Der Heilige vom Berg
Von E. Jemelin
( Bern ) Der Wind wehte. Es war nicht jener Wind des Tieflandes, der die Pappeln durchschüttelt, weiche Wellen in die Kornfelder zeichnet und den Duft der Reife hierhin und dorthin trägt. Es war der Höhenwind, der Klaus und Thomas überfiel, als sie dem Zug entstiegen und den Pfad einschlugen, der anfangs noch an grünen Hängen dahinführt, um sich später durch karge Weiden und Geröllhalden emporzuwinden. Hier, in diesem verlassenen Hochtal, das in seiner grossartigen Stille wie eine Landschaft aus Urzeiten unter einem südlich blauen Himmel liegt, war dieser Wind daheim. Er war der Herr dieser Einsamkeiten, und sein Lied, dieser wilde, hochgemute Gesang, erzählte von ihnen.
Thomas und Klaus war der Weg bekannt. Wie der Wind in diesem abgeschiedenen Tal, waren ihre Herzen in den Bergen zu Hause und mussten immer wieder dem Rufe folgen, der von den Höhen kam. Eine gute Kameradschaft, auf vielen gemeinsamen Fahrten und in bestandenen Abenteuern erprobt und bewährt, verband sie und schenkte ihnen die Freude des Mit-einandererlebens. Sie wollten bis zur Berghütte aufsteigen, dort übernachten und anderntags dann über die Gletscher zu jenem Gipfel gelangen, der sich stolz über Tiefen und Grate emporreckt und die Aussicht freigibt auf eine Welt, die so fern scheint und entrückt, dass man meint, eine Rückkehr in sie sei ausgeschlossen.
Der Wind begleitete sie. Er kühlte ihre heissen Stirnen, spielte eine Zeitlang träumerisch in den Lärchenwipfeln, bis es schien, als sei er plötzlich aller Sanftheit müde und möchte nun ein wenig unbändig tun. Lachend liess er sich in eine Schlucht fallen, orgelte durch die Felsen, pfiff über die Grate und holte, schnell entschlossen und gänzlich unverhofft, ein paar runde, geballte Wolken hinter einem Bergkamm hervor.
Thomas und Klaus hatten gerastet und waren daran, ihre schweren Rucksäcke von neuem aufzupacken. Es sei vielleicht ratsam, die Gangart ein wenig zu beschleunigen, meinten sie, mit einem abschätzenden Blick zum Himmel, und dann hörte man wieder das Knirschen ihrer nägelbesetzten Schuhe auf dem steinigen Weg.
Noch bevor der Nachmittag sich neigte und langsam in den Abend überging, hatte sich der Landschaft Bild seltsam verändert. Der Himmel hatte sein blaues Auge zugetan, war farblos, kalt und abweisend geworden, und träge an den Bergflanken dahinziehende Nebelschwaden verschlangen letztes Licht. Tief unten gurgelten und rauschten aufgebrachte Wasser, aber der Wind war stärker und lauter als sie. Überall war er und nirgends, wie auf wild galoppierenden Rossen brauste er heran und sang Drohung und Sturm. Gleich kleinen, scharfen Nadeln spie er Kälte vor sich her und war, erst noch Freund und spielerischer Gefährte, zum erbosten Widersacher geworden.
Die beiden waren wacker ausgeschritten, aber die Hütte lag noch fern. Dichter und dichter, wie atembeklemmende Verwirrung, fiel der Nebel über sie her, hüllte sie ein und wischte alles weg, was erst noch nah und greifbar lebendig gewesen war. Nichts wie graue, undurchdringliche Watte war um sie und über ihnen, und, berggewohnt wie sie waren, erkannten sie sogleich die Gefahr. Bei diesem Wetter war es ausgeschlossen, weiterzugehen und Unterkunft zu suchen in der Klause oben am Grat. Hier standen sie, zwei graue Gestalten in einer grossen, trostlosen Einsamkeit, während der Sturm an ihren Kleidern zerrte und ihnen unbarmherzig die Wärme aus dem Körper stahl.
Da gewahrte Thomas, kaum einen Schritt vom Weg entfernt, die kleine Kapelle. Eng ans bergige Gestein gelehnt, schimmerte sie hell durch das Nebel-brauen, und Thomas sowohl wie Klaus waren im selben Augenblick vom gleichen Gedanken durchdrungen: Schutz zu suchen in dem winzigen Haus. Aber sie hatten in ihrer ersten Freude über die winkende Geborgenheit nicht an dessen Bewohner gedacht! Da stand er, der Heilige, angetan mit Krone, wallendem Gewand und Stab und schaute ernst und mit gesammeltem Blick vor sich hin. Weder ihre Anwesenheit noch das böse Schneetreiben, das nun einzusetzen begann, schienen ihm Eindruck zu machen. Er stand, gleich gottesfürchtig und milde, wie er all die Zeiten zuvor in dieser Verlassenheit ausgeharrt haben mochte, und hütete, versunken in Andacht und Gebet, sein Tal, die weiten Gletscher und den Berg. Mochten auch im Laufe der Jahre das Gold seiner Krone und die Farbe seines Mantels gelitten haben und blasser geworden sein, er war immer noch eine eindrucksvolle, ehrwürdige Gestalt. Den beiden müden Wanderern blieb keine Wahl; hier draussen Sturmgebrause, Kälte und Nacht. Einzig die kleine Kapelle des Heiligen bot ihnen Zuflucht und Unterschlupf. Und da der Raum kaum gross genug war für zwei, taten sie denn, wenn auch ungern, was nicht zu umgehen war: mit einer fast scheu gemurmelten Entschuldigung stellten sie den Heiligen vor das Kapellchen, gaben ihn dem schlimmen Wetter preis, um fröstelnd seinen Platz einzunehmen.
« Siehst du », sagten sie, und vielleicht lächelten sie ein ganz klein wenig dabei, denn wohlig empfanden sie das Geborgensein, welches er ihnen verschafft, « siehst du, es tut uns im Grunde genommen ja schrecklich leid. Aber da du ein Heiliger bist, wirst du unsere aus Not geborene Handlungsweise sicher verstehen, und wir sind überzeugt, dass der Sturm dir nicht einmal viel anhaben wird. » Und dann versuchten sie, einer in die Wärme des andern geschmiegt, zu schlafen, derweil der Wind sein gewaltiges Lied durch die Finsternis trug.
Am Morgen war der Himmel klar und kühl und von aller Unbill reingefegt. Streng gezeichnet vor seinem lichten Grunde reckte sich Gipfel an Gipfel, bereit, die Liebkosung erster Strahlen zu empfangen. Thomas und Klaus dehnten ihre verkrampften Glieder in der frischen Kühle des neuen Tages, und ihre Herzen waren kommenden Freuden aufgetan. Fast liebevoll begrüssten sie den Heiligen, der in dieser schlimmen Nacht als stiller Wächter ihren Schlummer behütet und weiter keinen Schaden genommen hatte. Auf seinen Schultern lag ein leichter Überwurf aus frischgefallenem Schnee, der é 368DER HEILIGE VOM BERG sich in der ersten Sonnenwärme rasch verflüchtigen würde. Mit ganz besonderer Sorgfalt und einer Empfindung, wie man sie einem treuen Freund entgegenbringt, stellte Thomas ihn zurück an seinen Platz. Und während die beiden zuversichtlich in den Morgen hineinwanderten, der Höhe zu, nahmen sie sich vor, dem Heiligen ihre Dankbarkeit dadurch zu beweisen, indem sie dafür sorgen wollten, dass seine Krone einen neuen Glanz und sein Gewand eine frische Farbe bekam. Dieses Versprechen haben sie dann später auch eingelöst und sind dem Heiligen vom Berge treu verbunden geblieben.
Nacherzählt aus dem Leben zweier bekannter Bergsteiger.