Stärke erhalte. Ich habe schon gesagt, dass die Soveneda wenigstens drey Schuhe in die Breite und ungefähr zwey Schuhe in die Tieffe hohl seyn müsse, man trachtet auch mittelst Schnees die Winkel des Geleits auszufüllen und das ganze Werk wie einen Kännel auszuschaalen und einzurunden. Je fester und dichter der Pfad überfrört ist, desto schneller schiessen die Burren im abglitschen davon; alles was etwann in die Soveneda hineinfällt, Steine, Ästchen, Spähne, muss ohne Anstand daraus weg gekehrt seyn, damit der Pfad immer recht glitschend seye und nichts den schnellen Lauf des Holzes aufhalte.
Wann auf solche Weise alles zugerichtet ist, werden, wo immer Ecken und Winkel an der Soveneda sind, und überhaupt von zweyhundert zu zweyhundert Schritten grosse Feuer angezündet, um die ganze Gegend, wenigstens das ganze Geleit zu beleuchten; der Aufseher vertheilt seine Mannschaft auf eben diese Entfernung, je zwey oder drey zusammen auf einen Posten, mehrere lässt er am Anfang des Geleits zum Einwelzen der Burren; diese auf den ersten Posten ausgestellte fangen an, nach gegebenen Zeichen, zu arbeiten, sie benachrichtigen den folgenden Posten, mit einem Wartzeichen, dass die Burren in Lauf gebracht worden, der andere Posten ruft dieses Wartzeichen dem dritten, dieser dem vierten, u. s. f. zu, und so wird durch diese Einrichtung, Ruf und Widerruf, Befehl und Gegenbefehl in die Entfernung von einer Stunde in etlichen Minuten ertheilt.
Die auf die Posten ausgestellten Männer haben nichts anderes zu tun, als auf den Lauf der Burren acht zu haben, denselben zu befördern, das Geleit fleissig auszukehren, während ihrem Lauf die Burren mittelst einichen Hieben mit der Axt zu bezeichnen und wo etwann diese sich verstecken oder sich selbst den Weg versperren und die nachkommenden anschwellen, durch Wartzeichen augen- blicklich den ersten Posten zu benachrichtigen, dass man bis das Hinterniss gehoben, mit dem Einwerfen inne halte — die Arbeit wird bey angehender Nacht angehebt, und bis an den Morgen, oder so lang es anhaltend kalt ist, ununterbrochen fortgesetzt, und so in zwölf Stunden drey, vier bis auf sechs tausend Burren oder grosse Stämme eine Stunde, oft über 2 Stunden weit fortgeschafft. Sie eilen mit dieser Arbeit sehr, weil alles daran liegt, dass ein ganzer Hau von 12 und mehr tausend Burren ununterbrochen in einer Gefrörne aus dem Hochwald an den Fluss geschafft werde, und nicht etwann bei einfallendem Tauwetter ( welches öfteres als in unserem Klima geschiehet ) die Arbeit unterbrochen, die Soveneda geschädigt, und die Ausbesserung derselben nothwendig gemacht werde.
Die Schnelligkeit womit die grössten Holzstämme auf diese Weise fortglitschen, das Getöss, so das einwelzen, fortgehen, aufhalten, und ausgleiten des Holzes, das Geschrey und Pfeiffen der Arbeiter in dem wiederhallenden wilden Gebirg verursacht, die Beleuchtung desselben durch die vielen Feuer, der Schauer, den so grässliche Gegenden ohnehin bey der tieffen Nacht erregen, in der kältesten Winterszeit, wo alle Wände der Felsen mit Schnee behangen sind, der oft in kleinen Lawinen losbricht, und das Getöss vermehret, alles dieses hat eine gewisse schreckliche Feyerlichkeit, woran man mit einer Art von Bangigkeit Antheil nihmt, die nur durch die Lebhaftigkeit der Unterhaltung und das Schreckenvolle und Kühne der Anstalt selbst zerstreut wird. Bey aller der damit verbundenen höchsten Unbequemlichkeit und Schauerhaftigkeit lohnt es dennoch wohl die Mühe, eine Nacht auf dieses ausserordentliche Schauspiel zu verwenden, und die Ergötzung zu geniessen, welche der Schrecken der Natur und die Kühnheit der Menschen auch unter diesen grässlichen Umständen uns darstellt.
Jedermann wird eingestehen müssen, dass dergleichen Anstalten, die sonst unbenutzbaren Hochwälder für Gegenden nützlich zu machen, die Mangel an Holz haben, ungemein vortheilhaft und bequem, aber zugleich auch ungemein und so kostbar seyen, dass das Holz auf einen unmässigen Preis gestiegen seyn müsse, wann man mit Vortheil dergleichen Geleite anlegen will. Diese Einwendung ist nicht nur begründet, sondern erhält noch mehr Gewicht, wann man weiss, dass das Holz, wann es aus der Soveneda kommt, oft nur einen geringen Theil seiner von der Handlungsgesellschaft ihm bestimmten Reise gemacht hat, und erst noch in den Fluss geworfen und auf dem Wasser an den bestimmten Ort hingeflösst werden muss; dass überdem die Unternehmer durch Regenwetter oder andere Anschwellungen des Wassers in sehr grossen Verlust gesetzt werden können, und dass der Verlust an Holz bey Austrettung des Flusses noch nicht aller Schaden ist, sondern dass in denjenigen Landschaften, wo diese Art Holzausfuhr üblich ist, noch die Rechtsübung statt hat, dass die Unternehmer den, durch Sperrung des Holzes, oder andere Zufälle verursachte Anschwellung des Flusses, entstandenen Schaden an Gütern oder Strassen vergüten müssen, je nachdem zuvor mit den anstossenden Gemeinden oder Privaten ein Vergleich auf allen Fall hingetroffen, oder zur Vergütung allfälligen Schadens von jedem Holzstamm eine gewisse Abgab der Gemeinde bezahlt wird.
Man muss aber vorerst bedenken, dass das Holz in dem Hochwald selbst, wo es wächst vast keinen Werth hat, also dass ein Stamm, der auf dem Markt zu Mayland einen Dukaten giltet, in dem Wald kaum 20 Kr. kostet, und dass der Hochwald wegen seiner Unzugänglichkeit, ohne dergleichen künstliche und kühne Anstalten, der menschlichen Gesellschaft keinen Nutzen schaffen könnte, sondern verfaulen müsste; dass also auch die unmässige Menge Holz, welche zum Bau einer solchen Soveneda erfordert wird, nicht in Anschlag falle, und einzig die Arbeit zu berechnen seye, die aber, in Vergleichung mit dem damit erzielenden Nutzen, nur eine mässige Summe beträgt. Die Pontironen oder Burratoren sind daneben so geschickt, dass sie in wenigen Wochen eine unglaublich lange Strecke einer Soveneda bauen, und bey ihrer sehr mässigen Lebensart noch ziemlich Gewinn machen.
Von der Lebensart dieser Leute füge ich noch folgendes bey. Pontironen werden sie genennt von ihrem Vaterland her, und Burratoren in Ansehung ihrer Beschäftigung mit den Burren oder Säg-Blöchern. Sie leben während dieser Arbeit sehr einfach — ihre Nahrung ist ein Gemengsei von Hirs und gemahlenem türkischem Korn, wobey die Kleyen von dem Mähl nicht gesöndert worden. Dieses wird in grossen Hangkesseln über dem Feuer in Wasser nur sehr wenig gekocht, eigentlich nur geschwellt, so dass ein roher dichter Brey daraus entsteht, den man mit den Händen aus dem Kessel herauslangt und in der Hand zur Speis förmt. Dieser Brey, der durch die ganze Lombarde y des gemeinen Taglöhners gewohnte Speis ist, wird Polenta, oder Pult genennt. Von diesem essen die Burratoren täglich dreymal sich satt, ohne einen Bissen Brodt, ohne einen Tropfen Wein. Der Wein, sagen sie, würde zur Dauung dieser rohen, nicht gar gekochten Speise nicht taugen, das kalte Schneewasser schmecke dem Mund, und behage dem Magen zu dieser Speise besser. Sie sind damit zufrieden und haben kein anderes Bedürfnis. Ein Bissen halb fetten Käses ist ein Leckerbissen für sie, wann sie die härteste Arbeit haben, so gönnen sie sich täglich davon ein halbes Pfund zu ihrem Brey. Fünfzig Burratoren haben zu ihrem Unterhalt für einen Tag ungefähr 100 Pfund Hirsmähl nöthig. Bei so einfacher Arbeit können diese Leute auch wohlfeil arbeiten, und diese Unternehmung einer Soveneda sehr befördern.
Zu Nacht begeben sie sich in nahe gelegne Alp-Hütten, und ruhen auf dem harten Boden in ihre dichte wollene Kittel versteckt, so gut, wie auf einem Federbette. Über den Tag sind sie immer unter freyem Himmel und setzen sich mit dem freudigsten Muth allen Gefahren und Unbequemlichkeiten aus. In dem Winter, wann die Soveneda im Gang ist, arbeiten sie oft zwey und drey Nächte durch, ohne zu schlafen, besonders wann der Winter gelind, und die kalten Nächte selten sind, oder wann man einfallendes Tauwetter förchtet. Es ist nicht selten, dass von diesen Leuten, während der Arbeit einiche zu Tod stürzen, ja es werden wenige Soveneden gehauen, wobey nicht etwann einer sein Leben elendiglich einbüsset, dannoch schreckt diese augenscheinliche Gefahr und das Unglück ihrer Gefährten sie niemals ab.
Für einen einzelnen Privatmann wären die Kosten eines solchen Holzgeleit-Baues bey so vieler Gefahr des Verlusts, zu gross und zu gewagt — daher sind es ganze Gesellschaften, welche den Holzhandel in Livenen und in dem übrigen welschen Schweitzerland treiben, sie haben zwar kein ausschliessliches Recht dazu, aber die Natur der Sache macht diesen Handel zu einem Monopolium, und die obrigkeitlichen Beamtete legen ihm aus leicht zu errathenden Gründen, keine Hindernisse in Weg.
Sollten nun dergleichen Anstalten, wodurch die Waldungen in abgelegenen und unzugänglichen Orten allein zu Schätzen gemacht werden können, nicht auch in der deutschen Schweiz eingeführt werden können, in den Gebirgen, wo vieles Holz unbenützt einfaulen muss, wo zu gleicher Zeit in den nahe gelegenen Gegenden ein wahrer Holzmangel, wenigstens eine Theure in diesem Lebensmittel zu besorgen ist!
Wer durch diese Beschreibung sich noch keinen deutlichen Begriff von einem solchen Holzgeleit machen kann, der beliebe die beigefügte Zeichnung zu Hilfe zu nehmen. ( Siehe die Inkavotafel zu Seite 72. )
16. Erklärung der IV. Tafel.
AAA Stellt zwey verschiedene Bergthäler vor, aus welchen und durch welche das Holzs abgeleitet wird.
BBB Das Hauptgeleit, so sich annoch bey einer halben Stund weiter ins Thal hinauf zu oberst in den Hochwald erstreckt.
GCG Ist ein anderes Geleit, so aus dem wilden Nebenthal herab in das Hauptgeleit führt.
1. Zu dem Nebengeleit, zeigt wie der Damm oder die Balken an dem Bort über einander gelegt und angepasst sind. Woraus sich auch auf die übrige Struktur des ganzen Gebäuds zugleich schliessen lässt, da weder Nägel noch Hacken angebracht sind.
b. b. Wie das Geleit auf dem blossen Boden fortgeführt wird, und mit Pfählen der Damm befestigt ist.
2. Ein Sammler, der an einem wilden Schroppen gebaut ist, unter dem Abhang des Felsens, aus welchem die Burren von neuem in das Geleit eingewelzt werden..
B. Die von Distanz zu Distanz angebrachten Posten und zur Beleuchtung angelegten Feuer.
EEE. Die Burren im vollen Lauf.
F. Ein Burrator, so den Burren in einem scharfen Winkel oder Rank die Richtung gibt.
G. Ein anderer, so die Burren während ihrem fortglitschen mit einem Axthieb bezeichnet.
H. Ein anderer Burrator, so das Geleit auskehrt.
17. Literatur.
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