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Der Piz Julier oder Munteratsch

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C. Kaufmann ( Section St. Gallen. )

Der Piz Julier oder Munteratsch ( 3385 Meter. ) Von Zwischen den Bergreihen, welche links und rechts das oberste Innthal vom Maloja bis zur Mündung des Flazbaches umschliessen, besteht ein scharf in die Augen fallender Kontrast. Im Süden des Thales prangen die Hochgipfel der Berninagruppe im weissen Firn-und Eismantel, aus welchem da und dort dunkle Felsgrate und Klippen hervorblicken; die Gebirge der Nordseite dagegen wenden dem Thale finstere, trotzige Felsenstirnen zu, an denen nur hie und da ein Schneefeld oder ein kleiner Gletscher glänzt. Fast aus der Mitte dieser langen Reihe von Hörnern, Köpfen und Gräten tritt als kühnste. Berggestalt der Piz Julier hervor. Ein günstigerer Gesichtspunkt für diesen Berg, als ihn der Enderlin'sche Garten und auch das Hotel Roseg in Pontresina gewähren, lässt sich kaum finden. Rechts benimmt der Abhang des Piz Muraigl, nur Schulter und Kopf des Padella freilassend, jede weitere Aussicht, links hemmt der Wald des Kosatschabhanges und der Acla den Blick; aber zwischen beiden erhebt sich der Felskoloss des Julier doppelt gewaltig, in plumper Massigkeit einsam und schroff aus dem Suvrettathal aufsteigend. Seine braunen Wände grüssen selbst unter dem'vergoldenden Strahle der Mittagssonne ernst in 's Thal, und der Gletschergürtel, der wie in seine Seite eingehöhlt nach dem Piz Suvretta hinüberzieht und ihn nach Osten überhängend erscheinen lässt, verleiht dem Berge eine abweisende, fast feindselige, aber trotz alledem höchst interessante Physiognomie. Durch einen Felsgrat mit ihm verbunden ragt südöstlich von ihm, nur 285 m niedriger, sein unendlich viel kleiner scheinender Schildknappe, der Piz d' Albana, empor. Schon bei meinem ersten Aufenthalt in Pontresina, im Sommer 1875, wo sich mir zum ersten Male die grossartige Pracht der Hochgebirgswelt erschloss, zog der Gipfel meine Aufmerksamkeit auf sich. Auf meine Erkundigungen erfuhr ich, dass der Piz Julier fast noch so gut wie unbekannt und kein Führer vorhanden sei, der ihn schon bestiegen hätte. Allerdings sei es für einen gewandten Bergsteiger nicht unmöglich, bei Aufwand aller Kräfte den Gipfel zu erreichen; die Partie sei aber eine haarsträubende Kletterei und der losen Steine wegen ein höchst gewagtes Unternehmen. Da ich damals, trotz mehrerer gelungener Kletterpartien und Besteigungen ohne Führer, noch Neuling in den Bergen war, so wurde ich durch diese mir von verschiedenen Seiten gemachten Schilderungen veranlasst, vor der Hand von einer solchen Tour abzustehen und verliess das Engadin, ohne dem trotzigen Gesellen meinen Besuch gemacht zu haben.

10 Der Sommer 1877 führte mich wieder nach Pontresina, das ich in der ersten Zeit, um meinem durch lange Krankheit geschwächten Körper die nöthige Ruhe zu gönnen, fast gar nicht verliess. Nach und nach stellte sich aber mit der Kraft auch die Lust zum Bergsteigen wieder ein, und verschiedene Touren im Oberhalbstein und Bergell liessen mich meinem Hauptquartier immer häufiger den Rücken kehren. Dass sich mein Bergeifer statt des zunächst liegenden Berninagebietes lieber entlegenere Gegenden auswählte$ daran ist neben einer in Schnee und Regen ausgeführten Morteratschbesteigung und einer im Regen verunglückten Chapütschintour, welche mir diese Gegend etwas verlei- deten, hauptsächlich der Aerger über die fatalen Führerverhältnisse Pontresina's Schuld.

Es ist wohlbekannt, dass bis zu den Fünfzigerjahren die Berninagruppe ein fast unbekanntes Terrain war, bis durch die Herren Forstinspector Coaz ( welcher damals für die Dufourkarte in diesem Gebiete Aufnahmen machte ), Tuckett, Freshfield, Weilenmann, später durch Güssfeldt u. A. auch weitere Kreise auf dieselbe aufmerksam wurden, so dass sie heute zu den besuchtesten unserer Alpen zu zählen ist. Eine Reihe wackerer Männer — jetzt eine alte Garde — diente zu annehmbaren Preisen als Führer, und heute sind noch die Enderlin, Walther, Jenny und Flury geschätzte und gesuchte Rathgeber bei Bergbesteigungen. In den letzten Jahren ist nun Pontresina, der geeignetste Punkt für Besteigungen des Berninagebiets und günstig gelegen für Touren nach dem Bergell, Oberhalbstein, Puschlav etc., ein moderner Luftkurort mit enormem Fremdenandrang geworden und in Folge davon ist mit der Billigkeit des dortigen Aufenthaltes auch, nur in noch ungleich grösserem Maasse, die Reellität und Bescheidenheit des Führerwesens geschwunden. Gute, ja vortreffliche Führer, wie Hans und Christian Grass u. s. w., kann Pontresina heute noch aufweisen, doch bleiben sie gerne zwischen Corvatsch und Palü und haben für ihre Berge, auf die sie immer und immer führen, wo sie jeden Stein, jede Spalte, jedes Gletscherflohnest kennen, so exorbitante Taxen, dass einem weniger bemittelten Touristen die Möglichkeit grössere Touren auszuführen, benommen ist. So beträgt z.B. für die Porta Koseg, auf den Führertarifen nach dem ersten Ersteiger Güssfeldtsattel genannt * ), die Taxe Fr. 200, für den Piz Roseg Fr. 90, Bernina Fr. 80, Morteratsch Fr. 30, Julier Fr. 50 und für die verschiedenen Pässe fast ohne Ausnahme Fr. 50! Das Berninagebiet ist eben in die Mode gekommen. Die Nachfrage ist einstweilen stärker als das Angebot, und die Führer machen sich dies in einer Weise zu Nutze, die früher oder später zu einem Rückschlage führen muss. Als Gegensatz zu diesen exorbitanten Taxen will ich hier diejenigen der allerdings recht mässigen Walliser nennen, die von der Station Saas im Grund für den 4334 m hohen Nadelgrat und den Alphubel ( 4207 m ) Fr. 30, für den Allalin ( 4034 m ) und Weissmies ( 403 lm ) Fr. 25; für die Pässe nach dem 14 Stunden entfernten Zermatt: Weissthor ( 3612 m ), Adlerpass ( 3798 m ), Allalinpass ( 3570 m ), AlphubeljochAuf der Excursionskarte Fuorcla Tschierva-Scerscen.

A. d. K.

( 3802 m ) je Fr. 25 betragen. Von Zinal über das 3540 m hoch führende, nicht unschwierige Triftjoch zahlt man Fr. 30 und für den grossartigen Uebergang des Col Durand ( 3474 m ) nur Fr. 35. Eine weitere Beleuchtung der Pontresiner Führerlöhne, als durch diese sprechenden Zahlen, wird wohl überflüssig sein; ich kann daher nur Jedem seiner selbst und der Sache willen empfehlen, Touren im Berninagebiet mit fremden Führern zu machen. Unter den gezeichneten abnormen Verhältnissen ist es fast unbegreiflich, dass den Pont-resinern keine Concurrenz erwächst, dass weder von Castasegna an das ganze Bergell aufwärts, noch von Tiefenkastels durch das ganze Oberhalbstein, weder der Albulastrasse nach, noch das Innthal hinab, eine Anzahl besserer Führer sich zusammenfinden, die, wie die St. Niklauser in Zermatt, in Pontresina stationiren, wo sie die Lust zu übergrossen Taxen bald gezähmt haben würden und dabei noch ihr gutes Auskommen fänden.

Freilich müssten sie die Sache anders angreifen, als der 1877 in Silvaplana entstandene Führerverein, dessen Bureau im Hotel Riv'alta etablirt ist. Gegenüber der unverschämten Taxe von Fr. 50 der Pontresiner-und St. Morizercollegen für den Julier ist die der Silvaplaner nur Fr. 30 oder sogar nur Fr. 25; auch die Taxen für die ihnen vor der Nase liegenden Piz Surlej und Corvatsch haben sie um eine Kleinigkeit reduzirt; dass sie aber für Roseg, Bernina, Crast'aguzza, Palü, Disgrazia, Morteratsch etc. den bescheidenen Tarif ihrer Nachbarn belassen und nicht noch um die Hälfte gesteigert haben, ist, in Anbetracht des Umstandes, dass kein Mitglied ihres Führ er Vereins, wenigstens bis 1877, einen dieser Berge erstiegen, eine grosse Unklugheit: denn wie leicht könnte ein solches durch den Vorwitz eines Touristen in Verlegenheit kommen! Das Bestreben, Silvaplana zu einem auch von Clubisten stärker frequentirten Orte zu machen, hat diese taube Blüthe getrieben.

Doch genug von diesen wenig erquicklichen Dingen! wenden wir uns zu dem eigentlichen Gegenstande meines Referates, dem Piz Julier.

Als ich in der ersten Woche des August den Piz Platta bestieg und in Gesellschaft meiner beiden Genossen auf dem Hin- und Rückweg von Pontresina nach Molins in Silvaplana einen kürzern Aufenthalt hatte, ersuchte mich Herr Posthalter Müller, doch dem Julier einen Besuch abzustatten, da er grossen Werth darauf lege, dass Jemand vom S.A.C. den Berg besteige und über den jetzt in der Anlage begriffenen Weg auf denselben sein Urtheil abgebe. Mein eigener Wunsch traf zu sehr mit dieser Aufforderung überein, als dass ich derselben nicht entsprochen hatte, und nach drei Wochen, auf der Rückreise nach St. Gallen begriffen und gerade aus dem Bergell heraufkommend, traf ich am 26. August, Abends ziemlich spät, todmüde von mehrstündigem Tornisterschleppen bei brennender Hitze, im Hotel Riv'alta ein, liess einen Führer für den folgenden Tag kommen und besprach mich mit Herrn Hauser, dem Mitbesitzer des Hotels, über das Nähere der projektirten Tour. In Fortunat Methier, einem kräftigen Manne von echt italienischer Physiognomie, wurde ein Führer gefunden, der schon ein Mal, und zwar in diesem Jahre auf dem Julier gewesen; ein zweiter, älterer Mann, Namens Heinrich Felix, der die neuen sogenannten Wegarbeiten auf den Julier leitete oder beaufsichtigte und schon zwei oder drei Male auf dessen Spitze war, bat mich durch Herrn Hauser um die Erlaubniss, unserer Expedition sich anschliessen zu dürfen. Herr Hauser nahm meiner Müdigkeit die Sorge um Proviant ab, und die beiden Männer wurden auf 6 Uhr des nächsten Morgens bestellt.

Da der Anstieg zum Julier von der Südseite des Berges, von der bis Bivio in westlicher Richtung sich ziehenden Julierstrasse aus begonnen werden muss, so liess es Herr Müller sich nicht nehmen, mir auf die nur eine Stunde entfernte Strecke einen Einspänner zur Verfügung zu stellen, der mich, wenn auch nicht rascher, als es meine Füsse gethan hätten, so doch bequemer bis zum Anstiegspunkt, dem sogenannten Tiroler brachte — einer Stelle wo vor mehreren Jahren ein südtirolischer Arbeiter erfroren gefunden wurde.Von hier aus, in der zwischen Piz d' Albana und dem von der Julieralp schroff der Spitze des Munteratsch sich zuziehenden Felsrücken gelegenen Mulde, aus der zwei Bächlein sich lustig der Ova del Vallun zustürzen, rückten wir in direct nördlicher Richtung dem Felskolosse zu Leibe. Wenn man seine schroffen Wände, seine steilabfallenden, unzugänglich scheinenden Seiten, seine jähen an lothrecht aufgebaute Felsen gelehnten Geröllfelder in 's Auge fasst, so darf man an der Be-zwinglichkeit dieses Berges von dieser Seite aus schon zweifeln und trotzdem ist er von hieraus am leichtesten zu nehmen.

Die mir bekannte alpine Literatur weiss wenig über den Piz Julier oder Munteratsch zu sagen, und in allen bisher erschienenen Bänden unseres Jahrbuches ist auch nicht eine einzige Notiz über ihn zu finden. Dagegen berichtet Studer in « Ueber Eis und Schnee », dass schon im Jahre 1857 von den Herren Landammann Saratz in Pontresina, Dr. Brügger und Argiolo Klein-jotti ein vergeblicher Versuch gemacht wurde, den noch unerstiegenen Piz Julier mit einem Signal zu krönen, und dass zwei Jahre später, am 12. Juli 1859, Herr Saratz, von seinem Jagdfreunde J. Rüedi begleitet, den Versuch wiederholte und den Gipfel glücklich, wenn auch mit Ueberwindung grosser Schwierigkeiten, erreichte. ( Vergi, die ausführliche Schilderung beider Fahrten in « Ueber Eis und Schnee », III, pag. 100-102. ) In Tschudi's letztjähriger Ausgabe seines « Tourist » heisst es nur: « sehr schwierige, noch selten ausgeführte Besteigung. Imposante Aussicht ».

Der Piz Julier bildet mit seinem in südöstlicher Richtung durch einen Grat mit ihm verbundenen Nachbarn Piz d' Albana den äussersten Ausläufer der zwischen der Julier- und Albulastrasse gelegenen Kette der Ober- " halbsteinerberge und ist, nach dem nur 8 m höheren Piz d' Err, deren höchster Punkt. Er ist im Nordwesten durch den vom Suvrettathale nach der Julierstrasse führenden Suvrettapass mit dem Piz Suvretta ( 3074 m ) verbunden, gerade wie er im Südosten mit dem P. d' Albana vereinigt ist; aber so eingezwängt er nach diesen beiden Richtungen durch zwei weit unbedeutendere Nachbarn scheint, so selbstständig und dominirend erhebt er sich nach Osten aus den Thalwänden des sich von Campfèr nach dem Beversthal hinziehenden Val Suvretta und so steil in seiner schroffen Wildheit zeigt er nach Westen und Südwesten seine nach der Julierstrasse fast senkrecht abfallenden Felsmauern.

Eine Stunde nach unserem Aufbruche, um 7 Uhr 30 Min., also zu ziemlich vorgeschrittener Zeit, stiegen wir vom Tiroler aufwärts unserem Ziele zu. Ein kaum erkennbares Pfädlein verfolgend, welches sich in steilem Zickzack durch verkrüppeltes Wachholdergestrüppe und niederes Alpenrosengesträuch zog, eilten wir in langen Schritten die Schafalp, einen mit spärlichem Grase bewachsenen, an die Wand des Julier sich lehnenden Hügelrücken, zu erreichen. Immer hat man den kahlen Absturz des Julier und die braunen Felsen des P. d' Albana vor Augen und der von dieser trostlosen Einförmigkeit ermüdete Blick findet keinen Ruhepunkt, keine Stelle, die ihm Erholung bieten könnte. Oede und fast abschreckend sieht der zwischen den beiden Bergen gebildete Kessel aus, und vergebens sucht man an der jähen Wand nach einer Stelle, von der aus die Besteigung ermöglicht werden könnte.

Nach einer Stande, 8 Uhr 30 Min., gelangten wir auf den Schaf b öden, wo wir einen kurzen Halt machten, weniger aus Müdigkeit, als um ein wenig Umschau nach Süden und Südosten zu halten. Welche Erquickung für 's Auge, aus dieser Steinwüste herauszutreten und sich an dem herrlichen Anblick des gleich einem Riesen-smaragd aus der Tiefe grüssenden See von Silvaplana zu laben! Umsäumt von schwarzen Tannen, die sich in langen Schatten in seinen Wassern spiegeln, bewacht durch die dunkeln Wände des Corvatsch, von denen wie flüssiges Silber glänzende Wasserstrahlen thalab eilten, lag der See zu unseren Füssen; hoch über ihm ein sonnenbeleuchteter Gletscher, ein heiterer tiefblauer Himmel, und über Allem eine paradiesische Ruhe ausgegossen, jene keusche, unberührte Stille der Mutter Natur, die nichts bietet als sich selbst, ein Bild, das sich nicht schildern lässt, denn es ist über alle Worte erhaben. Uns gerade gegenüber steigt der 3017 m hohe Polaschin in der kühnen Form eines spitzen Kegels in die Lüfte; an seine westliche Flanke gelehnt, ist zwischen dieser und der Felsfestung der Crutscharöls der blendende Gletscher des stattlichen Lagrev tiefeinge-bettet. Mehr erblicken wir von hier aus nicht; ein Theil der Julierstrasse, eine weisse Riesenschlange, ist erkennbar, und hie und da vernimmt man Peitschenknallen. Während wir selbdritt der ersten Flasche edlen Veltliners den Garaus machen, können wir durch das Fernrohr eine Gesellschaft Murmelthiere beobachten, die sich durch ihr Pfeifen verriethen und, weil in grosser Entfernung von uns, in sorgloser Sicherheit ein hübsches Bild heiteren Familienlebens boten. Das war ein Kosen, ein Purzeln, ein Springen, wie es übermüthiger eine Rotte wilder Kinder nicht treiben könnten; hie und da setzte sich ein Glied dieser lustigen Vierbeiner aufrecht, zog Witterung ein oder hielt Umschau, um sich dann mit vermehrtem Eifer der häuslichen Fröhlichkeit zu widmen. Plötzlich ertönte ein greller Pfiff und das Schauspiel war aus.

Nachdem wir eine Viertelstunde geruht, setzten wir uns wieder in Bewegung und schritten in gerader Richtung dem Absturz der Julierwand zu, da wo sie gegen den von der Alp der Spitze sich zuziehenden Rücken einen Einschnitt zeigt, welcher mit einer mächtigen Schutthalde ausgefüllt ist. Oben am höchsten Ende derselben sehen wir drei Wegarbeiter, deren Fuss hie und da einen Stein zum Rollen bringt, der dann eine kleine Lawine in diesem lebendigen Boden verursacht. Wie alle Geröllhalden, so ist auch diese eine Geduldprobe. Doch stehen wir bald bei den drei italienischen Arbeitern, die mit ernster Sorgfalt einen hübschen Zickzackweg in dem Gerolle anlegen. Ich traute Angesichts solcher Einfalt meinen Augen kaum; in einem Terrain, das unter normalen Witterungsverhältnissen von Zeit zu Zeit seine Physiognomie ändert, bei raschem Temperaturwechsel aber oder bei starkem Regen oder Schneeschmelze unbedingt in 's Rutschen kommen muss und faktisch lebendig wird, einen vielleicht nur eine Woche lang existirenden Pfad anzulegen ist ein fast unglaubliches Versehen! Unser älterer Begleiter, Heinrich Felix, forderte einen Arbeiter auf, uns zu begleiten, um eventuelle Anordnungen über noch zu machende Arbeiten zu empfangen.

Ein wenig rechts von dem Gerolle abschwenkend standen wir an den nackten, schroffen Felsen. An das Seil mich binden zu lassen, lehnte ich ab, weil ich mich vollkommen sicher fühlte und bei Klettereien an jähem Gesteine das um jede Kante sich schlingende, immer verwirrte und verwirrende Sicherheitsmittel unpraktisch finde. Auf schmalem Felsbande gingen wir zuerst ostwärts, passirten eine vorsichtig zu begehende Stelle, an welcher, da eine überhängende Steinplatte den Pass früher derart versperrte, dass man ihn nur auf dem Bauche kriechend überwinden konnte, Sprengungen vorgenommen waren, und erreichten alsdann, an einem " Steinmannli vorüberkommend, eine von unten nicht sichtbare sanft geneigte Felsenfläche, deren oberer Theil mit festem Schnee bedeckt ist. Im Frühjahr und frühen Sommer sei hier alles derart mit Schnee ausgefüllt, dass man von der Schafalp direct bis hieher gelangen könne. In nördlicher Kichtung, welche von nun an grösstenteils beibehalten wurde, rückten wir nun dem steilen Theil der Partie zu, indem wir an den kurzen Absätzen einer fast senkrechten Wand Stütze für Hand und Fuss suchten und die fast vergessenen Künste aus der jugendlichen Turnerzeit in Anwendung bringen mussten, um rasch und sicher die Höhe zu erreichen. Jede gebotene Handreichung meiner beiden Begleiter wies ich als überflüssig und zeitraubend zurück und je mehr wir in 's Klettern kamen, um so angeregter fühlte ich mich. So wurde es 10 Uhr, bis wir einen Absturz, von mir hier, in Ermanglung einer anderen Benennung, die untere Wand bezeichnet, erreichten, an dessen Fusse wir eine halbe Stunde lagerten, um Athem zu schöpfen und uns zu erquicken. Während " wir hier sassen, erzählte mir Methier verschiedene Episoden aus seinem Jägerleben, unter Anderem auch, dass er vor zwei Jahren an dem Westabhange des Polaschin einem Gemsbock einen Vörderlauf vollständig weggeschossen, worauf das Thier noch über den unteren Lagrevgletscher in fabelhafter Schnelligkeit geflüchtet, das Julierthal durcheilt und sich alsdann noch in den Felsen zwischen Piz d' Albana und Julier verloren habe. Seit das Gebiet des Kosatsch, Surlej und Arlas ein Schutzboden für die Gemsen geworden, hätten dieselben diesseits des Inn abgenommen. Diese Thatsache ist unleugbar. Während ich vor 2 Jahren bei meinem Herumklettern im jetzigen Schutzterrain selten eine Gemse erblicken konnte, hatte ich dieses Jahr an der Fuorcla di Surlej Gelegenheit, ein nach der Höhe jagendes Rudel von circa 20 Exemplaren zu beobachten, die grösste Zahl die ich je beisammen sah. Doch vorwärts, wollen wir nicht zu spät werden! Um 10 Uhr 30 Min. begannen wir die Wand in Angriff zu nehmen, womit die Hauptkletterei und der schwierigere Theil der Arbeit begann. Kurze, scharfe Vorsprünge im Felsen, schmale, weit von einander stehende Bänder mussten vorsichtig ergriffen werden; ruhig und fest auftretend, rückten wir vorwärts. Wir thaten dies unabhängig von einander und mit einer gewissen Schnelligkeit, so dass wir in wenigen Minuten eine schmale Terasse erreichten, während der ältere Felix, der mit einer langen Stange, welche auf der Spitze des Julier mit der eigenössischen Fahne geziert aufgepflanzt werden sollte, beschwert war, uns nur langsam zu folgen vermochte.Von dieser Terasse aus wurde das Steigen, wenn auch noch immer anstrengend, etwas leichter und wir gelangten bald an einen nach Nordosten sich ziehenden Absturz, an welchen sich in gleicher Richtung eine riesige Spalte anschloss, zu deren beiden Seiten sich gewaltige Mauern auf thürmten. Diese, von den Führern mit Unrecht « Kamin » genannte Spalte hat eine Breite von 6 bis 8 Fuss. Sie ist mit Schnee gefüllt und zeigt ziemliche Steigung; gerade vor uns durch das Ende der Spalte verliert sich der Blick im Aether. Wir befinden uns etwas links, d.h. westlich von der Spitze, welche hier durch einen mächtigen Riss von dem westlich der Schafalp sich nach oben ziehenden Felsrücken getrennt wird; die äusserste und höchste Erhebung desselben ist nicht viel niedriger als der Julier und kann zu dessen Spitzen gezählt werden. Etwas scheu betreten wir den Schnee der Spalte, denn Steine von allen Dimensionen, die zwischen einem Durchmesser von einem Zoll bis 1V2 Fuss variiren, liegen leicht angefroren und zum Theil auch ganz lose auf der Oberfläche und zwingen uns zur Vorsicht. Wir gingen möglichst nahe hintereinander, damit der Vordere nicht die Anderen durch Lösen eines Steines in Gefahr bringe, und bewegten uns hart der linken Wand nach, wo der harte und glatte Schnee, mit Schmutz und winzigen Steinchen bedeckt, leichter begehbar war, ziemlich mühsam aufwärts. Ungefähr in der Mitte der Spalte wurde es so steil, dass wir traversirend Stufen hauen mussten; doch je weiter wir kamen, um so mehr verbreiterte sich der Engpass und desto rascher kamen wir vorwärts. Wir hatten 20 Minuten gebraucht, um die Höhe der Spalte zu erreichen, die sich von da zuerst steil abfallend, dann in massiger Senkung der östlichen Wand des Berges nach hinabzog — wie weit, konnte ich jedoch nicht ermitteln. Der Arbeiter, ein gelenkiger, verwegen aussehender Bursche, wurde wieder zu seinen Kameraden zurückgeschickt und wir wandten uns nun nach'rechts, in südlicher Richtung an einem Steinmannli vorüber, einem steilen, aber breiten Felsbande zu, das an seinen unbequemeren Stellen durch stufenartig aufeinander Wir geschichtete Steine leichter begehbar gemacht wurde-Jetzt nahe der Spitze, kletterten wir mit vermehrter Behendigkeit und standen in einer Viertelstunde an einer nach der Schafalp unmittelbar abfallenden Ecke, wo wir vor uns den Piz d' Albana und jenseits der Julierstrasse, bedeutend zusammengeschrumpft, den Piz Polaschin sahen. Hier fand ich eine durch Abprall an dem Gesteine zerquetschte Spitzkugel, die wohl zwecklos von dem nahen Felsrücken herübergesandt wurde. Hätte sie ihr Ziel erreicht, so würde ein fast 800 m tiefer Fall das getroffene Opfer zu einer formlosen Masse zerschmettert haben. An dem letzten Steinmannli vorüber, links von demselben uns nach Norden wendend,, betraten wir einen sanft sich in die Höhe ziehenden Grat und kamen punkt 12 Uhr, nachdem wir vom Tiroler aus 4 Stunden 30 Minuten scharf geklettert,, an das Ende desselben — auf die ersehnte Spitze des-Julier.

Brennender Durst klebte uns die Zunge an den Gaumen, denn von der Julierstrasse an war auch nicht ein Tropfen Wassers auf unserer Route zu finden, und mit fieberhafter Hast wurde eine Flasche entkorkt und geleert. Erst jetzt war man in der Verfassung, die-nächste Umgebung zu betrachten. Die eigentliche Spitze bietet für ein Dutzend Personen bequem Platz und war von den Arbeitern von umherliegenden Steinen gesäubert und mit diesen hübsch umkränzt worden. Rings umher bedeckten Felstrümmer den von der Sohle bis zum Gipfel unwirthlichen Berg. Gegen Südost, gegen den von Herrn Saratz vergeblich betretenen Grat, wie gegen Nord, dem P. Suvretta zu, senkt sich der Julier allmälig als zerrissene Längenfläche; gegen Osten und Westen dagegen fällt er jäh ab und macht oben auf der Spitze wie unten im Thale den Eindruck einer Riesenmauer.

Wenn man den Julier von der 1300 m unter ihm sich ziehenden Strasse sieht, so muss man es für unmöglich halten, einen Weg auf denselben, selbst mit den ausserordentlichsten Mitteln, anlegen zu können. Aber trotz aller Schwierigkeiten, die hier zu überwinden sind, wurde auf Veranlassung und durch die Opferwilligkeit der Besitzer des Hotel Riv'alta in Silvaplana, die für diesen Zweck einige hundert Franken steuerten und sammelten, die Sache in Angriff genommen und war bei meiner Anwesenheit zum grössten Theil schon, wie ich glaube, ausgeführt. Der Zweck dieses Unternehmens ist, den eine imposante Fernsicht bietenden, gefürchteten Piz Julier weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Wenn ich mich nun offen aussprechen soll, so glaube ich mit Recht behaupten zu können, dass dieser Zweck nicht erreicht ist und dass er überhaupt nicht erreicht werden kann. Die Spitze des Berges erhebt sich über den obersten Theil, das Ende des Schafbodens, vielleicht circa 700 m in ungemeiner Schroffheit, und nur mit Benützung der kleinsten Vorsprünge in den Felsen und anderer nicht für den grösseren Touristenkreis brauchbarer, von der Natur gebotener Handhaben kann man dieselbe erreichen. Ferner muss der Besteiger unbedingt schwindelfrei und auch — eine ebene Stelle zur Erholung der Beine bei dem immerwährendem Steigen und Klettern ist gar nicht vorhanden — durchaus kniefest sein. Von den mir bekannten Bergen der Nach- te« barschaft sind Ot, Languard, Surlej bedeutend leichter, Corvatsch, Tschierva und Morteratsch ebenfalls weniger schwierig zu nehmen, und die letztgenannten consumiren jedenfalls die Leistungsfähigkeit des weiteren Touristen-kreises. Wer mehr zu leisten im Stande ist — und diese Classe ist nicht sehr zahlreich — braucht jene kleinen Hilfsmittel, die durch Wegräumen einiger unbequem liegender Steine, durch Aufeinanderschichten derselben an geeigneten Orten geboten werden, nicht. Das grosse Publicum aber, für welches sie berechnet sind, benützt dieselben gar nicht, denn es lässt den Julier ruhig bei Seite.

Geübteren Bergsteigern bietet diese hochinteressante und charaktervolle Tour keine Schwierigkeiten, denn das Gestein ist solid und sicher und Ausserordentliches ist nicht zu überwinden; es sind keine Sprünge zu wagen und keine Lawinen zu befürchten, wenn nicht gerade einmal eines der zahlreichen Steinmannli, die ebensoviele Ausrufungszeichen hinter der Leistungsfähigkeit der Silvaplaner Führer sind, zusammenfällt und in die Tiefe stürzt. Jedem, der ein offenes Auge, sichere Hand und Fuss hat, kann ich diesen pfadgeschmückten Berg empfehlen, denn der Ausblick von der Spitze ist überwältigend grossartig.

Aus grauenhafter Tiefe, 1100 m unter uns, grüsst das langgezogene, schmale Suvrettathal; mit seinen grünen Matten und seinem saphirblauen See, den spielende Nebel hie und da neckisch verschleiern. Ueber dem weidebedeckten Piz Nair streift unser Blick die Schneeflanke des Saluver, erfreut sich an der kecken Spitze des Piz Ot, um über dem gezackten Kamme des Albula an der hehren Pyramide des Piz Kesch auszusuchen. In klarer Zeichnung liegt die Silvrettagruppe vor uns, mit dem stolzen Linard, dem Grosslitzner, den beiden Buin, dem Schwarzhorn, während das kühne Fluchthorn als stattlicher Vorposten aus dem Jamthale herüberschaut und seinen Nachbar, die Muttierspitze, mit seiner wuchtigen Erscheinung fast erdrückt. Die inneren Tiroler Berge waren leider von Dunst überzogen, so dass die Grossartigkeit der Ortleskette nur in ihren Contouren ersichtlich war. Dagegen lag der benachbarte Berninastock in seiner ganzen Ausdehnung greifbar nahe und klar in südöstlicher Richtung vor uns, als ein grosses, mit kühnen Schneespitzen und gewaltigen Felspyramiden ausgestattetes Gletscherfeld. An dem hübschen, aussichtsreichen Surlej, dem breiten Schneerücken des Corvatsch, an der gelblich schimmernden Schneekuppe des mir so ungünstig gewesenen Chapütschin, an den beiden Buckeln der Sella und an den drei glänzenden Spitzen des eleganten Roseg müsste sich das blasirteste Menschenkind noch erfreuen können. Als die gewaltigste Insel in diesem weissen Gletschermeere erhebt sich der mächtige Piz Bernina, südöstlich vom stattlichen Piz Zupò, nördlich von dem prächtig gewachsenen Piz Morteratsch flankirt; vor diesem streckt über den Misaungletscher der Tschierva seine bläulich-schwarze, dreieckig geformte Nordwand in die Lüfte. Piz Palü, Verona, Cambrena, der schroffe Rücken der Crast'agüzza und der zierliche Munt Pers ragen über den Morteratschgletscher mit ihren imposanten Formen in die Höhe, und im weiten Umkreis vom Piz Cotschen bis zu den Häuptern des Thales bei Bormio wären 11 noch so manche Grössen zu nennen! Im Hintergrund des Fexthaies erhebt sich der stattliche Piz Tremoggia, am Ende des Fedozthales, über dem Fedozgletscher, der Piz Güz. Direct südlich, ein strahlender Silberstrom, in seiner ganzen namhaften Länge übersehbar, tief gebettet zwischen den dunkeln Wänden des Bacone, Casnile und Cantone, welche ihn vom Albignagletscher trennen, zwischen der Cima del Castello, dem Torrone und dem bedeutenden Monte Sissone, die ihn nach Süden eindämmen, unter den schneebedeckten Bergriesen Monte Forno, Monte Rosso und Cima di Rosso, zieht sich der herrlich geformte, so wenig bekannte und so ausserordentlich kennenswerthe Fornogletscher dem Monte della Disgrazia zu, welcher scharf von dem tiefblauen Himmel sich abhebend, in kühnen Umrissen unter den glühenden Strahlen der Sonne fernhin glänzend, einen Anblick von solcher Anziehungskraft bietet, dass sich das Auge kaum von ihm losreissen kann. In weiter Ferne zeigen Monte Rosa und die Mischabelgruppe ihre riesigen Massen; zwischen diesen erblickt man ihre gletscherentwachsenden Nachbarn des Eifischthales und desjenigen von Evolena. Ueber dem spitzen Polaschin gewahren wir den Piz della Duana, ferner den Piz Piott; gegen West ist der vor zwei Wochen von mir bestiegene prächtige Piz Piatta, mit dem seiner Spitze sich zuziehenden Gletscherbande, und der zuckerhutähnliche Piz Forbisch sichtbar, und über diese hinaus präsentirt sich die massige, enggeschlossene Rheinwaldhorngruppe, aus welcher besonders das Güferhorn imponirend in die Ferne wirkt. Gerade wie bei meiner Anwesenheit auf dem Piatta, so waren auch vom Julier aus sowohl die Berner-, wie die Maderaner- und Glarnerberge zum Theil gar nicht, zum Theil von Nebel und Wolken verhüllt nur halb sichtbar, wodurch eine namhafte Lücke in dem Rundblicke verursacht wurde; mit den Oberhalbsteinerbergen, den Geschwistern des Julier, die als Piz Suvretta, Cima da Flix, Piz d' Err, Piz d' Aela, Piz St. Michel und Tinzenhorn in anstossender Folge im Norden eine stattliche Reihe stolzer Häupter bilden, schliesst die Rundsicht würdig und grossartig ab.

Wie « still und bewegt » fühlt man sich auf einsamer, nicht Jedem zugänglicher Höhe, Angesichts der grossartigsten Schönheiten, versunken im Anblick der gewaltigsten Gebilde der Natur, fern dem eklen Treiben des Thales, seiner dumpfen Luft, seinem lästigen Staube! Wie klein ist man gegenüber den riesigen Dimensionen der Umgebung! wie gross kommt man sich vor gegenüber dem viele Tausend Fuss unter uns sich abmühenden Lili-putergeschlechte! Ihr weissen Häuser von St. Moritz und Pontresina, die ihr so ruhig unter der Mittagssonne liegt, du blauer See unter den schwarzen Tannen des Rosatsch, der du wie schlummernd, von keinem Lüftchen bewegt, tief unter mir ruhst, wie wenig seht ihr vom Menschengetriebe umfluthete Stätten in Wirklichkeit dem einfach-friedlichen Bilde gleich, das ihr mir hier oben bietet!

Ganz dem Genüsse der grossartigen Rundsicht mich hingebend, vergass ich mich und meine Genossen, bis dieselben mich daran errinnerten, auch dem Magen sein Recht zu Theil werden zu lassen. Leider war der Proviant vom Wirthe der Riv'alta sehr kärglich zugemessen worden. Wir fügten uns, so gut es eben ging, in 's Unvermeidliche, theilten unser Bischen Essen und beschäftigten uns dann damit, mit der Fahne ein stattliches Steinmannli zu schmücken. Nach dieser Arbeit untersuchten wir den Inhalt einer in demselben aufbewahrten Flasche und lasen die Notiz der Besteigung zweier Herren aus Samaden, ferner eines Deutschen, und ergötzten uns noch an der jammervollen Notiz eines Herrn aus Mitteldeutschland, welcher unter furchtbaren Anstrengungen diesen gefährlichen Berg erklommen. Felix, der sein Führer gewesen war, sagte mir erläuternd, dass der Held dieser gefahrvollen Tour schon oberhalb der Spalte liegen geblieben sei und von da von ihm und dem zweiten Führer am Seile förmlich nach der Spitze gezogen wurde. Man habe zur Erreichung des Gipfels nicht weniger als 8 Stunden gebraucht!

Von dem Gletscher, der von St. Moritz und Pontresina aus gesehen einen so bedeutenden Eindruck macht, ist nur der obere an den Suvretta anstossende Theil, sowie fast die ganze Länge seiner östlichen Hälfte von der Spitze aus zu sehen. Ich liess mich nun an das Seil binden und festhalten, wagte mich auf den unsicheren Steinen so weit hinaus, als es nur möglich war und erblickte unter mir in ihrer ganzen Ausdehnung die blendend weisse Fläche — steil über sich die dunkle Felswand, steil unten die grünen Rasenflächen des Val Suvretta. Ich glaubte auf überhängendem Terrain zu stehen, ein mit aller Kraft weit hinaus geschleuderter Stein fiel jedoch zuerst an die Wand, ehe er den Gletscher erreichte, und belehrte mich so auf einfache Weise vom Gegentheile.

Mein Thermometer, welches bisher die höchst angenehme Temperatur von 12° zeigte, begann langsam zu fallen. Einzelne Windstösse, die sich dann regel-"mässig wiederholten, kündeten eine Witterungsänderung an, und bei unserem knurrenden Magen wurde der Temperaturwechsel lebhaft verspürt. Aus dem Beverser-thale krochen die Nebel herüber nach Suvretta, legten sich mit bleierner Schwere auf Matten und Felsen, kletterten über Gletscher und Wände, bis alles unter uns in ihrem düstern Schleier lag und die Spitzen der benachbarten Berge wie in einem Wolkenmeere schwammen. Der Horizont verengerte sich immer mehr, und was noch vor wenigen Minuten vom goldenen Sonnenlichte glänzend erleuchtet war, ist mit einem trüben Dunste überdeckt und erscheint in schmutzig grauer Färbung. Wie ein gefrässiges Ungeheuer verschlingt der Nebel ein Stück Aussicht nach dem anderen; ruhig und seiner Beute sicher wälzt er sich von diesem Hügel zu jenem, überbrückt hier ein Thal, begräbt dort einen See und schlingt sich wie eine gigantische Kletterpflanze an der schroffen Wand eines stolzen Gipfels empor, um ihn unter ihrem Riesenblattwerk zu verdecken.

Nach zweistündigem Aufenthalt, punct 2 Uhr, begann der Abstieg. Wenn der Aufstieg in Anbetracht der vorgerückten Zeit in fast zu raschem Tempo vor sich ging, so war die Thalfahrt, in Folge plagenden Hungers und um zur rechten Zeit zum trefflichen Abendessen im Hotel Riv'alta einzutreffen, ein wahres zu-Thal-jagen, dem wir uns Alle, angeregt und von der Tour in hohem Grade befriedigt, gerne hingaben. Als wir die Spalte hinunterzogen, hätte mich fast ein fataler Zufall unglücklich gemacht. Durch die Unachtsamkeit eines meiner beiden Hintermänner — ich ging voraus — löste sich ein Stein, der mir mit ziemlicher Gewalt zwischen beide Beine fuhr und mich auf den Rücken warf. Rasch drehte ich mich und konnte mich mit Hilfe meines Beiles festhalten; es war dies die einzige Gelegenheit, wo sich bei der heutigen Tour dasselbe praktisch bewähren konnte. Ein nussgrosses blaues Mal und das zerrissene Beinkleid waren die einzigen Folgen dieses Zwischenfalles. Wie die wilde Jagd, über Stock und Stein, rannten Methier und ich, über die Schneezunge schleifend, abwärts; auf dem Trümmerfeld unterhalb der ersten.Wand rutschten wir mit einer ganzen Masse Gesteines und einem Theil des neu angelegten Pfades ungefährdet dem Schafboden zu, welchen wir um 3 Uhr 30 Minuten — 1 Stunde und 30 Minuten nach Abgang von der Spitze — betraten. Nach einer halben Stunde langte dann auch unser Felix an, und ich leerte nun mit meinen beiden Begleitern, die meine volle Zufriedenheit verdienten, fröhlich die letzte Flasche; dann zogen wir auf bequemem Wege nach Silvaplana, wo man erstaunt war, uns schon um 5 Uhr 15 eintreffen zu sehen. Am nächsten Tage, mit der Frühpost, ging 's wieder über den Julier heimwärts.

IL Freie Fahrten.

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