Der Ararat
Von Ed. Imhof
Mit 17 Bildern ( 1-17 ) ( Erlenbach/Zürich ) Es war wie in der Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern, als wir am B. August 1954 abends spät mit unserem Camion in die finstere Dorfgasse von Neu Dogu Bayazit einfuhren. Die Räuber aber kauerten nicht in dunkelm Versteck in den Ölschläuchen, sondern sie hockten in der Dorfkneipe oder umringten unseren Wagen und begafften neugierig die Ankömmlinge. Hans, der als erster auf Rekognoszierung ins « Hotel Spekunkia » eingedrungen war, kehrte zurück: « Schauderhaft, schauderhaft, hier können wir unmöglich bleiben. » - Was tun? Zurückfahren, eine Stunde weit, und irgendwo in einsamer Steppe kampieren? Ohne Wasser, und meine Frau fieberkrank. Schöne Aussichten. So entschlossen wir uns zu einem zweiten Vorstoss in die Dorfschenke. Da wir bemerkten, dass der Wirt sein Messer nicht zwischen den Zähnen hielt, beschlossen wir zu bleiben. Seltsam, die Räuber machten uns bereitwillig Platz, einige räumten sogar die beiden Schlafgemache und legten sich im davor liegenden Korridor zur Ruhe nieder. Bald waren wir einquartiert.Eine Stunde später war auch der Distriktsarzt, Dr. Muhamed Alkan, aus den Federn geklopft. Dieser beste all der vielen liebenswürdigen Türken stand uns nun während der Die Alpen - 1956 - Les Alpes1 ganzen Dauer unseres Aufenthaltes in rührender Weise bei. Als wir vor dem Schlafengehen noch einmal ins Freie traten, war die breite Masse des Ararat in dunkle Nacht versunken. Hoch oben aber leuchtete immer noch, losgelöst vom irdischen Grunde und schwebend wie eine Silberwolke, die Firnhaube des grossen Berges.
In den nächsten drei Tagen gab es viel zu tun und viel zu sehen. Ein Telegramm der türkischen Regierung hatte dem Kaimakan ( Distriktsvorsteher ) unser Kommen gemeldet. Die Schweizer, die den Ararat zu besteigen trachteten, bildeten die Sensation und das Tagesgespräch der Ortsbevölkerung.
Unser Unternehmen hatte indessen eine kleine Vorgeschichte. Diese spielte sich in Ankara ab und lag zwei Jahre zurück. Ich war damals vorübergehend als kartographischer Berater beim türkischen Landesvermessungsamt tätig. Zu jener Zeit sass ich eines Abends bei Dr. Hans Keller, dem Handelsattache der schweizerischen Gesandtschaft. Keller erzählte mir von seiner Besteigung des herrlichen 4000 m hohen Erciyas Dagi bei Kayseri. In seiner Stube hing ein Ölgemälde des Ararat. « Wie wär 's mit diesem? » fragte er. Ich hakte sofort ein. So einfach aber schien die Sache nicht. Die Schweizer Bergsteiger pflegen die Schwierigkeitsgrade ihrer Berge zu numerieren. Nr. 1 heisst leicht usw., Nr. 6 bedeutet äusserst schwierig. Dem Ararat aber kommt offenbar der Schwierigkeitsgrad 7 oder 8 zu. Die Schwierigkeiten liegen jedoch nicht am Berge, sondern in Ankara. Vor dem ersten Weltkriege war der Ararat türkisch-russischer Grenzgipfel. Fast alle früheren Besteigungen waren von russischer Seite her erfolgt. Heute liegt der Berg ganz auf türkischem Boden, jedoch nur 30 km von der russischen und 20 km von der iranischen Grenze entfernt. Das Araratgebiet vor dem « Eisernen Vorhang » ist militärische Sperrzone. Wer hier ohne Zustimmung der Regierung einzudringen sucht, wird unnachsichtig zurückgewiesen. Dies erfuhren, als wir in Dogu Bayazit weilten, einige junge österreichische Alpinisten. Eispickel und Steigeisen halfen ihnen nichts. Sie mussten mit langen Gesichtern wieder abziehen. Uns ging es besser. Ein halbes Jahr vor unserer Reise hatte ich ein Gesuch an die türkische Regierung gestellt und General Dura, den ausgezeichneten und mir wohlgesinnten Chef des türkischen Landesvermessungsamtes, um Unterstützung gebeten. Einige Wochen darauf kam der zustimmende Entscheid. Der Weg zum Berge Noahs stand uns offen.
Der « Berg Noahs »? Was hat es eigentlich für eine Bewandtnis mit diesem früh-geschichtlichen Landungsmanöver? Alle, die von unserem Unternehmen hörten, die Leute in Ankara, der Kaimakan von Dogu Bayazit und unsere Freunde in der Schweiz, glaubten unbeirrbar an unsere Absicht, auf den vulkanischen Gerollen des biblischen Berges die Trümmer des berühmten Menschheitsmutterschiffes suchen zu wollen. Unsere natur- und kulturgeschichtlichen Argumente gegen jegliche Möglichkeit einer einstigen Landung der Arche am Ararat fruchteten nichts. Je hartnäckiger wir irgendwelche Suchabsichten in Abrede stellten, um so mehr stand unsere Verstocktheit fest. Was also würde es helfen, auch hier, in dieser Zeitschrift, unsere Unschuld beteuern zu wollen. Der Vater Noah ist nun einmal dort oben gelandet und damit basta.
Die bisherige Araratliteratur berichtet über zahlreiche Besteigungen und manchen missglückten Besteigungsversuch. Die Glorie, einer der frühesten Pioniere des Alpinismus gewesen zu sein, kommt dem im vierten Jahrhundert lebenden armenischen Mönch Hagop oder Jakob zu. Er machte sich auf den Weg nach dem hohen Ziel, um die Überreste der Arche zu suchen. Die Geröllhänge aber waren ihm offenbar zu beschwerlich. Nachdem er einige Zeit gestiegen, legte er sich aufs Ohr. Als er aus dem Schlafe auffuhr, befand er sich wieder am Ausgangspunkt. Er versuchte es ein zweites Mal mit demselben Misserfolg. Beim dritten Versuch erschien ihm im Traume ein Engel und sprach: « Jakob, Jakob, lass ab von deinem Bemühen. Nie sollen die Füsse eines Sterblichen den heiligen Ort betreten, kehre zurück in deine Klause und glaube. Gott hat deine Gebete erhört und deinen Wunsch erfüllt. Hier ist ein Stück der Arche. Nimm es, doch versuche nicht, weiterzugehen. » - Als der Mönch die Augen öffnete, hielt er einen Holztremel in den Armen. Dieses Stück Holz wird als heiligste Reliquie im Kloster Etschmiadsin bei Eriwan aufbewahrt. Am Schlafplatz des Mönches aber, am Nordostfuss des Ararat, sprudelt seither ein Bach aus einem Felsenschlund. Diese Quelle des heiligen Jakob ist ein Wallfahrtsziel armenischer Christen.
Denkwürdig bleibt die aus wissenschaftlichen Interessen unternommene Erstbesteigung des Ararat durch Friedrich Parrot am 27. September 1829. Parrot war Arzt und Professor an der estländischen Universität in Dorpat ( Tartu ). Zur Erinnerung an ihn trägt die höchste Erhebung des Berges den Namen Parrotspitze. Bekanntlich besitzt einer der Gipfel des Monte-Rosa-Massivs denselben Namen, denn Parrot war auch ein Pionier der Zermatter Berge. Wohl kaum ein anderer Bergsteiger ist der Ehre solch doppelter Verewigung seines Namens teilhaftig geworden.
Parrot erstieg den Ararat über die nur mässig steile, stark vergletscherte Nord- und Nordwestflanke. Diese bietet offensichtlich auch heute noch die müheloseste Aufstiegsmöglichkeit, doch wurde die Route, da sie weitab hegt von guten Ausgangsstationen, selten mehr begangen.
Bemerkenswert ist auch die Besteigung durch den russischen Obersten und Geodäten Joseph Iwanowitsch Chodzko. Er bezwang den Berg im Sommer 1850 mit fünf wissenschaftlichen Begleitern und sechzig Soldaten und Kosaken, mit Instrumenten, Schlitten usw. Der Aufstieg erforderte fünf Tage. Ein fürchterliches Ungewitter spielte dazu mit Trommeln und mit Pfeifen die anfeuernde Marschmusik. Auf dem Gipfel liess Chodzko eine Schneegrube ausheben, mit Teppichen belegen und mit Zeltblachen überdecken. Er harrte fünf Tage oben aus, um trigonometrische und meteorologische Beobachtungen zu machen.
Die meisten früheren, aus der Literatur bekannten Besteigungen erfolgten von der russischen Seite her, von der nur 800 m über Meer gelegenen Arasebene aus. Nahe nordöstlich unter dem Sattel zwischen dem grossen und kleinen Ararat, in der Höhe von 2290 m, bei Sardar Bulagh, d.h. an der Quelle des Sardar, lagen die Gebäulichkeiten einer russischen Militärstation. Diese dienten bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges als Ausgangsbasis. Von dort führten verschiedene Routen über die Südostflanke zum Gipfel.
Besonderes Interesse bieten uns die Besteigungen durch schweizerische Alpinisten: jene des Baslers Dr. A. Oswald im Jahre 1897, dessen Reisegefährte am Berge durch einen Begleitsoldaten ermordet und ausgeplündert worden war ( Jahrbuch des SAC, Jahrgang XXXV, 1898/1899 ); dann diejenige unseres verehrten Louis Seylaz im Jahre 1910 und als letzte die 1912 erfolgte Besteigung durch die beiden Zürcher Prof. Dr. Eduard Rubel und Carl Seelig. Oswald, Seylaz und Rubel erinnern sich heute noch in voller geistiger Frische jener sehr weit zurückliegenden Erlebnisse, was beweisen mag, dass das Gletscherwasser des Ararat ein Jungbrunnen ist. Die Schilderung von Louis Seylaz in der Zeitschrift « Le Tour du monde », 1911, ist heute wohl schwer auffindbar und vergessen. Leider! Denn sie ist ein Kleinod im alpinen Schrifttum.
Seit den Besteigungen durch Oswald, Seylaz, Rubel und Seelig ist der Ararat nicht mehr von Schweizern angegangen worden. Für uns ein Ansporn mehr, es zu versuchen. Schilderungen über Aufstiege von türkischer Seite lagen uns nicht vor. ( Das Buch von F. Navarra: L' Expédition au Mont Ararat, Paris 1953, kam erst später in unsere Hände. ) Doch wussten wir, dass türkische Topographen und Soldaten den Gipfel schon wiederholt von Dogu Bayazit aus erstiegen hatten.
Der Ararat ist ein unvergleichlicher Berg. Freilich nur 5165 m hoch. Himalayanische Lorbeeren sind somit hier nicht zu holen. Einzigartig aber ist er durch Gestalt und Lage. Andere Berge von ähnlicher oder grösserer Höhe stehen inmitten von Gebirgen, sind umlagert von Vorbergen. Der Ararat aber, ein längst erloschener Vulkan, ragt als Riesenkegel frei über weite Ebenen empor. Sein Westfuss liegt 1700 m, der Ostfuss aber nur 800 m über Meer. Dogu Bayazit ist 26 km vom Gipfel entfernt in genau südwestlicher Richtung. Auf kreisförmiger Grundfläche, nahezu von der Grösse der Kantone Zürich oder Freiburg, erhebt er sich als ein einziger Berg. Seine Profillinie steigt von Westen zunächst sachte, dann steiler 3500 m an und fällt jenseits, auf der Ostseite, 4500 m zur Arasebene. Die ursprüngliche Spitze dieses Kegels, der einstige Vulkankrater, mochte noch einige hundert Meter höher gelegen haben. Sie ist offenbar in vorgeschichtlicher Zeit durch Eruption und Erosion vernichtet worden. Die heutige Gipfelregion zeigt die Form einer zerstörten und abgeschliffenen Stockzahnkrone. Ein Halbrund von wellenförmig ansteigenden und wieder absinkenden Firnbuckeln umschliesst einen sich zur Hauptsache nach Nordwesten und Norden entleerenden Firn. Die beiden höchsten Buckel, die kuppenförmige Parrotspitze und der nur etwa 12 m niedrigere, plateauförmige Ostgipfel, sind durch ein Schneejoch voneinander getrennt. Nach allen Seiten hin überströmt das Eis diese buckelige Krone und sendet kleine Hängegletscher über die Flanken und in die Schluchten des obersten Felskernes. Steil, hoch und stark durchfurcht ist besonders die Nordostflanke. Ein gewaltiger Erosionskessel, das Jakobstal, ist hier tief, bis in die Eingeweide des Vulkans eingegraben, oben einen über 1000 m hohen Felsenzirkus bildend. Im Grunde dieses Tales liegt ein regenerierter, 5 km langer und 400 m breiter Gletscher. Am 20. Juni 1840 erschütterte ein Erdbeben den Berg. Felsstürze, Eis-, Schlamm- und Blockströme verwüsteten das Tal und begruben an dessen Ausgang das Armenierdorf Achuri.
Die unteren Hänge des Ararat sind flacher, denn hier ist der zentrale Felskern umhüllt vom Schutt einstiger Lavaergüsse. Was aber von weitem als ein wenig modellierter Saum von Geröllhängen und Weideflächen erscheint, erweist sich in der Nähe als ein Gelände mit Hunderten von Buckeln, Rücken und Kämmen. Da und dort erheben sich in erstaunlicher Unversehrtheit kleine Nebenkrater. Der Berg greift wie ein riesenhafter Polyp mit langen gewundenen Fangarmen nach allen Richtungen hin. Dies sind die längst erstarrten Lavaströme, wohl zwanzig an der Zahl. Manche stiessen ihr schwarzes Gekröse weit in die umliegenden Ebenen vor und stauten dort die Flüsse, so dass sich Seen und Sümpfe bildeten. Der Ararat steht völlig nackt und baumlos vor uns. Bis zu halber Höhe aber wird das Schwarz der buckeligen Gesteinsmassen unterbrochen durch Muldenzüge gelbbrauner Steppenweiden. Aus der Ferne gesehen ein Berg von erhabener Grösse und Ruhe, steht man aber auf seinen Flanken, so löst sich die Einförmigkeit auf in eine unerhörte formale und farbige Bewegtheit.
Der Ararat steht an der Kreuzung zweier weithinziehender Vulkanreihen. Nahe nordwestlich von ihm, einbezogen in seine Bergmasse, liegt die flache Kuppe des Kipgöl mit einem ausgetrockneten Kratersee. Im Südosten schwingt sich die Silhouette des Berges noch einmal empor zum schlanken, ebenmässigen Kegel des 3925 m hohen Kleinen Ararat. Alle drei Erhebungen liegen auf einer von Nordwest nach Südost streichenden Bruchspalte oder Verwerfungslinie. Sichtbare Folge dieser Verwerfung ist der auffallende Höhenunterschied der Ebenen zu beiden Seiten des Berges. Auf der zweiten, von Nordost nach Südwest ziehenden Bruchspalte liegen, ausser dem Ararat, die Vulkane Tendürek Dagi, Suphan Dagi und Nemrut Dagi, der erstgenannte 50 km von unserem Berg entfernt, die beiden anderen am Nordufer des Vansees.
Entstehung und Haupttätigkeit des Ararat fallen ins Jungtertiär ( Pliozän ), in dieselbe Zeit wie die Einbrüche des Schwarzen Meeres und des östlichen Mittelmeeres. Die vulkanischen Aufschüttungen überdecken und umhüllen in grösseren und kleineren Massen ein alpin bewegtes, tertiäres Schollen- und Faltengebirge aus devonischem und karbonischem Material. Der Vulkankern besteht aus Hyperstendazit von alkaligranitischem Chemismus, einem sehr sauren Plagioklas ( nach Untersuchungen von Gesteinsproben durch Professor J. Jakob und Fräulein Ruth Jakob am Mineralogischen Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich ). Dieses schwarze Gestein, zu 80 % Glas, nimmt durch Verwitterung dunkelviolettbraune oder rötliche Färbung an. An manchen Stellen finden sich darin grosse Mengen von Schwefelkies ( Pyrit ), der hell und mehlig verwittert. Wie die Über-lagerungen älterer Erdoberflächenteile durch Tuff- und Lavadecken zeigen, war der Ararat offenbar im Diluvium noch tätig. Aus historischer Zeit ist kein Ausbruch bekannt. Der oben erwähnte Tendürek, zu deutsch « das rauchende Herdfeuer », südwestlich von Dogu Bayazit, stösst heute noch Dämpfe aus. Der türkische Name des grossen Ararat lautet Büyük Agri Dagi, d.h. der grosse zerklüftete Berg. Die Armenier nennen ihn Masis, d.h. den Grossen oder Erhabenen. Bei den Persern aber ist er der Koh-i-Nu, d.h. der Berg des Noah.
Nun aber zurück zu unseren Reiseerlebnissen. Es ist zunächst noch einiges nachzutragen. Wir waren unser vier, der bereits genannte, heute im Eidgenössischen Politischen Departement in Bern tätige Dr. Hans Keller, der Zürcher Geograph Dr. Emil Egli, meine Frau, ebenfalls der Geographie verfallen, und ich. Keller beherrschte die türkische Sprache, so dass ihm die nicht leichte Aufgabe zufiel, uns durch fremdländisches Kauderwelsch hindurch-zuschwatzen. Neu Dogu Bayazit, ein kleines Garnisonsnest im Osten der Türkei und dicht vor der iranischen und russischen Grenze, liegt 1600 Strassenkilometer ( in der Luftlinie 1000 km ) von Ankara entfernt. Wir hätten für Zweidrittel dieser Strecke, bis zur alten Armenierhauptstadt Erzurum, die Bahn benützen können, hätten aber sechs Tage auf den nächsten Zug mit freien Schlafwagenplätzen warten und einen Teil der Fahrt des Nachts zurücklegen müssen. Wir hätten nirgends anhalten und nur selten photographieren können. Daher entschlossen wir uns nach einigen seelischen Krämpfen zu einer Lastwagenfahrt. Ein junger Türke, der ausgezeichnete, stets willige Irfan Sekmen, brachte uns und unsere 18 Gepäckstücke mit seinem nagelneuen, himmelblauen Hanomag in vier langen Tagen von der Landeshauptstadt an unser vorläufiges Ziel. Keiner von uns wird diese Fahrt durch das östliche Anatolien so rasch wieder vergessen. Vor uns, im Geiste, stets der hohe Berg, hinter uns her aber eine Staubfahne, die die Landschaft verschlang und die Sonne verfinsterte. Für solche Intensivbestäubung türkischen Vieh- und Volkstums büssten wir durch Erdulden je eines kräftigen Holperstosses pro Sekunde, so dass wir es auf die Rekordmenge von 316 000 Stossen brachten. Sollte jedoch irgendein mitfühlender Leser glauben, diese Fahrt hätte uns nur Leiden gebracht, so müsste ich ihn eines Besseren belehren. Der Schmerz des Gesässes wurde reichlich aufgewogen durch die Seligkeit des Auges. Ein Farbenfilm von unvergleichlicher Schönheit rollte vor uns ab. Braune Steppe wechselte mit gelben Getreidefeldern. Bäuerinnen in feurig roten Gewändern standen auf Dreschschlitten und lenkten rostbraune Rinder im Kreise herum. Dann wieder erdfarbene, flachbedachte Hütten, zerfallene Burgen auf schroffem Fels, das Gewühl der Märkte, Esel mit Wasserkrügen und vor den Kauf buden grosse Haufen saftiger Melonen. Zu den visuellen Genüssen gesellten sich die akustischen, die « Gesänge türkischer Nachtigallen » oder, anders gesagt, das Ächzen und Pfeifen einachsiger Ochsenkarren mit schweren Holzscheibenrädern. Nach Osten hin stieg die Strasse stufenweise, drang durch finstere Bergschluchten und überwand hohe Pässe mit weiten Panoramen. Alles Getier, das einst der Arche Noahs entstiegen, floh und kroch an uns vorüber: hurtige Wiesel, Schildkröten in den Strassengräben, schwarze schnau-fende Wasserbüffel. Störche stelzten auf den Kuppeln der Moscheen, und stolze Adler äugten von krummen Telegraphenstangen. Allabendlich aber rollte die Glutscheibe der Sonne dem schwarzen Horizonte entlang, und in den Nächten funkelten tausend Sterne.
So gelangten wir endlich nach Dogu Bayazit. Dort neue Überraschungen, nicht nur das Hotel Spelunkia, nicht nur der längst ersehnte grosse Berg. Die heutige Ortschaft ist eine Neugründung aus der Zeit nach dem ersten Weltkriege, eine kleine gottverlassene Grenz-garnison, mit Spital, Schule, Krämerbuden, Freilichtkino, Badehaus und wenigen einstöckigen, armseligen Bauernhütten. Das einstige Dogu Bayazit liegt 6 km südostwärts und 300 m höher in einem felsumschlossenen Gebirgskessel, einst Grenzfeste, kurdisches Räubernest, Gebirgsstadt von mehreren tausend Einwohnern, seit dem Rückzug der Russen aus türkisch Armenien im Jahre 1918 ein verwüstetes, ausgebranntes Ruinenfeld. Inmitten desselben aber erhebt sich auf schroffem Fels eine herrliche Akropolis, eine der schönsten Burg- und Palastruinen Kleinasiens. Die ursprüngliche Anlage war ein Werk des osmani-schen Sultans Bajesid I., daher auch der Name des Ortes « Dogu Bayazit », d.h. das östliche Bayazit. Bajesid I. trat seine Herrschaft zu einer Zeit aufstrebender Macht des osmanischen Reiches an, unmittelbar nach dem Sieg der Türken über die Slawen auf dem Amselfeld im Jahre 1389. Sieben Jahre später schlug er die Kreuzfahrer bei Nikopolis. Um auch die Ostgrenze seines Reiches zu sichern, erbaute er unter anderem die mächtige Festung Dogu Bayazit. Doch hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Europa, der Balkan lockten ihn. Vom Erfolg berauscht, schaute er nur noch nach Westen und nicht hinter sich. Da wurde er durch eine Kriegslawine aus dem asiatischen Kontinent heraus überfahren. Der allgewaltige Timur Lenk brach mit seinen Tataren ins Land. Im Jahre 1402 verlor der türkische Sultan bei Ankara die grosse Entscheidungsschlacht. Er fiel in Gefangenschaft, wurde in einen goldenen Käfig gesperrt und hauchte darin ein Jahr später aus Kummer und Verdruss sein Leben aus. Dieser goldene Käfig aber war nichts anderes als seine eigene, in Feindeshand gefallene Grenzfeste, sein Prunkpalast Dogu Bayazit. Heute stehen nur noch Ruinen, zum grössten Teil solche aus späteren Epochen, prachtvolle Tore, Hallen und Moscheen aus der Barockzeit. Wir waren ergriffen ob so viel Schönheit und vergassen unseren Berg. Dieser aber zürnte uns, stülpte sich eine unheilverkündende Wolkenkappe tief über die Ohren und überschüttete uns, alle klimatologischen Landessitten missachtend, mit einem gewitterigen Regenplatsch. Reumütig wendeten wir unsere Aufmerksamkeit wieder dem Berge zu.
Nach drei Tagen waren die letzten Vorbereitungen zur Ersteigung getroffen und meine Frau im neuen Kreisspital wohlversorgt. Und was für Vorbereitungen! Der Kaimakan, der allmächtige Herr des Distriktes, wollte selber mit uns kommen, ferner zwei Garnisons-offiziere, die den Aufstieg kannten, überdies der Journalist von Dogu Bayazit, ein älterer Knabe mit einem prächtigen Gorillakopf. Auch er sei schon dreimal oben gewesen. Ferner unser wackerer Irfan, der darauf brannte, den berühmten Berg ebenfalls zu ersteigen. Dazu eine Kohorte von Soldaten, denn es gibt Bären, Wölfe, böse Hunde und andere Räuber am Ararat, und zuletzt die erforderlichen Träger und Rossknechte mit ihren Tieren. Ein fürstlicher Auszug und eine triumphale Gipfeleroberung standen bevor. Das berühmte Unternehmen des russischen Obersten Chodzko sollte dagegen verblassen.
Der Start von Dogu Bayazit war angesetzt auf 5 Uhr morgens des 12. August. ( Alle Zeitangaben beziehen sich auf lokale Ortszeit, d.h. Sonnenzeit, nicht aber auf die offizielle türkische Uhrzeit von Ankara, die gegenüber der Ararat-Ortszeit um eine Stunde nachgeht. ) Um 4 Uhr hoben wir drei Schweizer in unseren Schlafgemächern zu rumoren an. Es begann zu tagen. Wir schauten über die niederen Dächer nach dem Berge. Er verhiess nichts Gutes. Der Gipfel war schwer wolkenverhängt, eine zu solch früher Tagesstunde ungewöhnliche Erscheinung. Lange vor 5 Uhr stand auch Irfan mit seinem Hanomag bereit, denn er sollte mit einem Teil unserer Heldenschar über die Steppenebene bis an den Rand der Lavagerölle am Fusse des Berges fahren. Um 5 Uhr sassen Hans, Emil, Irfan und ich auf dem Wagen, ferner ein Hilfschauffeur ( « Soför » schreiben die Türken ), der den Wagen später nach Dogu Bayazit zurückzubringen hatte. Sonst niemand. Totenstille im ganzen Nest. Wir warten. Es rührt sich nichts. Wir warten. Es zeigt sich niemand. Wir schicken einen Boten aus. Vergeblich. Dogu Bayazit schläft. Endlich, gegen 6 Uhr, schleicht der Journalist um eine Ecke, mit grollenden Augen. Kleinlaut meldet er: « Der Kaimakan und die Offiziere lassen sich entschuldigen. » Lange GesichterWas tut man in einem solchen Falle? Abfahren! Wir schreien « Taman », das türkische « Vorwärts ». Der Motor springt an. Eben blitzen die ersten Sonnenstrahlen am Kleinen Ararat und mischen ihr fahles Licht mit einer unwillkommenen Morgenröte. Schweigende Fahrt über Erdpisten und Steppen-gesträuch. Nach 40 Minuten ein heftiger Ruck. Wir sind festgefahren im Geröll eines Bachbettes. Einige hundert Meter vor uns eine Staubwolke: unsere Transporttiere traben heran. Und was für Pferde! Was da kam, waren keine stolzen Reittiere, fünf Schindmähren waren es und ein Esel, dessen Knochen klapperten, ferner Piri, ein kurdischer Bauer, mit dem wir am Abend vorher in Dogu Bayazit verhandelt hatten, und seine beiden Söhne. O weh, nun müssen wir den langen Anmarsch zu Fuss machen, denn die dünnen Beine der Tiere zitterten bereits ob der ihnen zugemuteten Last. Reitpferde für uns fehlen. Da, mit einem Male, packen die Kurden einen nach dem anderen von uns. Sie heben uns wie Kartoffelsäcke hoch und setzen uns auf die schwer beladenen Pferderücken. Wie fühle ich mich als stolzen Reitersmann! Mitleid mit der Kreatur kämpft gegen eigene Bequemlichkeit. Die Pferde aber brechen nicht zusammen, und so reiten wir. Hans, der kleinste und leichteste von uns, setzt sich sogar in Trab. Emil reitet den Esel und stösst mit seinen Fussen gegen jeden Stein. Deren aber gibt 's viele. Wir reiten stundenlang, langsam, immer höher. Der Weg durch das Lavageröll gleicht einem Bachbett. Die Ebene sinkt zurück. Zwischen den schwarzen Geröllhügeln dehnen sich Steppenmatten von verschwenderischer Farbenpracht, mit Bergnelken, Margeriten ( Wucherblumen ), gelben und violetten Strohblumen ( Immortellen ), Wermut ( Artemisia ), mit Trockengräsern, kugeligen Stachelpolstern ( Astralagus ) und Disteln. Berberitzen wuchern im Gestein, und die zierlichen Halme des wilden Roggens wiegen und biegen sich im Winde.
Wie wir über eine flache Bergterrasse ziehen, sprengen überraschend drei mit Gewehren bewaffnete Soldaten hinter uns her. Es ist unsere Wehrmacht. Diese freilich besitzt Prachttiere, kleine, kräftige, langhaarige Bergpferde. Die Soldaten grüssen, galoppieren vorüber und sind verschwunden. Drei Minuten hatte der militärische Schutz gedauert. Langsam ziehen wir weiter. Langsam, sehr langsam rückt der hohe Berg näher. Es geht steiler bergan. Die Vegetation wird spärlicher. Unsere Pferde stolpern, sie wollen nicht mehr recht. Die Rossknechte sind mit ihren Stecken hinter uns her und hetzen und schreien unaufhörlich. Schliesslich klettern wir von unseren Gepäckstücken herab. Das Gehen zu Fuss ist weniger beschwerlich als das dauernde Antreiben der müden Tiere. Ein Pferd geht bereits lahm.
Nach fünf Stunden, gegen Mittag, erreichen wir einige kurdische Hirtenzelte. Ein alter bärtiger Bauer heisst uns freundlich willkommen und reicht jedem von uns einen Krug mit Ayran, einem erfrischenden Getränk, zusammengeschüttelt aus Joghurt, Wasser und etwas Salz. Die Kurden sind Indogermanen wie wir. Einer der Bauern am Ararat glich aufs Haar dem Urner Oberforstmeister. Ihre Frauen sind, im Gegensatz zu den untersetzten Türkinnen, gross und schlank. Oft von auffallender Schönheit. Ruhig, aufrechten Hauptes, in schweren, roten und gelben Gewändern, die Röcke lang bis auf die Knöchel, auf dem Kopfe schmucke, barettartig aufgesetzte gelbe Tücher, so schreiten sie mit ihren Kupferkrügen von der Bachquelle über braune Weide zu den Zelten. Oder sie waschen und fegen, spinnen und schmieden, während die Männer sich um die kräftigen rostfarbenen Rinder bemühen. Junge Mütter tragen ihre dunkelhaarigen struppigen Kleinen in Tüchern am Rücken, und fröhliche Kinder tummeln sich mit schwarzen Ziegen und zottigen, hellgrauen Hunden. Diese Beschützer von Hirt und Herde tragen Halsbänder mit scharfen eisernen Dornen zur Abwehr der Wölfe.
In bisherigen Schilderungen werden die Bergbauern des Ararathochlandes oft als Nomaden bezeichnet. Dies ist nicht richtig. Nomaden sind ständig und frei herumziehende Hirtenvölker. Hier aber handelt es sich um Saisonwanderungen wie bei den alpinen Bauern. Die Leute ziehen jeden Sommer von den Dörfern des Tales zu höher gelegenen Weideplätzen ( Halbnomaden oder Transhumants ). Nach der Schneeschmelze erfolgt der Alpaufzug. Ende Mai oder Anfang Juni wird eine untere, dann im Juli und August eine obere Staffel bezogen, die am Südhang des Ararat etwa 2800-3000 m hoch, somit mehr als 1000 m über der Ebene, liegt. Am tief gelegenen Nordostfuss des Berges, in der Arasebene, werden Gerste, Weizen, Mais, Obst und Wein angebaut. Schon der Vater Noah soll am Ausgang des Jakobstales seine Reben gepflegt und einen guten Tropfen sehr geschätzt haben. Bei Achuri bestanden vor der Katastrophe von 1840 weitverzweigte Wasserfuhren ( Bisses ), und auch im übrigen Ararathochlande trifft man da und dort künstliche Bewässerung. Es besteht somit in mancher Hinsicht grosse Ähnlichkeit mit der Walliser Bergbauemwirtschaft. Die Bauernhütten im Tale, in lockeren Haufendörfern vereinigt, sind einstöckige Steinbauten, oft mit kleinen Kuppeln auf den flachen Dächern. Äusserlich machen sie einen armseligen Eindruck. Ihr Inneres aber verrät da und dort eine gute alte Bauernkultur. Boden- und Wand-teppiche schmücken die Räume, von den Küchenschränken blitzt Kupfergeschirr. Starke dunkle Stütz- und Tragbalken, oft mit Schnitzereien, und die Holzkonstruktionen der Dach-kuppeln erwecken unsere Aufmerksamkeit. Woher solch schwere Balken, da ja das Land weit herum nackt, völlig ohne Bäume ist? Diese Balken bezeugen, dass das Ararathochland noch vor nicht sehr langer Zeit ein freundlicheres Gesicht gezeigt hatte. Lichte Buscheichen-bestände und Oasen mit Pappeln, Birken und Obstbäumen belebten die Landschaft. Weit herum im Orient hat die Blindheit des Menschen grünes Land in Wüste verwandelt.
In den Trockengebieten der mittelanatolischen Flachsteppen bilden Kleinviehzucht ( Fettschwanzschaf und Angoraziege ), Obst- und Gemüseanbau in Bewässerungsoasen und neuerdings mehr und mehr auch der Weizen die bäuerliche Lebensbasis. Im höher gelegenen und daher niederschlagsreicheren Gebirgsland der östlichen Türkei überwiegen Gras- und Weidewirtschaft mit Grossviehzucht. Das Heu als Winterfutter wird in riesigen Haufen im Freien gelagert. Wir befinden uns hier wohl an der geographischen Südgrenze der Heuproduktion. In Lagen unter 2000 m finden sich jedoch auch hier, somit nicht nur in der Arasebene, kleinere Gersten-, Roggen- und Weizenäcker. Ihre blockartige Streuung und das Nebeneinander von Ackerfeld, Brache, Heuwiese und Weide sind unverkennbare Anzeichen einer geregelten Wechselwirtschaft.
In mancher armseligen Bauernhütte arbeiten Frauen an primitiven hölzernen Webstühlen und wirken Teppiche ( Kelim ), oder sie flechten Schilfmatten. Letzteres ist besonders auch am Fusse des Ararat, im Umkreis der dortigen Seen und Sümpfe der Fall. Sennhütten, wie in den Alpen, fehlen. Sie sind durch Zelte ersetzt, was auf den flüchtigen Betrachter den Eindruck des Nomadentums machen mag. Die Zelte werden jeden Sommer an derselben Stelle errichtet, denn sie sind an die wenigen und sehr spärlichen Wasserstellen, am Ararat an die Gletscherbäche, gebunden. Ihr Unterbau besteht aus permanenten Trockenmäuerchen von 1-2 m Höhe, oder sie werden in Felsblocknischen gestellt. Einige hölzerne Stützen, grosse dunkelbraune Rosshaarblachen und an den Seiten aufgestellte Schilfmatten bilden das leicht transportierbare Baumaterial, selbstgewirkte bunte Wand- und Bodenteppiche aber die wohnliche innere Ausstattung. In einem Lande ohne Holz mag es leichter fallen, Blachen und Matten jeden Sommer zur Alp zu tragen, als Holzbalken und Schindeln für Dauerbedachungen weither zu schaffen. Überdies begünstigt die sommerliche Trockenheit solch leichte Bauweise. Die Zelte stehen in Gruppen von einigen wenigen bis zu zwei Dutzend beisammen. Die grössten dieser Zeltsommerdörfer finden sich in türkischen Karten eingetragen und benannt. Die Eingangsseite jedes Zeltes bleibt tagsüber in der Regel weit geöffnet. Zeltplatz und Zeltinneres sind peinlich aufgeräumt und von erstaunlicher Sauberkeit. Dies unterscheidet sie von den Alphütten wie von den « Camping places » unserer sonst so reingefegten Schweiz.
Die Erzeugnisse des kurdischen Sennereibetriebes sind Käse, Butter, Joghurt und Ayran. Frisch-kühler schneeweisser Joghurt wurde uns in Ziegenfellen dargeboten, dazu das türkische Bauernbrot in Form dünner Fladen. Essbestecke werden nicht benötigt. Wozu hat der Mensch fünf Finger an der Hand? Abgerissene Fetzen des Fladenbrotes werden zu kleinen Trichtern gedreht und damit der Joghurt zum Munde geschaufelt. Wir drei Schweizer, als wir solches taten, sahen aus wie Zirkusclowns.
In solcher Weise bemalt und überdies seelisch beglückt über das unvergleichliche Hirten-idyll wendeten wir unsere Kräfte von neuem dem Ararat zu. Etwa zwei Stunden mochten wir wieder marschiert sein, da kam es zu einem ersten Geplänkel zwischen den Kurden und den Eidgenossen. Unsere Pferdeknechte begannen nämlich kurzerhand ihre Tiere abzubasten. Es sei infolge des wüsten Steingerölles unmöglich, mit Pferden höher zu steigen. Das Lager müsse hier errichtet werden. Mein Aneroid aber zeigte eine Höhe von erst 3300 m. Besorgt blickten wir zum immer noch wölken verhüllten Berg. 1900 m Höhenunterschied bis zum Gipfel! Nein, das wäre zu viel. Wir würden am folgenden Tage den Wettlauf mit dem täglich sich bildenden Gipfelnebel verlieren. Wir müssen heute noch ein wackeres Stück höher. Schliesslich, nach langem Palaver, setzte sich unser Tross wieder in Bewegung. Und siehe da, es ging. Nach einer weiteren Stunde, in der Höhe von 3500 m, stand die Maschine endgültig still. Nun ging 's wirklich nicht mehr. Emil grollte. Er wäre am liebsten gleich noch am selben Abend den halben Berg hinaufgelaufen. Schwer beladene Schindmähren aber sind keine Gemsen, über uns nur noch Felsstufen und nacktes wackeliges Gerolle. Überdies war es 4 Uhr nachmittags. Bald standen unsere beiden orangefarbenen Zelte in der grauen Einöde. An meinem Zelte flatterte ganz klein das weisse Kreuz im roten Feld, und daneben hing, ganz gross und ebenfalls Weiss in Rot, der türkische Halbmond. Den hatte ich mir wohlweislich im Bazar zu Ankara gekauft. Unsere türkischen Begleiter, der gute Irfan und der Journalist mit dem Gorillakopf, waren begeistert. Und noch einer, der SoldatJawohlEin solcher war wieder da, einer der drei stolzen Reiter, die uns am Vormittag überholt hatten. Plötzlich stand er da, ohne Pferd freilich, doch mit Gewehr und Bajonett und in vollkommen militärischer Haltung. Sein Pflichtbewusstsein hatte ihn hergetrieben, während seine beiden Kameraden mit den drei Pferden längst den Rückmarsch angetreten hatten. Übrigens hatten sie es gut gemeint. Als sie uns am Morgen vorausgeeilt, war es in der Absicht geschehen, höher oben beim nächsten Zeltdorf ein frugales Mittagessen für uns bereitzustellen. Unsere Pferdeknechte hatten dann einen Die Alpen - 1956 - Les Alpes2 anderen Weg eingeschlagen, und so blieb den wackeren Kriegern nichts anderes übrig, als ihren Hammelbraten selber zu verschlingen.
Die Nacht ward kalt. Irfan und der Soldat fanden in meinem Zelte Platz. Der Journalist und unsere Pferdeknechte verkrochen sich, in Decken gehüllt, in irgendeinen Winkel. Die Pferde aber waren vor dem Einnachten auf eine tiefer gelegene Weide getrieben worden.
Um 2 Uhr in der Nacht brachen wir auf. Wir waren nur noch unser vier, nämlich Hans, Emil, Irfan und ich. Der Soldat hatte während unserer Abwesenheit die Zelte zu bewachen. Der Journalist aber fand, er sei nun gerade hoch genug, wo und wie es weiterginge, wisse er nicht, höher hinauf habe er es nie gebracht. So begannen wir zu steigen. Es war der 13. August, ein schlechtes Datum, und zwei Tage vor Vollmond. Die leicht angeschlagene Mondscheibe leuchtete uns durch das schwarze Gestein.
Unmittelbar westlich des höchsten Punktes hängt ein Gletscher in eine die Südflanke des Vulkankegels durchreissende Felsschlucht. Westlich dieser Schlucht baut sich der mächtig vortretende breite Südwestsporn des Berges auf. Er erreicht mit seinem zugespitzten oberen Ende in etwa 4900 m Höhe den Rand der Firnhaube. Wir stiegen durch ein kleines Gerölltälchen zwischen Gletscherschlucht und Südwestsporn hinauf, erreichten über wüste Blockhalden und kleine Schneeflecken schräg nach links hin eine Verflachung des Südwestsporns und klommen über eine hohe obere Blockstufe gerade empor zum Firn.
Dies klingt so einfach, und doch - welch ein Verschleiss an innerer Verbissenheit, an Flüchen, die aus Atemnot auf den Lippen ersterben. Ein 1400 m hoher Steilhang wäre nichts Aussergewöhnliches. Hier aber türmt sich Block über Block, glasglattes kantiges Gestein. Blöcke ohne Unterbruch, viele Stunden. Der Zeiger der Uhr läuft, derjenige des Aneroids aber scheint stillzustehen. Selten spricht einer ein Wort. Die Blockwand erscheint stets gleich hoch. Der Leser denke sich einen Steinkohlenhaufen von der Höhe eines Fabrik-schlotes steil aufgeschüttet und an dessen Halde vier hinauf krabbelnde Wesen in der Grösse von Bleisoldaten. Dies gibt die Proportion. Und bleiern sind tatsächlich unsere Glieder. Wir steigen langsam, aber stetig. Meine Gedanken wandern zum Viereselsgrat an der Dent Blanche, nicht der Schwierigkeiten wegen. Nein, der Ararat ist leicht. Der Name jenes berühmten Felsenkammes passt aber trotzdem auch hier. Hier wie dort vier Esel, die sich selbst kasteieten.
Langsam erwacht der Tag. Über uns aber steht immer noch die finstere Geröllwand. Wir rasten öfter, immer schwerer wird der Schritt, trotz der besseren Sicht. Irfan, der junge, starke Türke, ist bleich, er zittert, er kann nicht mehr. In Dogu Bayazit hatte er sich vergeblich bemüht, Bergschuhe zu entleihen. Wir hatten uns dann bewegen lassen, ihn trotzdem mitzunehmen, wenigstens bis an den Rand des Gletschers. Anfänglich stieg er leicht, wie in Kletterschuhen, dann aber begannen ihn seine Füsse zu schmerzen. Nun sieht sein Schuhwerk bedenklich aus. Er ist am Ende seiner Kraft und starrt verzweifelt in die Steine. Auch wir andern sind reichlich ausgepumpt. Der Araratgipfel ist umwölkt, schon seit morgens früh. Immer mehr greift seine Nebelkappe um sich. Ein eisig scharfer Wind stösst vom Gletscher herab. Die Sonne ist verhüllt. Was tun? Es ist 8 Uhr morgens. Wir sind 4600 m hoch. Bei gutem Wetter hätten wir zwei oder drei Stunden rasten, uns erholen und dann zum nicht mehr fernen Gipfel aufsteigen können. Die Hauptarbeit war ja bereits getan. So aber erscheint die Sache bedenklich. Wir dürfen den erschöpften Irfan nicht allein absteigen oder allzulange auf uns warten lassen. Der Firnhang über uns scheint zwar ohne Schwierigkeiten auf die Gletscherkappe zu führen, doch ist er, so weit wir sehen, zu beiden Seiten von Eiswülsten flankiert. Würden wir uns im Nebel und ohne Karten in der uns unbekannten Gipfelregion zurechtfinden und im Rückweg den Durchpass über den Firn- hang und in der Steinwüste Irfan wieder entdecken können? So müssen wir uns schweren Herzens geschlagen geben. An eine endgültige Niederlage will keiner glauben, andererseits aber graut uns vor dem Gedanken, durch die 1400 m hohe schwarze Blockhalde hinab, dann nochmals hinauf und wieder hinabsteigen zu müssen. Zunächst liegt uns viel daran, die Beschaffenheit des nahen Firnschnees zu erkunden. Wir lassen daher Irfan, eingepackt in alle verfügbaren Hüllen, in einem windgeschützten Felsloch auf uns warten, steigen eine Stunde bis zur Höhe von 4850 m, wo die letzten Geröllinseln unter dem Schnee verschwinden, und kehren nach kurzer Rast zu unserm türkischen Begleiter zurück. Gemeinsam machen wir uns an den Abstieg. Jeder brütet finster vor sich hin, wie einst Karl der Kühne von Burgund nach der Schlacht bei Murten.
Einige Stunden später treffen wir kleinlaut in unserem Zeltlager ein. Unsere Pferdeknechte aber scheinen gar nicht erstaunt. Sie mochten einen solchen Ausgang des Abenteuers erwartet haben. Der Journalist strahlt. Der grosse Tag seines Lebens ist gekommen. Jetzt wird er sich in die Weltpresse einschalten. Er rollt die Augen, sattelt sein Pferd - und schon ist er weg. Zwei Tage später wurde die Öffentlichkeit im fernen Europa durch die Meldung aufgeschreckt: « Schweizer im Nebel und Sturm am Berge Ararat stecken geblieben! » - Indessen krochen besagte Schweizer in ihre Schlafsäcke und liessen ausser lautem Schnarchen bis zum folgenden Morgen nichts mehr von sich hören. Einer soll es lebhaft bedauert haben, dass ihm des Nachts nicht auch, wie dereinst dem Mönche Jakob, ein Engel erschienen war, um ihn von weiterer Blockkletterei zu dispensieren.
Am folgenden Morgen kehrte auch der immer noch schwer angeschlagene Irfan nach Dogu Bayazit zurück, mit Briefen an meine Frau und an den Kaimakan. Wir aber hielten Kriegsrat. Selbstverständlich gehen wir doch auf den Ararat, hierüber waren wir uns alle einig. Nicht einig waren wir uns zunächst über das Wie. Ein Zelt und drei Schlafsäcke mussten höher hinaufgebracht werden. Das hatte uns der Misserfolg gelehrt. Wir müssen den Gipfel zu früher Morgenstunde erreichen können, um der alltäglichen Gipfelwolke zuvorzukommen. Schliesslich verhandelte Hans mit unsern drei kurdischen Pferdeknechten und bewog sie mit Geld und guten Worten, uns als Träger bis zu einem neuen höheren Lagerplatz zu begleiten. Unser Tagesziel war die oben erwähnte Verflachung in halber Höhe des Südwestspornes. Wiederum stiegen wir die Blockhänge hinauf, diesmal bei Tageslicht, jedoch mit schweren Rucksäcken. Wir waren etwa zweieinhalb Stunden unterwegs und wohl erst etwa 500 m gestiegen, schwarz hingen die Wolken über den Gletscherbrüchen. Da warfen die beiden jungen Träger ihre Bündel in die Steine und begannen, ohne ein Wort zu verlieren, den Berg hinabzulaufen, so als ob der Teufel hinter ihnen her wäre. Wir schrien ihnen nach, wir fluchten, wir beschworen sie. Half alles nichts, sie liefen nur um so toller, und bald waren sie unseren Blicken entschwunden. Der dritte aber, der alte Piri, hob seine Augen empor zu dem Berge und schwur, bei uns ausharren zu wollen bis in den Tod. « Nach diesem mit Zittern gemachten Vermerke fahren wir fort im löblichen Werke. » Wir teilten uns in die zusätzlichen Lasten und keuchten weiter über Stock und Stein, bis wir nach weiteren 300 m Steigung die Geröllverflachung erreicht hatten und nun auch unsererseits die Säcke in die Steine werfen konnten. Nach einigem Suchen fanden wir einen annehmbaren Lagerplatz im Schütze grosser schwarzer Blöcke. Der Ort lag überwältigend schön, 4300 m hoch, mit unermesslichem Blick über die tief zu unseren Fussen sich dehnende Ebene. Doch mussten wir in mühsamer Stemmarbeit kleinere Blöcke entfernen und den Platz so weit herrichten, dass das Zelt wenigstens halb ausgespreizt hingestellt werden konnte. Piri kehrte ins untere Lager zurück, nachdem er uns versprochen, am nächsten Morgen um 10 Uhr wieder beim Zelt einzutreffen. Wir richteten uns in unserem Adlerhorst so gut es ging wohnlich ein. Schwierig war in solcher Blockwüste vor allem die Wasserbeschaffung. Irgendwo unter dem Fels vernahmen wir das jedem Bergsteiger so vertraute Gurgeln und Glucksen. Hans kroch dem Geräusche nach Kopf voran in einen Schlund und löffelte mühsam Tropf um Tropf ans Tageslicht. Viele Löffel ergaben eine Tasse und einige Tassen endlich eine Flasche.
Es wird Abend. Der rotglühende Sonnenball nähert sich dem Horizonte, er übergiesst das Land mit Purpur. Die Kühle der Nacht löst den letzten Wolkenfetzen auf. Ein funkelnder Sternenhimmel wölbt sich über dem schwarzen Berge. Kein Laut dringt aus der Tiefe. Nur da und dort blitzen Lichter auf, Lagerfeuer der Hirten und die Laternen des 25 km entfernten Dogu Bayazit. Voller Zuversicht suchen wir unser Lager auf, Schlaf aber können wir nicht finden. Die erwartungsvolle Spannung ist zu stark, der Raum im zerdrückten Zelt zu eng. Ich liege bergseits, da wo ein riesiger Block die Zeltblache eindrückt, und ersticke fast in meinem Schlafsacke. Emil aber, an der Aussenkante unseres Adlerhorstes, träumt von gähnenden, 2600 m tiefen Abgründen. Schon um Mitternacht sind wir wieder munter, und um 3 Uhr brechen wir auf. Der Mond steht hoch am Himmel. Das also klappt, denn schon vor Monaten hatten wir uns dieses freundliche Nachtgestirn als Führer durch die Araratfinsternis verpflichtet. Wir schreiben den 15. August, Tag des Vollmondes. Zwar ist die oberste felsige Steilrampe auch heute kein Spass, doch sie liegt bereits hinter uns, als sich die Mondscheibe dem westlichen Horizonte nähert. In blauer Tiefe, 3000 m unter uns, schläft die Welt. Da geht im Osten die Sonne auf, für uns durch den nahen Gipfel verdeckt. Sie schiesst ihre Strahlen links und rechts am Ararat und an uns vorbei, weithin in die Ebene. Mit einem Schlage ist diese rosig überstrahlt. Der Berg aber scheidet das Licht. Riesengross wirft sich der Schattenkegel des hohen Vulkans über das Land und berührt mit seiner Spitze den kaum wahrnehmbaren, wohl 150 km entfernten Horizont. Sonne, Mond, Araratgipfel und wir sind aufeinander ausgerichtet. Nur wenige Minuten verharrt das seltene. Bild1. Die Lichtflut schwillt an, der Bergschatten reisst am Horizonte ab und schrumpft in sich zusammen. Eine halbe Stunde später stehen wir auf sonnenfunkeln-dem Firn. Wir ersteigen den Firnrücken über dem Südwestsporn und nähern uns rasch der gerundeten Gipfelkuppe. Der Gletscher erscheint hier spaltenlos, und der Schnee trägt gut. Über einen letzten, mässig steilen Hang erreichen wir von Norden her den höchsten Punkt. Es ist kurz vor 7 Uhr morgens. Kein Wölklein am tiefblauen Himmel, doch fegt von Norden her ein eisiger Wind. Das kleine Schweizerfähnchen flattert am Pickelstock. Wir aber stehen daneben als schlotternde Lemuren. Unsere Freude ist gross, die Rundsicht unbeschreiblich. Sie ist aber trotzdem mehrmals beschrieben worden. Emil Egli legte seine Gipfelgedanken in der « Neuen Zürcher Zeitung » ( 6.November 1954 ) nieder. Der Münchener Gletscherforscher Willy Rickmer-Rickmers, der den Ararat am 4. September 1894 erstiegen hatte, erging sich in ähnlichen Betrachtungen. Sie finden sich aufgezeichnet in der Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins ( Band XXVI, 1895 ). Egli, morgens früh auf dem Gipfel, war auf Dur gestimmt, Rickmers aber, müde und abgekämpft, nachmittags 2 Uhr, auf Moll. Einige kleine Bruchstücke dieser beiden Schilderungen seien im folgenden einander gegenübergestellt:
Emil Egli: « Unbeschreibliches Gefühl und Bild der Weite. » Willy Rickmer-Rickmers: « Wir hatten befriedigende Aussicht. War der Rundblick der Mühe wert? War ich erfreut? Nein, die Unzufriedenheit überwog. » 1 Ein vom Verfasser aufgenommenes Farbphoto des Araratschattens findet sich in Grossformat abgebildet in der Schweizerischen Monatsschrift « Du », Oktoberheft 1955.
Emil Egli: « In lautlosem Glanz liegt die Welt unter uns, als wäre darin das Spiel von Glück und Tod noch nicht eröffnet. » Willy Rickmer-Rickmers: « Welch ein Heer von traurigen Gedanken drängt sich dem Beschauer auf! Von seinen Fussen bis zum Horizont Sterben und Kränkeln, wüstes Land, in Staub versinkende Städte, Sklaven unter Tyrannenjoch und schuftige Räuber! Wahrlich, der Ararat ist ein ewiges Memento mori! Das ist kein warmes lebendiges Gemälde von Lebenslust und Lebens weh, es sind die Totenschädel am Strande der Vergessenheit! » Und die Moral von der Geschichte: Willst du den Ararat besteigen, so mache es nach rechter Bergsteigerart, brich in der Nacht auf und nicht erst, wenn dir die Sonne auf den Buckel brennt. So wirst du den Gipfel zu guter Zeit und bei guter Laune erreichen.
Nun, was tat ich indessen auf dem Gipfel? Ich tastete mit Topographenaugen den unermesslichen Horizont ab, wo weit im Norden, fein zisiliert, die Zackenkrone des Kaukasus sich zeigte, lenkte meine Blicke über das armenische Bergland hinüber zu den persischen Ebenen, zum fernen Gleissen des Urmiasees, und ich suchte über die Arasniederung hinweg in den grauen Dunst hinter dem « Eisernen Vorhang » einzudringen. Das alles war aus solcher Höhe gesehen so schön und friedlich, dass ich darob meine Teeflasche, die ich wie eine Känguruhmutter im Bauchsack meiner Windjacke auf den Berg geschleppt hatte, völlig vergass.
Schon nach einer Viertelstunde flüchteten wir uns vor dem eisigen Nordwind in den Firnsattel östlich des höchsten Punktes. Dort besorgte dann Hans, was ich zu tun versäumt: Er widmete sich intensiv hochalpinen trinktechnischen Studien. Emil und ich aber hackten uns über ein kleines Eiswändchen empor zum flachen Plateau des nahen Ostgipfels, um von dort einen besseren Einblick in die steile, hohe Nordostflanke des Berges zu gewinnen. Bald aber waren wir wieder am Hauptgipfel vereinigt und begannen etwa um 9 Uhr den Abstieg. Auf demselben Wege, der uns hinaufgeführt hatte, ging 's nun leicht und fröhlich der Tiefe zu. Vom oberen Ende des Südwestsporns bot sich nochmals ein herrlicher Blick zurück zum blendendweissen Gipfeldom, hinüber zum ebenmässigen Kegel des Kleinen Ararat, hinab auf all die zahlreichen Parasitärkrater und die schwarzen, weit in die Ebene vorstossenden Lavahügelzüge. Über der in Silberdunst getauchten Ebene von Dogu Bayazit türmten sich gewaltig einige Kumuluswolken, deren Kuppen vom Nordwind als riesige Fahnen nach Süden getrieben wurden. Der Ararat selbst aber blieb, im Gegensatz zu seiner Übeln Gewohnheit, an diesem Tage wolkenfrei. Er wusste, was er den Schweizern schuldig war.
Ein viertes und letztes Mal beschriften wir dann den Leidensweg durch die tausend miserablen Wackelblöcke.
Wie staunten wir, als wir bei unserem Adlerhorst nicht den alten Piri, sondern die beiden jungen Deserteure trafen. Kleinlaut und untertänig kamen sie geschlichen. Angst vor Kürzung der Moneten oder vor Bestrafung durch den Kaimakan hatte sie heraufgetrieben. Sie suchten uns gnädig zu stimmen und schleppten das rasch abgetakelte Zelt und unsere Schlafsäcke durchs Gerolle hinab. Kurz vor 1 Uhr mittags trafen wir im unteren Lager ein. Piri hatte bereits die Pferde von der Weide geholt. Nach längerer Rast wurde auch hier aufgepackt. Im Laufe des späteren Nachmittags erreichten wir ein in flacher Alpmulde 2800 m hoch gelegenes Kurdenzeltdorf. Es trug den einladenden Namen « Ineküsüfla », auf Schweizerdeutsch offenbar « Ine-go-süfle ». So errichteten wir dort unser letztes Lager am Ararat. Es war ein unvergesslicher Abend in Gemeinschaft von Mensch und Tier, auf freier Bergeshöhe, wo weder Post noch Telephon, weder Zeitung noch Radio den Frieden stören. Immer wieder wandten wir unsere Blicke empor zum Firnscheitel des grossen Berges.
Unser Einzug in Dogu Bayazit um die Mittagsstunde des 16. August gestaltete sich -im Gegensatz zum Auszug vor fünf Tagen - nun wirklich triumphal. Man hatte seinen himmelblauen Hanomag, mit dem er uns ein Stück weit entgegenfuhr, gefegt und poliert, dass alles nur so glänzte. Im Dorf standen die vierzig Räuber Spalier, und alle freuten sich mit uns. Der Posthalter, bei dem wir Siegestelegramme aufgaben, lud uns zum Tee, und der Koch im Hotel Spelunkia holte luftgetrocknete Kuhfladen vom Dach, fachte damit unter seinen Fleischtöpfen ein lustiges Feuer an, und bald waren Moslems und Christen beim frohen Mahle vereint. Nur einer fehlte: der Soldat. In strammer Haltung hatte er sich abgemeldet und war durchs Kasernentor marschiert.
Literatur Parrot, Friedrich: Reise zum Ararat. Berlin 1834.
Abich, H.: Nachrichten über eine geognostische Reise zum Ararat und insbesondere über die Verschüttung des Thales von Arguri im Jahre 1840. In: Monatsberichte über die Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Neue Folge. Bd. IV, Mai 1846/47.
Abich, H.: Die Besteigung des Ararat im Jahre 1845. St. Petersburg 1849. Beiträge zur Kenntnis des russischen Reiches. Bd. 13. Freshfield, D. W.: Travels in the Central Caucasus and Bashan including visits to Ararat and Tabreez and ascents of Kasbek and Elbruz. London 1869. Stuart, R.: The ascent of Mount Ararat in 1856. In: Proceedings of the Royal geographical society. London.
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Bd. XXII, 1877/78. Hofmann, H.: Der grosse Ararat und die Versuche zu seiner Besteigung. In: Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leipzig. Bd. 1884.
Diese grundlegende Monographie des Ararat und seiner Besteigungsgeschichte bis 1882 ist eine Übersetzung einer russischen Abhandlung von E.G. Weidenbaum in « Sapiski der kaukasischen Abt.
der kaiserl. russ. geogr. Gesellschaft in Tiflis. Bd. XIII, 1884 ». Rickmer-Rickmers, W.: Ararat. In: Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins. Bd. XXVI, 1895 ( Graz ). Ebeling, M.: Der Ararat. In: Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins. Bd. XXX, 1899 ( München ). Oswald, A.: Eine Besteigung des Ararat. In: Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs. Bern. Jahrgang XXXV, 1899/1900. Seelig, C: Die Besteigung des Ararat. In: Rickli, M.: Natur- und Kulturbilder aus den Kaukasusländern und Hocharmenien. Zürich 1914. Seylaz, L.: L' Ascension du Mont Ararat. In: Le Tour du Monde. Neue Folge. ( Paris. ) Bd. XVII, Nr. 34 vom 26. August 1911.
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