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Dem Alltag entrückt

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Marianne Hodel-Gisin, Sissach

Es müssen ja nicht unbedingt 4000, es können auch nur 2000 Meter sein. So jung sind wir nun auch wieder nicht mehr. Unsere Kinder sind längst erwachsen, der Sohn selbst Bergsteiger. Auch wenn man als jung die Berge bestieg: soll man sie denn später immer noch mühsam bezwingen? Wozu?

Warum sich eigentlich nicht nur an ihrem Anblick freuen? Und wo könnte man dies besser tun als im Wallis?

In Goppenstein steigen wir um in den Autobus, fahren hinauf ins Lötschental. Das Dorf Ferden bettet sich in grüne Matten; dann Kippel, Wiler, das Dörfchen Ried und der letzte Ort des Lötschentals: Blatten.

Es ist Juli - Ferienzeit.

Touristen überall, Bergsteiger mit Pickeln und schweren Schuhen, andere wanderbehoste Unternehmungslustige, ferienschlendernde Ausländer, den Photomechanismus vor dem Bauch. Absolut fehl am Platze, aber leider auch vorhanden: Miniröcke und Shorts über haarigen Schenkeln.

Einheimische gehen ihrer Arbeit nach, braungebrannt, abweisend, hart.

Zusammengekuschelt die braunen Holzhäuser mit ihren Schieferdächern, Blumen auf den Lauben, spöttisch unnahbar die blinkenden Fenster. Immer mehr müssen diese romantischen Holzhäuser den neuzeitlichen Steinbauten weichen.

Zum erstenmal sehe ich die berühmten Walliser Speicher auf ihren Pfosten, Steinplatten eingeschoben zwischen Erde und Haus.

Heilande hängen an verwitterten Kreuzen, vor Regen und Schnee durch ein Dächlein geschützt.

Die Lonza rauscht wild über die Steine.

Wir steigen bergwärts.

Eisten.

Der letzte ganzjährig bewohnte Weiler. Frauen mit bunten Kopftüchern breiten Heu aus. Ein schwarzhaariges kleines Mädchen sitzt auf einem Stein, den Finger im Mund, versunken in die Betrachtung der Vorübergehenden.

Der Weg wird steinig. Holzlatten schützen die sonnenüberfluteten Matten.

In Kühmad steht eine Wallfahrtskapelle. Sie hebt sich weiss von den braunen Holzhütten ab, dunkle Fensterrechtecke wie Augen in der hellen Wand, Sonne auf dem schiefriggrauen Glockentürmchen, glitzernd.

In einer grob gefügten Holzlaube wehen Windeln.

Ohne grosse Mühe steigen wir höher. Wir lassen uns Zeit. Verknorzte Lärchen grünen durchsichtig. Grosse Steinbrocken sperren.

Drei Maulesel stapfen uns entgegen, hochbepackt mit Harassen und Säcken, Scheuklappen neben den Augen und Maulkörbe vor den samtenen Mäulern. Ihre hochgestellten Ohren spielen aufmerksam. Einer versucht einen Abstecher in das nahe Gras, wird zurückgetrieben. Ein Tratsch von sonnverbrannter Hand auf das braunbepelzte Hinterteil. Transportmittel in den Alpen seit eh und je. Noch führt keine Strasse zur Fafleralp.

Fafleralp.

Alphütten, gestaffelt. Zwei Gasthäuser. Ferienort für Ruhebedürftige.

Der schneeige Gipfel des gegenüberliegenden Breithorns fängt den Blick. Wächtenüberspannt zieht sich der Grat zum Breitlauihorn, getragen von der aufsteigenden, eisdurchsetzten Nordwand. Die Gletscherabbrüche züngeln in den Fels. Steinrunsen rutschen ins Tal. Lärchenwäl- der klettern nach oben, durchfurcht von kahlen Lawinenzügen. Wildbäche stürzen gischtend hinunter.

Wir Zickzacken aufwärts, beschattet von den Bäumen des Waldes. Sonnenflecken blühen auf dem dunklen Pfad.

Eine Bergsteigergruppe kommt vom Petersgrat her, rotbesockt. Lachende junge Gesichter. Pickel werden gehoben zum Gruss.

Der Weg wendet sich wieder zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind; allerdings liegt er jetzt ungefähr zoo Meter höher. Das Tal lässt sich überschauen. Wir gehen der Tellialp entgegen.

Wir wandern allein, Stunde um Stunde, ungestört. Zuweilen finden sich unsere Hände, lösen sich wieder. Beglückt erleben wir die Zweisamkeit in stiller Bergwelt, erleben die nadelduften-den Wälder, das rauschende Wildwasser, den luftigen Pfad, die blumenübersäten Weidmatten, die hohen Weidenröschen, violettrot. Hagrös-chen leuchten in grünem Blättergewirr. Samten umrahmen rote Blütenblätter die gelben Staubgefässe.

Am Schwarzsee rasten wir. Tannenwälder spiegeln sich im kräuselnden Wasser, dunkeln seine Tiefe. Knorrige Bäume ragen einzeln.

Die Pyramide des Bietschhorns wird umgaukelt von wattigen Wölklein. Weiss steilt das Schneefeld zum Grat, begrenzt durch eine Flanke, die sich hinter einem vorgelagerten Gipfel verliert.

Das Bietschhorn — der Wunschberg meines Mannes. Einer der scharfkantigen Gipfel der Walliser Alpen, zu dessen Besteigung die Ferien der Jugendjahre nicht ausreichten. Der Berg begleitet unsere Wanderung, wechselt sein Gesicht, lockt mit einem herrlichen Grat, droht, umnebelt, mit Undurchsichtigkeit, geistert durch die Träume meines Wanderpartners, der diesmal verzichten- musste.

Wir wandern weiter auf dem in den Hang eingeschnittenen Höhenweg des Lötschentales. Uns zur Seite zerzauste Arvenwipfel, das Filigran der Lärchenäste, Steinbrocken, zierlich verschönt mit gelben, schwarzdurchzogenen Flechten, hin und wieder auch bemalt mit gelbschwarzen Rhomben. Unter uns das Tal. Und immerzu das Rauschen der Wildbäche vom gegenüberliegenden Hang.

Wir passieren Tellialp. Wir kommen zur Weritzalp. Und hier haben wir die Höhengrenze von 2000 Metern erreicht.

Es ist später Nachmittag. Das Sonnenlicht fällt schräg über die Alpweiden, durchsickert Schmetterlingsflügel, legt Schatten hinter Alphütten, zeichnet schwarz den Stamm einer einsamen Arve über den Weg.

Das Berghaus Lauchernalp ersetzt uns ein feudales Hotel. Es schmiegt sich hochgelegen an den steinigen Berghang, braun, verwittert. Der Wirt hält uns mit hintergründigem Humor zum besten, so als ob für uns kein Platz vorhanden sei, jagt mir einen leisen Schauer in die müden Glieder. Dieser Walliser, dieser hohe, zähe Mann mit kantigem Gesicht, blondem Haar und eigentümlich hellen Augen. Mit gelassenem Berglerschritt geht er hin und her und bedient seine Gäste.

Wir poltern die schmale Stiege hinauf— und uns präsentiert sich das Doppelschlafzimmer. Die rotweissgewürfelten Bettdecken buckeln an den beiden Längsseiten des getäferten Raumes.

Die Überraschung: das Nachtessen - Bratwurst, Kartoffelstock und Salat.

Der Wein verbrüdert unbekannte Feriengäste und zufällige Wanderer zu einer Runde. Gelächter umbrandet den Wirt, der seine sichere Ruhe durch die mit Rauch und Menschen angefüllte Wirtsstube trägt.

Bei unserem Aufbruch anderntags überspringen wir Jauchepfützen vor einer Alphütte und weichen Kuhfladen aus. Wahrzeichen einer bewohnten Alp.

Wieder wandern wir. Aber unsere Zeit reicht auch für einen Schwatz mit Einheimischen. Ein junger Bergbauer mäht mit kurzen Sensenstri-chen das mit Steinen durchsetzte Berggras. Der verbeulte Hut hängt schief über seinem schma- len, verschlossenen Gesicht, dem verbissenen Mund mit dem dunklen kurzen Schnurrbart. Etwas misstrauisch lächelt die junge Bäuerin unter ihrem hellen Kopftuch. Die beiden lassen sich nur photographieren, wenn wir ein Bild schicken. Natürlich schicken wir eines.

Auf Hockenalp entflieht eine alte Frau in die Hütte, und kein Zureden bringt sie ans Tageslicht. Ihre Nachbarin, eine Walliserin in den Fünfzigern, ist weniger scheu. Ein frauliches, markantes Gesicht auf dem kurzen Hals. Die grauen Haare sind im runden Nacken einfach geknotet. Schön ist die hohe, helle Stirn, die gerade Nase mit der starken, nicht eingesunkenen Na-senwurzel. Klar sind die braunen Augen mit dem beobachtenden Blick. Der Mund, zu leichter Härte geformt vom arbeitsreichen Bergbauem-Alltag. Eine braune, im Rücken geknöpfte Schürze umspannt die runde Brust und die Wölbung des in kein Korsett gepressten Leibes. Unser Geplauder wird zu einem aufschlussreichen Gespräch, und wir freuen uns dieser Begegnung.

Wir kommen deswegen sogar vom Weg ab und rutschen auf glatten Sohlen über eine Weide gegen das hell blinkende Wegband unter uns. Kühe glotzen verständnislos.

Wandern zu zweit ist wunderbar. Unbeschwert fallen unsere Schritte in die schweigende Welt. Worte sind unnötig. Heuschrecken zirpen uns ihr Lied. Käfer überqueren hastig die steinige Landschaft zu unseren Füssen. Raubvögel ziehen ihre Kreise in die leicht bewölkte Höhe; auf entfernten Felshöckern schreien Dohlen. Schwach tönen von weither die Glocken der Kühe in das Rauschen der Bäche.

Dunst umschleiert das Bietschhorn, vernebelt seine Konturen.

Auf Kummenalp machen wir Halt in der Bergwirtschaft.

Bis Restialp wird der Weg zur neugebauten Fahrstrasse. Das Brummen eines Traktors mit angehängtem Ladewagen enthebt uns einen Moment lang der stillen Bergwelt. Wir zweigen gerne ab in das holprige Weglein der Wanderroute.

Der Himmel bewölkt sich stark. Nicht gerade erfreut über den nieselnden Nebel, marschieren wir weiter, eingemummelt in die schützenden Windjacken. Krüpplige Arven feuchten ihre Nadeln, der Fels zur Seite dunkelt zusehends unter der Nässe. Die Steine am Weg glänzen. Doch nach ein paar Spritzern ist der Regen vorbei.

Ohne allzu nass geworden zu sein, erreichen wir Faldumalp. Spitz sticht der Turm der Kapelle in den Horizont. Beim Näherkommen entdecken wir das grelle Beige eines Autos vor dem Kirchlein. Die Errungenschaft der Technik als Fremdkörper vor heiligem Gebäude. Uns stört dies so sehr, dass wir auf die Besichtigung der Kapelle verzichten.

Das Massenlager müssen wir erklimmen Das Haus steht zuoberst. Die Sicht von dort aus ist grossartig.

Ich trete ans Fenster. Der Himmel ist wieder klarer, die Wolken durchsichtig. Unter mir staf-feln sich die Alphütten, Dach über Dach. Schieferplatten, übereinandergeschichtet, mausgrau, dunkelgrau; Weiss spielt dazwischen. Miststöcke ruhen träge in brauner Brühe. Brennesseln wuchern um die Hütten. Wäsche flattert unter einem Dachvorsprung.

Im Tal schlängelt sich das weisse Band der Lonza. Am steilen rechten Hang stossen die dunklen Wälder tief hinunter. Links nisten die Dörfer, steigen die Alpweiden, Wälder rücken schützend gegen die Geröllzone. Ein Abbruch wie eine Wunde. Der Weg, den wir gegangen sind, lässt sich stückweise verfolgen. Ringsum Berggipfel, teilweise schneebedeckt; die weisse Passhöhe der Lötschenlücke unter zaghaften Sonnenstrahlen.

Wir haben reichlich Zeit. Noch ist Nachmittag. Wir schlendern um die Alphütten. Niedrig sind die Dächer, oft bis zum Boden reichend, von roh behauenen Balken gestützt. Holz keilt sich in Holz. Sitzgelegenheit: grosse Steine, ein Brett darüber.

Eine alte Frau sitzt an einer sonnigen Hüttenwand, die Hände verwerkt, knotig. Blaue Adern verlieren sich im braungebrannten Arm. Das weisse Kopftuch tief in die Stirn gebunden, gefurcht die Wangen, gepresst der Mund. Eine blaugeblümte Mantelschürze über dem braunen Rock, die Fusse, schwarzbestrumpft, in klobigen Schuhen. Die Frau strickt.

In einem Höfchen tratschen drei junge Walliserinnen. Nasse Wäsche hängt von Dachsparren zu Dachsparren. Bunte Plastikklammern schaukeln über weissen Tüchern. Blaue und rote Becken lehnen am Brunnentrog.

Wie wir zurückkommen, kauert ein junger Mann vor dem Wasserrinnsal neben unserem Haus. Er ist hier in den Ferien. Wir begrüssen einander. Unsere Rucksäcke hat er schon entdeckt und gesehen, dass das Lager Zuwachs erhalten hat. Sonst sind wir allein. Er bietet sofort an, für uns ebenfalls Suppe zu kochen; denn wir haben nichts bei uns, was uns den Magen wärmen könnte.

Die Kühe kommen von der Weide, muhen an den Hütten vorbei, trödeln vor unserem Küchenfenster, werden mit « ho » und « hui » in die Ställe getrieben. Kessel klappern.

Der Abend legt sich wie Samt zwischen die Alphütten.

Unsere alte Lampe zaubert einen gelben Schein an die Holzdecke. Stimmen murmeln im Raum unter uns. Unsere Gastgeber. Die grauen Drillichmatratzen düstern an den Wänden unter der Dachschräge. Als dunkle Punkte liegen die zusammengefalteten Wolldecken ordentlich entlang den breiten Holzsimsen.

Die Stille der Nacht umschliesst uns wie ein Mantel. Unser Gespräch weitet sich aus, wird zur Begegnung von Mensch zu Mensch. Wir ergründen die Probleme unserer hektischen Zeit, wir deuten die Menschlichkeit, wir wagen uns an das Göttliche. In der Einsamkeit der blauschwarzen Bergwelt begegnen wir der Gläubigkeit eines jungen Menschen. Ein Erlebnis, beruhigend, beglückend.

Der ungestörte Schlaf erreicht uns mühelos; nur das verhaltene Poltern einer Kuh im nahen Stall schleicht sich träge in das noch dämmernde Bewusstsein.

Die Sonne meint es gut mit uns am andern Morgen. Sie blinzelt durch eine dünne, zerrissene Wolkendecke.

Unser Schlafnachbar rät uns zu einem Weg, der sehr schön, aber noch nicht gezeichnet ist. Wir finden ihn bald; nur—es steht eine Verbottafel mittendrin. Steinschlag. Doch der Weg lockt.

Uns zur Seite grenzt ein Steinmäuerchen die Weidmatte. Das Gras steht hoch, mit gelben und weissen Blütensternen durchmustert, mit blauen Glockenblütchen betupft. Violetter Türkenbund neigt sich in Büscheln. Rittersporn hebt sich hoch.

Beschwingt, aber mit wachen Sinnen wandern wir dahin. SteinschlagEin Tuckern im Hang über uns löst das Rätsel: Man arbeitet an Lawinenverbauungen. Leichtsinnig gehen wir weiter - bis uns ein Hornsignal erschreckt. Deswegen das Verbot. Es wird gesprengt. Wir können nicht mehr zurück. Das wäre so gefährlich wie das Vorwärtsgehen. Also suchen wir Deckung. Hingeduckt in eine Felsnische, hören wir den Knall, hören die Steinbrocken, die über uns aufschlagen, weghüpfen, in die Tiefe sausen. Wir warten lange auf das Endsignal. Keines ist zu vernehmen, nur plötzlich wieder das Geknatter des Trax. Im Laufschritt begeben wir uns aus der Gefahrenzone, atmen erst wieder auf, als wir die Verbottafel auf der andern Seite passieren. Nun sind wir in Sicherheit. So geht es einem, wenn man auf verbotenen Wegen wandelt.

Unser Pfad begleitet immerzu den Hang, eben, oft leicht abwärts führend. Lawinenverbauungen schützen steile Stellen. Lärchen, zerzaust und einseitig, rotten sich zusammen, Arven hangen über, knorrig, wetter hart. Dickarmige Wurzeln suchen Halt in kargem Boden, verflechten sich in den Felsen. Blankgefegte Ungetümchen runden in die Höhe, stützen sich auf imaginäre Beine.

Wir überqueren einen Lawinenzug. Stumpf starren die zurückgebliebenen Baumstrünke, lieblich umworben von Blumenbüscheln, von hochstieligen Rispen. Schmetterlinge gaukeln über die Lichtung. Grillen zirpen, seltsam, wie ein Rädchen, das abschnurrt. Köstlicher Ton.

In Untermeiggen suhlen die Schweine neben der Hütte, verfolgen unser Vorbeigehen mit kleinen Äuglein über der rosa Schnauze, grunzen wohlig. Zwei Kinder, rotbackig, zerzaust, sitzen auf der Schwelle einer geöffneten Tür Stimmen verwehen hinter uns. Wir steigen ab.

Im Wald ist es kühl. Die Sonne zerfasert in den dichten Ästen, durchbricht flutend ungeschützte Stellen, heftet sich an rauhe Rinde.

In einer blankgefegten Steinrunse sucht der Apollofalter nach den kärglichen Blüten, weiss, schwarzumrandet, rotgetupft. Er lässt sich photographieren und schwebt in den Abgrund hinunter.

Der Pfad weitet sich zum Weg, breit genug, um Feriengästen das Lustwandeln zu ermöglichen. Wir treten aus dem Wald ins Freie.Vor uns liegt Jeizinen, unter uns das Rhonetal, benebelt von Rauchschwaden aus hohen Kaminen. Uns entgegen schwabbelt in kurzen Shorts, Hand in Hand mit dickbäuchigem Begleiter, eine Dame mittleren Alters.

Wir sind in die Zivilisation zurückgekehrt.

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