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Col de la Meina und Pic Arzinol

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Prof. F. O. Wolf, Mitglied der Sektion Monte Rosa des S.A.C.

Col de la Meina und Pic Arzinol Von Manchem Clubisten sind die Sittener Maiensässe bekannt, dieser liebliche Sommeraufenthalt mit seinen einfachen, aber doch wirthlichen Alphütten, in Mitte grüner Matten gelegen, die umsäumt sind von trauten, Schatten und Frische spendenden Lärchen- und Tannen-wäldchen. Künstlich angelegte oder auch nur vom Fusse ausgetretene Wegchen führen in das Heiligthum dieser letztern, zu den dort von der Natur selbst aufgebauten Ruhebänken. Grletscherfindlinge liegen umher am Fusse hundertjähriger Bäume, in Mitte einer gar üppigen Waldfiora, sie selbst überzogen von bunten Flechten und überdeckt mit weichem Moospolster.

Ein köstlicher Sommerabend war es, an dem wir nach eingenommenem Nachtessen solch'ein Plätzchen aufsuchten. Der Vollmond war soeben aufgegangen hinter der mächtigen Felspyramide der Dent Blanche und übergoss mit seinem Zauberlichte die Gletschergefilde des Ferpecle-Thales, dessen Tiefe wohl in nächtlicher Dämmerung begraben lag, so aber die es einschliessenden Bergriesen nur um so kräftiger hervortreten liess. Der Grand Cornier, seine Nachbarn und die Dent Blanche einerseits, die an grausen Felsnadeln reiche Kette der Grandes Dents anderseits trugen ihr Haupt weit in die Lüfte hinein, zum Theil in blendender Beleuchtung, zum Theil in tiefen Schatten gehüllt.

Was war natürlicher, als dass wir bei solchem Anblicke auf unser Lieblingsthema zu sprechen kamen, dass wir schwelgten in der IOrinnerung erlebter Genüsse, überstandener Abenteuer und neue Pläne schmiedeten. Der edeln Bergstcigerei galten unsere begeisterten Eeden und Erzählungen. Denn nicht nur tapfere Clubisten finden wir unter den glücklichen Bewohnern dieser im ewigen Frühling grünenden Yoralpsässe, auch die stu-dirende Jugend und selbst das schwach gescholtene zartere Geschlecht wandern von hier aus jährlich hinauf zu den Bergen, über Alpen, Gletscher, Pässe bis zu den höchsten Gipfeln. Während meiner bald zwanzigjährigen Lehrthätigkeit habe ich so mir und meinen Schülern und Schülerinnen manch'glücklichen Tag bereitet. Der Simplon und der grosse St. Bernhard, die Pässe im Binnthale, der Zwischenbergenpass, der Pas de bœuf, Pas de Lonaz, Col de Torrent, Col de Riedmatten und du Crêt, die Gemmi, der Sanetsch, Col de Cheville und de la Croix, der Col d' Etablon u. s. w. sind gar vielen unter ihnen längst bekannte Wege und die Tapferem setzten ihre zarten Füsse auf manchen aussichtsreichen Berg. Haut de Cry, Olden-, Wild-, Torrent- und Bettlihorn, Catogne de Sembranchier, la Chenalette du Grand St-Bernard, Pierre à voir, Mont Fort, Rosa Blanche, Mont Noble, Becs de Bosson im Reschythal und Bella Tola zählen zu unsern Eroberungen, zu denen sich als kühnste That die Erklimmung der höchsten Spitze der Monte Rosa durch zwei junge Töchter gesellt.

« Quelque chose de nouveau », hiess es diesmal, und bald waren wir einig. Das vor unserem entzückten Auge ausgebreitete wundervolle Landschaftsbild trug den Sieg davon; es wurde einstimmig beschlossen, irgend eine Höhe zu besteigen, die uns einen nähern Einblick gewähren würde in die herrliche, beide Thäler von Hérens einschliessende Gebirgswelt. Unser Freund R. Ritz hatte uns öfters begeistert erzählt vom Pic Arzinol und seiner grossartigen Fernsicht; er war öfters oben gewesen, hat dessen Panorama mit seinem Meisterstifte eigens für 's Jahrbuch des S.A.C. ge-zeichnet* ) und selbst ein prächtiges Bild geschaffen Touristen auf Pic Arzinol. Ferner war uns Allen seine ansprechende Beschreibung dieser Tour ( Alpenpost Bd. V, Nr. 25 ) bekannt. Sie wurde noch einmal besprochen und in etwas veränderter Form auszuführen beschlossen. Denn wir Alle hatten den Weg zum Dorf Evolena schon öfters gemacht und huldigten überdies dem Grundsatze, vielbetretene Touristenwege mit ihren Hôtels zu vermeiden, die ausgezeichnete Clubkarte zum Führer, den eigenen Rücken zum Träger benutzend.

Der Pic Arzinol, auch Sex Blanc in. Evolena genannt, ist der äusserste noch etwas bedeutende, 3002 m GWolf.

hohe Gipfel der Gebirgskette, welche sich, die beiden Thäler von Hérémence und Evolena trennend, vom Hauptzuge der penninischen Alpen in nördlicher Richtung von den drei Nachbarriesen Pigno d' Arolla, Zinareffien und Mont Blanc de Seiion abzweigt und von ihnen getrennt wird durch die beiden benachbarten Pässe Pas des Chèvres und Col de Riedmatten* ). Die Aiguilles rouges, die Pointe de Vouasson, der Mont de l' Etoile und Mel de la Niva sind die bedeutendsten Erhebungen dieses Ausläufers und ausser beiden erwähnten Pässen führen noch die Cols de Derboneüra, de la Meina oder de Méribe über seinen Rücken.

Diese Pässe sind vielbenutzte Hirten- und Jäger-wege und seit einigen Jahren auch von der Touristenwelt häufig begangen, besonders die beiden erstem, die nicht nur das Val de Dix mit dem Val d' Arolla verbinden, sondern beide noch durch verschiedene Gletscherpässe i Col de Breney, de la Serpentine, de SeilQn und du Mont Rouge ) mit dem Bagnerthal.

Herr R. Ritz stieg von Evolena aus, auf äusserst angenehmem und an Abwechslung reichem Wege, in 4-- 5 Stunden zur Spitze des Pic Arzinol, zuerst durch Col de la Me und Pic Arzinol.1 Waldesdunkel an der Eishöhle Pertuis freiss vorbei, dann vom Pont du Merdesson an über Alpenweiden, die Hütten von La Meina rechts lassend, in gerader Richtung hinauf und hinein in 's Hochthälchen von Arzinol und von da über einen wahren Blumengarten bis zur Spitze.

Unser Plan hingegen war wie folgt festgesetzt: Abreise von den Mayens Nachmittags 3 Uhr, Nachtlager bei den Hirten von Méribe, folgenden Tags in aller Frühe über den Col de la Meina zum kleinen Alpsee, der auf dessen westlichem Abfalle liegt, und von da direkt zur Spitze. Abstieg gegen Norden über die Alp Mandelon bis zu den Mayens von Maqueblan und Fretaz hinab und von da wieder auf bekanntem Wege über die Wasserleitung zurück nach den Sittner-Mayens.

Die Rollen wurden alsbald vertheilt, d.h. Jedem wurde der zu liefernde Proviant zubestimmt nach altem hiesigen Brauche; der Eine hatte Schinken, ein Anderer Salami, ein Dritter Braten etc. etc. mitzubringen, was für jeden Einzelnen nicht nur wohlfeiler zu stehen kommt sondern auch für den Abwechslung liebenden Magen weit angenehmer ist. Ein Vivat unsern Picknicks!

Alle trafen am Nachtage zur festgesetzten Stunde bei der obern Kapelle ein, dem gewöhnlichen Ver-sammlungsorte der Mayens-Bewohner. Das einfache, niedliche Kirchlein* ), mit seinem schlanken Thürmchen,Die Sage erzählt, dass beim Bau dieser Kapelle der nöthige Sand fehlte. Denselben vom Thalgrunde heraufzuschaffen, wäre denn doch zu theuer gekommen und bald silbergrauen Schindeldach und der mit frischgrünei* Kränzen geschmückten Säulenvorhalle, liegt gar lieblich zwischen majestätischen Lärchbäumen verborgen. Ein paar weithin tönende Jodler entstiegen unserer frohbewegten Brust als Abschiedsgruss für die Zurückbleibenden und muntern Schrittes schlugen wir unsern Weg ein, ein paar hundert Schritte aufwärts durch den Wald bis zur Ausmündungsstelle der obern Wasserleitung. Diese Wasserleitungen sind die kürzesten und zugleich angenehmsten Wege; denn sie führen in horizontaler Richtung den Bergeshalden entlang, bald durch saftige, blumenreiche Wiesengründe, bald durch trümmerreiche, steile Tobel und oft sind sie gar in senkrecht abfallende Felswände eingehauen. Unsere heutige Wanderung über eine solche Wasserleitung ( Bisse vom welschen Walliser genannt ) bietet uns alle diese Abwechslungen dar, und ohne Ermüdung, in ununterbrochenem Gänsemarsche legen wir in 2 [/i Stunden ganz bequem und ohne Gefahr den Weg bis zu den Mayens de Fretaz ( Praslong ) zurück, während wir auf dem holprigen, auf- und absteigenden Thalwege über drei Stunden gebraucht hätten. Wir haben noch den weitem Vortheil, wenig von der Nachmittagshitze beschwert zu werden; denn das dahin-rauschende Wasser verbreitet eine angenehme Frische hätte man den Bau unterlassen. Gott aber sandte Hülfe. „ Ein fahrender Schüler, " ein landfremder, eigenthümlich gekleideter Wanderer ( wahrscheinlich ein Vorfahre heutiger Geologen ) zeigte den Eathlosen eine verborgene Sandgrube, die gerade das nöthige Material barg. Seit Vater Venetz's, des gletscherkundigen, Zeit aber sind die Bauunternehmer selbst im Stande, „ Moränensand " zu graben.

Col de la Me und Pic Arzinol.i ) und überdies führt unser Weg öfters durch Waldesschatten.

Freilich sind nicht alle Wasserleitungen des Wallis dem Wanderer anzurathen, indem einige, wie die vom Sanetschthal nach Savièse, von der Alpe Croumaclire nach Lens, oder gar die im Massathal, wie von Zauberhand in schwindelnder Höhe angeklebt über schauerliche Felsabstürze hinführen, und nur von ganz geübtem,, sicherem Fusse begangen werden können; auf freischwebenden, oft schwankenden Balken muss man gebückt dahin kriechen und oft durch schmale, finstere Tunnels sich durchwinden.

Unser. Weg aber ist ohne alle Gefahr und bietet nur in den Felswänden unterhalb der Grottes de Fée'es einen kleinen Vorgeschmack solcher Felsenpassagen.

Die Volkssage weiss viel zu erzählen von diesen Grottes de Fée'es. Gute Feen sollen in alter Zeit da gewohnt haben, Segen spendend über 's ganze Thal, bis sie von unbescheidenen Neugierigen auf immer verjagt wurden. Nach Andern sollen diese beiden übereinander liegenden Höhlen, deren Eingang, in Mitte einer steilen Felswand angebracht, heute unerreichbar ist, den letzten, dem blutigen Ilunnenkriege entflohenen Thalbewohnern als Zufluchtsort gedient haben. Wahrscheinlicher aber ist es, dass wir hier den Eingang zu längst verlassenen Bergwerken vor uns haben; denn die ganze Gegend wurde früher, sogar noch zu unserer Zeit, auf Blei, Silber und Kupfer angeschürft,und der alte Majora soll ja, wie muliniglieli bekannt, im Anfange dieses Jahrhunderts noch massenhaft Gold ob der Alp Orsera gefunden haben, freilich durch Hülfe des leibhaftigen « Gottseibeiuns » selbst, wofür er ihm aber auch seine arme Seele mit eigenem Blute verschrieben hatte.

Singend und plaudernd zogen wir unsern Weg dahin und der regelmässige Marsch wurde nur hie und da unterbrochen durch Sammeln einiger seltener Pflanzen und durch die Bewunderung der an Wechsel reichen Thal- und Gebirgsgegend.

Dem Botaniker sei 's Vorräthen, dass der Wasserleitung entlang äusserst seltene Rosen ( ich erwähne nur die beiden Hybriden Formen pommifero X graveolens und pommifero X cinnamomea ), das Thalictrum saxatile, Acouitum penninum und viele andere wünschenswerthe Pflanzen wachsen. Während die Einen dieselben sorgfältig einlegten, genossen die Andern in vollen Zügen der herrlichen Aussicht.

Wir übersahen das ganze Evolenerthal, vom Fer-pècle-Gletscher bis zur Einsiedelei Longeborgne, alle seine niedlichen Bergdörfchen, alle die zahlreichen Alphütten, und neben den schon erwähnten Bergriesen erhoben nun auch die allermächtigsten, Matterhorn und Dent d' Hérens, frei ihr silbergekröntes Haupt in die blauen Lüfte.

Tief zu unsern Fussen liegen die viel beschriebenen Pyramiden von Hérémence oder Useigne, an der Stelle, wo die beiden HérenstlìUler sich abzweigen und wo sich in längst vergangenen Zeiten ihre beiden grossen Thalgletscher begegneten, welche nach ihrem Zurücktreten den mächtigen Moränenschutt zurückliessen, aus dem diese phantastischen Gebilde aufgebaut oder besser gesagt ausgewaschen sind.

Unser Blick verfolgt von hier aus aufwärts den an Wasserfällen reichen Lauf der Dixense in 's Val d' Hérémence, dessen oberster Theil, Val de Dix genannt, von den vergletscherten Felshörnern der Rochers du Bouc, la Salle, Mont Pleureur, La Loelette, Rouinette, Mont Blanc de Seiion, Aiguilles rouges und Vouasson umrahmt wird. Ein Anblick, den ich schon so oft bewundert habe und nie genugsam betrachten kann!

Es war ö1/2 Uhr, als wir unsere Wasserleitung verliessen und den Thalweg betraten bei der Brücke von Praslong. Jedoch nicht lange benützten wir diesen holprigsten aller Alpwege, den wir schon so manchmal begangen und verwünscht hatten. Zur Abwechslung suchten wir uns diessmal unsern eigenen Weg, wir schlugen uns links in den Wald hinein, über Stock und Stein! Freilich kostete uns diess nicht weniger Schweisstropfen, aber es war doch was Neues, und wieder wurden der Pflanzen gar viele und seltene entdeckt und gesammelt, so besonders aus der reichen Familie der Hieracien. Der schöne Abend verging so auf 's Angenehmste und Nützlichste und die Sonne war schon längst hinter den Bergen verschwunden, als wir bei den Hütten von Méribe anlangten. Die Hütte fanden wir verschlossen, denn die Hirten waren mit dem Vieh zum obern Stafel hinaufgezogen. Da wir aber wohl wussten, dass es dort oben nicht gar wohnlich sei, so blieb uns keine andere Wahl, als hinauf-zusenden, um den « Pater » um Milch und Obdach zu bitten. Die Stunde, die bis zu dessen Ankunft verfloss, war schnell dahin. Wir hatten uns alsobald daran gemacht, Holz zu sammeln und ein lustiges Feuer in der Nähe der Hütte anzuzünden; denn der Abend war kühl und wir von unserm Entdeckungs-spaziergang so ziemlich im Sclnveisse gebadet. Fröhlich lagerten wir uns um die hellauflodernde Flamme, liessen den Becher kreisen und sangen unsere frohen Weisen in die Nacht hinaus.

Unsere weithin schallenden Stimmen hatten den neu entdeckten C-Dur Accord des Wasserfalls, den die von allen Seiten herabeilenden, stark angeschwollenen Gletscherbäche geheiinnissvoll brummten, übertönt, und so uns weitere fröhliche Gesellschaft herbeigelockt. Nicht nur der Oberhirte kam herabgestiegen, sondern mit ihm noch ein paar Kameraden, denn die Walliserhirten, auch der Welsche, lieben gar sehr den Gesang und lustige Gesellschaft und vielleicht auch die ihnen gerne gegönnten Cigarren und den für hier oben eben so seltenen Wein.

Es trat nun Scenenveränderung ein; das Weber'sche Zigeunerlager ward aufgebrochen und es wurde, wenn nicht eine Gessner'sche, so doch wenigstens eine im Rembrand'schen Stile angerauchte Tlirtenliüttenscene vorgestellt. Es wurde gewaschen, gefegt, gefeuert, gekocht und gespeist und zur guten Letzt noch ein gemüthlicher Abendsitz gehalten bis spät in die Nacht hinein und dabei nicht nur des Kunst-, sondern auch des Volksgesanges gepflogen. So kam endlich auch der Augenblick heran, der mir immer die grösste Mühe verursachte, meinem Ansehen in Punkto der Autorität keine ßlössen zu geben. Gott Morpheus aber stand mir zur Seite und bald waren auch die Letzten in seine sanften Arme gesunken.

Die Walliser Alphütten haben neben andern Unannehmlichkeiten auch noch die, dass ihre Wände ziemlich schlecht schliessen. Die durch breite Spalten eindringende kalte Morgenbise hatte aber das Gute, die Luft des kleinen Raumes zu erneuern und unsern Körper derart zu durchdringen, dass wir gerne zu früher Stunde das überdies harte Lager verliessen. Die Toilette wurde am nahen Merdérébache gemacht, dessen Wasser zum Glück reiner ist als sein Name. Der etwas stark durchfröstelte Körper hatte nun Erwärmung nöthig, die uns in vollem Masse zu Theil. wurde durch das einstündige Aufwärtssteigen auf steilem, holperigem Wege zu den obern Alphütten von Méribe. Das Frühstück, uns gar köstlich mundende, frischgemolkene Milch, wurde daselbst eingenommen und den gastfreundlichen Hirten Valet gesagt.

Von hier bis auf den Col de Méribe ist keine Spur von Weg mehr vorhanden. Man hat übrigens die Passlücke immer vor sich und kann desswegen unmöglich fehlen, da auch die Terrainverhältnisse keinerlei Schwierigkeiten darbieten. In einer weitern Stunde waren die Ersten oben angekommen und führten gymnastische Uebungen aus auf den von den ersten Sonnenstrahlen rothbeleuchteten Felsen, während wir Botaniker noch lange säumten, sie einzuholen. Denn wir schwelgten im Hochgenüsse, schmückten unsereHüte trotz österreichisch-sentimentalem Verbote mit Edelweiss und bereicherten unsere Mappen mit einigen seltenen Hochalpenpflanzen.

Unser Basler Doktor, mein lieber Freund C hat mir zwar strengstens an 's Herz gelegt, meine Geheimnisse nicht zu sehr auszuplaudern; ich will aber dennoch meinen geehrten Alpenclubgenossen davon mindestens Etwas anvertrauen, wohl überzeugt, dass sie nicht zu starken Gebrauch davon machen werden, und weil ich für « uns Eingeweihte » immer noch einige Lokalitäten ausgezeichneter Rarissima mir vorzubehalten erlaube.

Draba Zahlbruckneri Spitzel, Draba Wahlenbergii Hart., Arabis cœrulea Hœnk., Hutchinsia brevicaulis Hoppe, Artemisia Mutellina Vilt. und spicata Wulf, Achillea nana L. und atrata L., sammt ihrer hybriden Form A. Laggeri Schult., Senecio incanus L., Androsace carnea L. etc. etc. etc. sind die erwähnenswerthen Seltenheiten. Nur ihnen zu Liebe wird gewiss mancher Botaniker den Ausflug hieher unternehmen. Es schmücken aber überdiess noch prachtvolle Gentianen die Felsenspalten unseres Passes, nicht nur diesseits, sondern auch seinen westlichen Abfall. Der Bastard Gontiana Gaudiniana Thom. ist hier ohne zu grosse Mühe zwischen seinen Eltern G. purpurea L. und G. punctata L. von einem geübten Auge leicht zu entdecken.

Unser Bleiben auf der Höhe des Passes war nicht von langer Dauer, obgleich seine Aussicht eine sehr reizende ist. Es wartete unser ja die des Pic Arzinol, und rasch stürmten wir desswegen den Abhang hinab zum kleinen lieblichen See* ), ohne jedoch zu vergessen, einige noch blühende Anemonen ( baldensis L. ) und den zierlichen Ranunculus glaciali?, var. genuinus Bchb. mitzunehmen.

* ) Ist weder auf der Dufour-, noch, auf der Clubkarte eingezeichnet.

Auf weichem Graspolster am Rande des Sees liessen wir uns nieder. Die geduldigem Fräulein halfen mir die reiche Pflanzenernte in die Papiere einlegen, unter der natürlich gerne gewährten Bedingung, dass ihnen später einige hübsche Exemplare für ihre Album's überlassen wurden. Die lebensfrohen Jungen hatten sich indessen ihrer Schuhe und Strümpfe entledigt und nahmen ein stärkendes Fussbad im seichten, klaren Seewasser. Nachher wurde eine kleine Magenstärkung eingenommen. Ein muthwilliger Hirtenjunge aber, den wir bis jetzt noch nicht bemerkt hatten, störte uns auf'aus unserer Ruhe. Er kam mit seiner Herde von den gegenüberliegenden Felsenhalden herabgestürmt, gerade auf uns zu. Wir hatten kaum Zeit, unser Gepäck zu ordnen, als wir auch schon auf allen Seiten von der zahlreichen Schafheerde umringt waren. Ein paar prachtvolle Widder mit doppeltgekrümmten Hörnern folgten dem rothbackigen, strammen, kraushaarigen Jungen; sie kamen miteinander daher gesprungen wie ein Tross losgelassener Schuljungen, neue Streiche im Schilde führend. Es war dem auch wirklich so. Ohne Widerstreben liessen sich die kräftigen Schafböcke vom Knaben an den Hörnern packen und plumps lagen und zappelten sie im Wasser, hinausgeschleudert von einem vorspringenden Felskopfe in die tiefste Stelle des kleinen Sees. Ihr hättet die im Ueberglücke sprühenden Augen des lautauflachenden Hirtenjungen sehen sollen! Meine Jungen hatten bald Bekanntschaft mit ihm gemacht, konnten ihm aber auf diesem Felde im « Böckebezwingen » trotz aller Anstrengung nicht Meister werden.

Im Weitergehen erziüilte ich meinen Reisegefährten, dass dieser Schafhirte wohl derselbe sei, toit dem ein Franzose vor ein paar Jahren im Journal de Genève Eigenthümliches zu mahlen wusste. Ein grauses Gewitter, so schrieb der kühne Tourist, hatte ihn, den einsam wandernden auf der himmelhohen Felszacke des Pic Arzinol überrascht; das Brüllen des Donners wetteiferte mit dem Gekrache herabstürzender Lawinen; Schnee, Hagel und Regen ergossen sich in Strömen, gepeitscht vom heulenden Sturme. Da tönten plötzlich Hülferufe an * sein Ohr, Jammerrufe eines Verirrten durchschnitten die Lüfte. Sie kamen aus den Höhen des Mont de l' étoile! Rasch war unser bebrillte und besehleierte Menschenfreund hinaufgestiegen und entdeckte, durch das Leuchten der Blitze im Dunkel geführt, einen weinenden Geissbuben auf steilem Felsenvorsprung, von wo aus es dem Verkletterten unmöglich gewesen wäre, herabzukommen, ohne die tapfere Rettungsliand des menschenfreundlichen Reisenden. Mit lautem, allgemeinen Gelächter wurde meine Erzählung aufgenommen, ja, der Jüngste aus der Gesellschaft meinte spottend, der Evolener Geissbube werde wohl ein Vetter gewesen sein von dem aus St. Nicolaus im Zermatterthal, dessen grösstes Vergnügen war, auf die äussersten Gipfel der über tausend Fuss hohem Abgrunde hängenden Tannen zu klettern und sich da, in freier Luft schwebend, zu schaukeln. Ja, eines Tages, fuhr der sich ereifernde junge Erzähler fort, wurde er so von seinem Pfarrer erblickt und tüchtig aus-gezankt, ihm selbst gedroht, dass sein Schutzengel ihn verlassen werde, wenn er fortfahre, so leichtsinnig sein Leben aufs Spiel zu setzen. « Ja, Herr Pfar-herr, d'r Schutzängel darf da nit gah, wo n'i gah, » war seine Antwort.

Solche Jungen, meinte ein anderer Gefährte, waren wohl das Holz, aus dem man seiner Zeit die Doktoren Blatter, Lythonius und den grossen Mühlibacher Kardinal geschnitzt hatte!

Jeder wusste nun ein Stückchen aus dem Leben irgend eines Geissbuben, dieser verwegenen Schelme, zu erzählen, von ihren Spielen und lustigen Streichen. Auch ich gedachte ihrer; denn zweimal hatten sie mir aus grosser Verlegenheit geholfen: Das erste Mal der von der Variier Alpe, als ich mich botanisirend am Trubelnstock verloren hatte und den Weg nach Leukerbad hinab nicht finden konnte, und das andere Mal, als ich vom Glacier du Pras-Fleury herabkommend nicht über die vom längst zurückgewichenen Gletscher glattgeschliffenen Felsen der Blava hinabsteigen konnte. Und da ich das allseitige Interesse wahrnahm, mit dem die ganze Gesellschaft unsern Reden folgte, so erzählte ich noch ein Reiseabenteuer, das seiner Zeit Freund R. R. auf der Alpe Oberaar begegnet ist. Er schrieb mir darüber wie folgt:

« Am Oberaargletscher liegt eine wilde, öde Alpe, « die durch Kauf an die weitentlegene Gemeinde Törbel, « im Visperthal gekommen ist. Der Hirt führt in « dieser Alp ein äusserst einsames Leben, seine einzigen « Genossen sind Rinder, Schafe und einige Ziegen, die « ihm die Mild tur Nahrung geben. Der übrige « Mundvorrath wird ihm von Zeit zu Zeit über den « Gratfirn hergebracht, und geht mitunter zur Neige, 2 « ehe neuer angelangt ist. So traf es sich, als ich « mit zwei Reisegefährten vor etlichen Jahren über den « Trüzi- und Gratfirn und den Oberaargletscher in die « Alp Oberaar kam. Dem Hirten dort waren die Mund-«vorräthe bis an ein Stück Brod ausgegangen und « überdiess fiel an demselben Tage und in der folgen-«den Nacht so viel Schnee, dass auch die Thiere ohne « Futter waren und jämmerlich blockten und brüllten. « Glücklicherweise hatten wir tüchtig Proviant mit-«genommen für einige Tage und schenkten denselben « dem Hirten. Wir gaben daher auch unsere Pläne « auf und kehrten zurück in 's Wallis über den Sidel-«horngrat, bei fortwährendem Schneefall. Auf der Höhe « des Grates entdeckten wir zu unserm Erstaunen im « Schnee frische Spuren von einem Paar wohlgeformter, « nackter Füsse, deren Richtung dem Grat entlang « gegen Westen wies. Wir verfolgten diese Spuren « lange bis zu einbrechender Nacht und der Hunger « zwang uns endlich, in die Ulricher-Alphütten abzu-«steigen. Dort berichteten wir das Gesehene. Die « Sennen und Hirten schüttelten die Köpfe. « Wir haben « Niemanden bemerkt, das sind keine natürlichen Fuss-«spuren. Es wird der Gratbotze sein oder der gespenstige « Hirt, » meinte der Zusenn.

« Das ist nicht wahr, versetzte eifrig der Geissbub, « kein Geisshirt noch Schafhirt lauft ohne Schuh! » « Darauf sagte ein anwesender Jäger bedenklich: « Es « wird die schöne Mailänderin gewesen sein, die muss « büssen, weil sie sich bei Lebzeiten zu sehr verzärtelt « hat und darum, weil sie immer in der Kutsche ge-«fahren und nie zu Fuss gegangen, muss sie nun nach « dem Tode mit blossen Füsschen über Firn und Guffer, « über Grat und Tossen wandeln. Und merkt 's Euch, « ihr Stadtleut, » fügte er hinzu mit einem Seitenblick « nach uns. Wir merkten uns auch diese Lehre und « zogen vor, lieber bei Lebzeiten mit wohlgenagelten « Schuhen und mit einem guten Schluck versehen über « Berg und Firn zu ziehen. Die Fussspuren der schönen « Mailänderin aber haben wir seither nie mehr ent-« deckt. » Mittlerweile hatten wir eine gute Strecke Weges zurückgelegt, noch einige Schritte, und wir sind am Ziele! Vom See bis zur Spitze ist die Steigung eine sehr geringe, der angenehmste Spaziergang, den man sich denken kann; über einen wahren Blumenteppich der allerzierlichsten, in bunter Farbenpracht prangenden Alpenpflanzen führt unser Weg. Während die Fräuleins die tiefblaue Enziane, die rothe Silène und Androsace und das Alpenmassliebchen pflückten, schenkte ich meine Aufmerksamkeit den verschiedenen Caricaeen, der seltenen Potentilla frigida und einer ganz kleinen, einblüthigen Varietät der Campanula barbata, die man leicht für die C. alpina der östlichen Tyroler-Alpen nehmen könnte.

So waren wir ohne Anstrengung in der heitersten und glücklichsten Stimmung oben angekommen und lagerten uns auf die herumliegenden Felsblöcke. Mehrere Stunden blieben wir da oben, schwelgend in Lust und Wonne, uns am einzig schönen Anblick der grossartigen Gebirgswelt erfreuend. Es ist so schön hier oben! Und die Tage so hohen Genusses sind gar zu selten!

Die Aussicht zu schildern wird man mir wohl erlassen; hat sie ja doch der Stift unseres Meisters Raphael Ritz in dem beiliegenden Panorama* ) hundertmal besser wiedergegeben, als Worte es vermöchten!

Die Sonne hatte schon den grössten Theil ihres Laufes vollbracht, als wir endlich die liebgewonnene Stätte verliessen. Wir stiegen in nordwestlicher Richtung hinab, zuerst über steile Felsen, dann über langweiliges Steingeröll und endlich auf kleinem Fusswege zu den Hütten von Mandelon. Der steile und schnelle Marsch hieher hatte unsere Kehlen stark erprobt, hier aber, in der grossen, ausnahmsweise reinlichen Sennhütte gab 's vortreffliche Milch, die uns der freundliche Obersenn in der zuvorkommendsten Weise kredenzte. Nachdem wir überdiess von Allem gekostet hatten, was der Aelpler aufzutischen vermag, setzten wir wohlgestärkt unsere Reise fort, erreichten in einer kleinen Stunde die Brücke von Praslong und noch 2 Stunden später unsere lieben Mayens.

Wir waren so beglückt von unserer Wanderung, dass wir Alle den Entschluss fassten, es wie Freund E. zu machen, und bei mir steht es heute noch fest, jedes Jahr dem schönen Berg einen Besuch abzustatten!

* ) Siehe Beilagen.

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