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Die Firnfahrt

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Konrad Klotz, Zürich

Morgendämmerung über den Gipfeln des Berner Oberlandes, in der Bildmitte das Finsteraarhorn Als die Bergbahn in den Tunnel hineinrollte, lullte das Palaver im vollbesetzten Waggon langsam ein, das Rattern der Zahnräder verstärkte sich zu einem an- und abschwellenden Dröhnen und übertönte alle anderen Geräusche. Nach der gleissenden Gletscherhelle sahen die Gesichter im künstlichen Licht nun abgespannt und bleich aus, die Einfahrt in den Tunnel, das Heranrücken der roh behauenen Felswände, hatte die anfängliche Aufregung der japanischen Touristen gedämpft, wie aus Elfenbein geschnitzt sassen sie auf den Sitzbänken, gegen die starke Neigung gelehnt, sie hatten ihre Kameras und Videoaufnahmege-räte ob des zunehmenden Drucks in den Ohren auf einmal vergessen.

Auch Renz litt unter den Einwirkungen des Bergdrucks. Er sass, ohne aufzuschauen, auf der Holzbank und starrte auf die Gummirippen am Boden, konzentrierte sich nur auf seinen Atem. Fanni sass neben ihm und versuchte, ihn aufzumuntern, sie, die Bergungewohnte, sprach ihm Mut zu und erheiterte sich zugleich über seine plötzliche Anwandlung.

( Spürst du nichts ?) fragte Renz, aber Fanni lachte auf und zog damit die konsternierten Blicke ihrer japanischen Sitznachbarn auf sich. Renz war gefasst gewesen auf seine Schwäche, er wusste, Tunnelfahrten, besonders in engen Stollen und bei steilem Anstieg, waren nichts für ihn, aber es war ihnen keine andere Wahl geblieben, wenn sie auf den Firn hinauf- und den Gletscher hinunterfahren wollten. Zunehmende Atemnot. Einmal war er, als sie in einem Autobahntunnel in einer Wa-genkolonne steckengeblieben waren und die Autolenker keine Anstalten machten, ihre Motoren abzuschalten, beinahe ausgeschert und auf die Gegenspur ausgebrochen, er wäre geradewegs weggerast, wenn seine Begleiter ihn, den Winselnden, nicht mit Gewalt zurückgehalten hätten. Er hielt sich beide Augen zu, Fanni schaute ihn an und beugte sich zu ihm hinüber, massierte ihm mit der einen Hand leicht das Genick.

Nein, es ist nicht nur das, dachte er, es geht immerhin auch um Fanni, wir hätten uns eine leichtere, eintägige Tour vornehmen sollen. Er lächelte angestrengt und sah ihr von unten ins Gesicht: ( Und dir geht 's gut ?) Sie schürzte die Lippen, nickte. Die Bahn rumpelte unter eintönigem Geleier bergan, es war noch immer still im Waggon, niemand sprach, oder die Stimmen wurden überdröhnt, wie in einem Stummfilm, dieselbe Tonlosigkeit sich bewegender Münder, auch Schläfrigkeit, Passivität, ja, Renz hätte gern, wie das einige taten, ein wenig vor sich hingedöst.

Sie hatten sich mit ihrem Entschluss, doch noch auf diese Tour zu gehen, schwer getan, nicht nur des unsicheren Wetters oder seiner Tunnelängste wegen. Sie hatten lange gezögert und den Frauenarzt gefragt, ob die Höhe Fannis Zustand beeinträchtigen würde, hatten sich dessen vorsichtige und zur Vorsicht mah- nende Antwort hin und her überlegt, und zuletzt war gerade diese Unverbindlichkeit ausschlaggebend gewesen.

Im Moment, als sie sich entschieden und die Rucksäcke hervorgeholt hatten, ja sogar noch den nächstbesten Zug zu erwischen gedachten, waren ihre Bedenken wie weggewischt gewesen und der Vorfreude gewichen; befreit hatten sie gelacht über ihre Entschlussfähigkeit. Renz war sich nicht mutig vorgekommen, aber er wusste genau, dass er das Risiko für sie miteinkalkulierte.

Eine weibliche Lautsprecherstimme kündigte die erste Zwischenstation an, die Höhe über Meer und die zu bewundernde Aussicht, fünf Minuten Aufenthalt für den weltberühmten Ausblick auf die Nordwand und hinunter ins soundsoviel Meter tiefer liegende Tal. Die japanische Version der Ankündigung entfachte mit einem Schlag auch das Palaver im Waggon wieder, wenig später hielt die Bahn ruckend an und der Kondukteur ging mit dem Vierkantschlüssel von Wagentür zu Wagentür. Renz atmete tief durch, blieb aber mit Fanni sitzen, als die andern Fahrgäste zu den im Granit eingelassenen Fenstern hinausdrängten, allein schon das Licht brachte ihm Erleichterung.

Bei der Weiterfahrt wünschte sich Renz nichts so sehr, als oben anzulangen, endlich zum Stollenloch hinaustreten, auf die Skis stehen und hinunter über den leicht abfallenden Firn schwingen zu können, er fixierte sich in Gedanken ganz auf die Firnfahrt, auf das blendende, ihn umgebende Licht und meinte zu Fanni gewendet:

Oben an der Bergstation interessierte er sich weder für das Eismeer noch für Eisskulpturen, er war einfach froh, den Tunnel hinter sich zu wissen und in die erweiterte Felsenhalle der Station hineinzurumpeln. Als sie sich mit der Touristenschar vor der Waggontür drängelten, bevor der Kondukteur aufschloss, erklärte er, er brauche zuerst einen starken Kaffee, sonst bringe er keinen Schritt zustande. Überschwenglich fiel ihm Fanni um den Hals:

Das Stollenloch war meterhoch zugeschneit, man musste an einem Seil hochklettern und die Rucksäcke und Skis nachziehen.

Renz half Fanni über die ins Eis gehauenen Stufen hinauf zur Kuppe, und endlich standen sie über der leeren, weiten Fläche des frisch verschneiten Firns; Himmel und Horizont waren milchig überzogen und die Schneeberge ringsum föhnig erhellt. , meinte Renz,

Es war tatsächlich Pulverschnee, der unter den Skis wegspritzte und ihnen bei Schwüngen feinkörnig ins Gesicht sprühte. Renz liess sich fast ohne Anstrengung über den spurenlosen Abhang hinuntertragen, vom Vorjahr wusste er, dass sie sich rechts halten mussten, um an einem Gletscherabbruch vorbeizukommen, er fuhr deshalb einen weiten Bogen und traversierte hinüber zu einem flacheren Teilstück. Zurückblickend sah er Fanni dicht hinter sich und noch weiter hinten das bereits über der Kuppe verschwindende Panoramarestaurant der Bergstation; sie waren jetzt, so weit sie sehen konnten, allein.

Ohne zu verschnaufen, fuhren sie bis ganz hinunter, wo der Firn auf einen Gletscherplatz auslief, und hielten nebeneinander an. Renz wischte sich den Schnee von den Kleidern und half Fanni, die sich mit einem Wonneschrei hatte fallenlassen, wieder auf die Beine. Sie standen im tiefblauen Schatten einer Bergspitze, gegenüber von türkisfarbenen, aufeinandergetürmten Eisbrocken, in einer Stille, die ihnen, wären sie sich ihrer voll bewusst gewesen, vielleicht Angst gemacht hätte. Fanni aber befreite sich prustend vom Schnee, der ihr das Gesicht wie eine Maske bedeckte. Sie fuhren nun, sich mit den Stöcken beschleunigend, über den flachen Teil des Gletschers hinweg, Renz, unter der Last des Rucksackes vornübergebeugt, folgte in der Spur Fannis, es war ein müheloses Vorwärtskommen, ein leichtes Dahingleiten, wie ein Hineingleiten ins Vergessen.

Dies war das einzige, das Renz suchte in den Bergen, das Vergessen, unter der Last des Rucksackes konnte er schwitzen, aber zu- gleich auch eine Kopflast loswerden; Ballast abwerfen, das hiess für ihn, sich Klarheit verschaffen, sich in der dünnen Luft aus einem Gedankenwust hinausarbeiten.

Nachdem sie kurz Rast gehalten und die Haftfelle auf die Skis aufgezogen hatten, setzten sie den Weg fort über den Gletscherplatz, auf dem sie im starken Licht wie ausgeblendet waren. Renz hielt sich dicht an Fanni, obwohl er einen Augenblick mit dem Gedanken gespielt hatte, den längeren, steileren Aufstieg über die Fluh zu wählen und sie den bequemeren Weg zur Hütte allein gehen zu lassen. Er hatte sich nur ungern anders entschieden, liess sich aber Fanni gegenüber nichts anmerken. Zusammen also stiegen sie der tiefstehenden Nachmittagssonne entgegen, Fanni musste mehrmals haltmachen; die dünne Luft, japste sie, setze ihr dieses Jahr mehr zu als auch schon, und trotz des leichten Anstiegs erreichten sie die Hütte später als erwartet. Die Sonne hatte sich bereits in die Tallücke gesenkt und warf lange Bergschatten auf den Gletscher, als sie sich am Seil über die eingeschneiten Stufen zum Hütteneingang hinabliessen.

Im Schein der Petrollampen sassen sie am Abend mit andern Skitourenfahrern am Tisch. Renz hatte sich an der Durchreiche eine Karaffe Wein geholt, obwohl er wusste, dass der Wein ihm sofort zu Kopf steigen und die Müdigkeit in die Augen treiben würde. Mit erhitztem Kopf also hörte er auf die Gespräche der andern, er wäre fast eingenickt, als Fanni aufstand und erklärte, sie sei zu erschöpft, um noch länger aufzubleiben. Renz gähnte, er komme auch gleich, und goss sich den Rest des Weines ins Glas.

Das allgemeine Stimmengewirr im Raum war inzwischen verebbt, nur an seinem Tisch wurde noch eingehend diskutiert. Renz nahm das Gespräch bloss halb wahr, wie ein Traum-gemunkel. Ein blonder Wuschelkopf mit Nik-keibrille hatte sich eine Stirnlampe aufgesetzt und fuhr mit dem Zeigefinger auf einer ausgebreiteten Karte herum. Offenbar suchten er und seine Begleiter nach einer geeigneten Tour, wobei sie sich jedoch nicht einig wurden Nächste Doppelseite: Blick auf den Konkordiaplatz mit dem vom Jungfraufirn ( links ) und Ewigschneefäld ( rechts ) umflossenen Trugberg ( 3932,9 m ), im Vordergrund der Grosse Aletschgletscher und einander bereits die Finger von der Karte stubsten. Der Blondschopf brachte immer wieder Einwände besonders gegen ein bestimmtes Berggebiet vor, um das er sich anscheinend herumdrücken wollte. Er verhas-pelte sich mehrmals, wenn dieser Berg genannt wurde, und schliesslich verstummte er ganz. Dann, ohne weiter gefragt worden zu sein, sagte er, ob sie nicht wüssten, dass sein Freund, Klaus, auf einer Bergtour mit ihm in diesem Gebiet verunglückt sei. Mitten im Sommer. Bei besten Bedingungen. Die andern schauten sich, um Worte verlegen, ins Gesicht, nur ein junger Bursche, der bisher am meisten mit dem Finger gerade auf diese Stelle gezeigt hatte, rief:

Renz nahm einen Schluck Wein, die Worte des Blondschopfs kamen von weit weg, es sei, hörte er ihn sagen, nicht einmal an einer heiklen Stelle geschehen, keine schwierige Wand, sondern lose geschichtetes Gestein, über das man, wenn man zügig gehe, mühelos hinweg-komme. Aber ausgerechnet hier sei Klaus einen Moment stehengeblieben. Einen Moment zu lang.

Langsam stieg er die Treppe hinauf... vor allem nicht mit Konflikten in die Berge... Er tappte im Dunkel in den Schlafsaal und fand Fanni im hinteren Teil des Matratzenlagers unter rauhen Wolldecken zusammengerollt. Er zog sich aus und legte sich eng an sie, aber sie schlief bereits, so lag er lange wach, spürte wieder die Beklemmung, die Atemnot wie bei der Tunnelfahrt.

Gegen Morgen liess Renz etwas frische Luft in den stickigen Raum. Draussen dämmerte es bereits, aber der Himmel war nicht von jener luziden Helle, die Sonne und klares Wetter versprach. Er legte sich wieder hin, doch an Schlaf war nun nicht mehr zu denken, das Haus war voller Geräusche: herumtappende Füsse, ratschende Reissverschlüsse, aneinan-derreihender Nylonstoff; man schien des veränderten Wetters wegen zeitig aufzubrechen.

Auch beim Frühstück beeilte man sich allgemein; während einige über ihr Vorhaben unentschlossen schienen und Varianten besprachen, drängten andere bereits zum Gehen. Wieder und wieder trat jemand ans Fenster und blickte auf die Gletschermulde hinunter, die sich, bei zunehmender Helligkeit auf den Berggipfeln, immer mehr vernebelte und verdüsterte. Auch der schnauzbärtige Hüttenwart meinte, eine Abfahrt über den Gletscher sei jetzt für Ortsfremde zu riskant, die Spuren seien alle zugeschneit und die Spalten im Nebel kaum zu erkennen. Schon einmal in diesem Winter hätten sich zwei Tourenfahrer auf dem Gletscher verirrt und hätten die Nacht im Freien verbringen müssen.

Verschlafen kam nun auch Fanni herein, Renz sass am Tisch und schwenkte Teebeutel in einer Tasse mit heissem Wasser, er starrte in den sich langsam bräunenden Tee, mied Fannis Blicke, die ihn ausforschten, die, wie er wusste, beinah schuldbewusst an ihm hingen. Die Aussicht, wieder umkehren, also den Rückzug antreten und mit der Bahn hinunterfahren zu müssen, verstimmte ihn, aber mit Fanni über den Gletscher, das war nun zu riskant und alles andere, Gipfeltouren mit ande- rer Abfahrt, zu anstrengend für sie.

Als sie aus der Hütte traten, blies kein Wind kein Lüftchen ging, der Windsack über dem Hausdach, am Vorabend noch gebläht, hing schlaff herunter, und auf den Bergkämmen waren keine Schneefahnen zu entdecken. Über den Himmel hatte sich eine zerknüllte Wolkendecke gebreitet, und nur in der Richtung, aus der Renz und Fanni gekommen waren, gab es noch einige blassblaue Lücken.

Renz war als erster auf den Skis, er stand gebückt an der Kante des Steilhanges und gab Fanni mit dem Stock ein Zeichen, dabei verlor er beinah das Gleichgewicht und konnte sich erst nach einigen Metern, unter Herumwerfen des Rucksackes, wieder aufrichten. Fanni überholte ihn, ihm ins Gesicht lachend, und gab ihm einen Schubs in den Rücken. Sie fuhren schräg den Hang entlang, oberhalb der Spur, die sie am Vortag gezogen hatten, hinter einer Vierergruppe her, die sich wie Rei-henmännchen zur Fluh hinaufbewegte. Sie überquerten mehrere Spuren, vermieden es möglichst, zu weit nach unten getragen zu werden, um gleitend und ohne aufsteigen zu müssen zum Gletscherplatz zu gelangen.

Der Schnee war nicht mehr hell und gleissend, sondern gräulich stumpf, ein Schneepanzer mit lauter Dellen und Höckern. Die wenigen vorhandenen Spuren waren über Nacht verharscht, ihre Skis holperten quer darüber hinweg und wurden gebremst, blieben schliesslich darin stecken. In der plötzlichen Stille tönte Renz'Stimme wie ein Fluchen: ( Ziehen wir die Felle auf !) Mit einer Hüftdre-hung warf er den Rucksack ab, blickte zur Passlücke zurück und beobachtete die dort aufziehenden Nebelschwaden.

Der Aufstieg über den Firn, das wusste Renz, würde nicht ganz so mühelos sein, wie er Fanni vorgemacht hatte, deshalb drängte er darauf, den ersten, flacheren Teil möglichst rasch hinter sich zu bringen. Überhaupt wollte er das Ganze schnell hinter sich haben, allein schon der Gedanke an die Rückfahrt im Tunnel versauerte ihm den Tag, er wünschte, sie wären bereits wieder unten, verwünschte das Wetter und ganz allgemein die Tatsache, trotz anfänglicher Bedenken hergekommen zu sein. Erstmals, seitdem Fanni ihm eröffnet hatte, dass sie schwanger sei, wurde ihm eigentlich bewusst, was dies für sie bedeute. Bisher hatte ihnen nie etwas im Weg gestanden, sie hatten nie das Gefühl gehabt, nicht das tun zu können, was sie wollten. Noch nie waren sie auf ihren Wanderungen zur Rückkehr gezwungen worden, auch damals, als sie mitten im Sommer vor dem Buckel eines mächtigen Lawinenkegels gestanden hatten und ein Weiterkommen unmöglich schien, waren sie ohne zu zögern durch den Schneematsch gestapft und über zersplitterte Baumstämme und hin-aufgepflügte Wurzeln geklettert. Und jetzt kehrten sie um, dabei hätte man es doch darauf ankommen lassen können, dachte Renz, ja, das wäre die natürlichste Lösung gewesen.

An den Schneehängen hochblickend spürte er nur noch eines: wir müssen raus hier; er hätte Fanni zur Eile antreiben wollen, war mehrmals versucht, ihr zuzurufen: ( Etwas schneller bitte !), stiess jedoch nur Luft aus. Es kam ihm vor, als kröchen sie wie Schnecken über den Firnschnee; von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um dann schneller und in seinem gewohnten Tempo aufholen zu können. Einmal holte er Fanni ein und schnaufte, ausser Atem: ( Nimm dir nur Zeit, wir haben den ganzen Tag !) Es war noch nicht allzulange her, als sie ihn mit ihrer Eröffnung, der Schwangerschaftstest sei positiv gewesen, ebenso überrascht hatte, wie sie es selber war. Er hatte es ihr am Telefon angemerkt, ihr Stocken mitten im Satz, die Pause, wohl um auf seine Reaktion, einen freudigen Ausruf vielleicht, zu warten. Er aber fühlte sich auf dem falschen Bein erwischt, so dass er nichts anderes wusste, als trocken zu lachen: so sei halt die Natur. In der Stille, die entstanden war, in dieser noch vertieften Stille am Draht, hatte Fanni vernehmlich geseufzt und zögernd - denn sie kannte seine Antwort - gemeint: Nein, dachte Renz, so weit wäre er nicht gegangen, zu so was hätte er sich nie entschliessen können.

In immer kürzeren Abständen musste Fanni anhalten und, vornübergebeugt, tief Atem holen, dabei, so meinte sie, fühle sie sich mit-nichten müde oder überanstrengt, nur mache ihr die dünne Luft zu schaffen. Sie mimte ein Lächeln:

Sie zogen die Skis nicht aus, setzten sich seitlich auf ein ausgebreitetes Nylon, Renz entnahm seinem Rucksack etwas Proviant und reichte Fanni die Teeflasche. Zum Himmel aufschauend, der vom Nebeltreiben nunmehr ganz verdeckt war, meinte er:

Schon nach kurzer Zeit sah er sie nicht mehr, sie war über dem Hügelbuckel verschwunden. Er folgte zunächst in ihrer Spur, dann aber, um sie schneller einzuholen, wählte er einen steileren Anstieg, durch weicheren, tieferen Schnee, und war nun seinerseits bald ausser Atem, musste immer häufiger anhalten. Als fürchte er sich, allein gelassen zu werden, forcierte er das Tempo, kam aber deswegen nicht schneller voran, im Gegenteil, er rutschte mehrere Male zurück. Den dicken Schnee an Ort tretend, hielt er einen Augenblick an. Er formte die Hände zum Trichter und rief ihren Namen wiederholt den Steilhang hinauf, ohne dass eine Antwort zurückgekommen wäre; seine Rufe verflogen ebenso wie der Hauch aus seinem Mund. Er setzte sich wieder in Bewegung und erreichte keuchend den ersten der sich aneinanderreihenden Firnbuckel. Nun sah er auch Fanni wieder, weiter vorn als vermutet und weiter links, zügig den zweiten Hang angehen.

Renz konnte nicht mehr an sich halten, wieder rief er: ( Bleib stehen! Warte auf mich !), aber Fanni reagierte nicht. Er selber hörte seine Rufe kaum, hörte auch kein Echo, es war, als hätte er keine Stimme, oder als wären die in der Luft treibenden Nebelfetzen aus Watte. Er arbeitete nun kräftiger mit den Armen, fand auch bald wieder ihre Spur, kam darin besser vorwärts, aber nie in Rufweite an sie heran. Er spürte ein Zittern in den Knien, fühlte sich dem Schnee machtlos ausgeliefert, Fanni schien entschlossen, allein vorauszugehen, sich selber vertrauend, aber kannte sie den WegEr war bereit zum Schreien, gellend zu den Schneekappen hinauf, die wie spitze Hüte durch den Nebel trieben, er rief nun nicht mehr, sondern schrie ausser sich und grell verzerrt ihren Namen. Benommen kauerte er sich hin, starrte auf das leuchtende Rot seiner Skis, ein Rot, das, wie er sich un-sinnigerweise erinnerte, gemäss dem Verkäufer sogar durch dreissig Zentimeter Schnee, also auch wenn man unter einer Lawine begraben wäre, leuchten würde.

Als Renz wieder aufblickte, sah er, dass Fanni mitten auf der Traverse stillstand, ja, sie bewegte sich tatsächlich nicht mehr vorwärts, schien sich sogar hinzusetzen und auf ihn warten zu wollen. Er richtete sich auf, gab ihr mit dem Stock Zeichen, warte, ich komme!, aber Fanni erwiderte keines davon. Er zog entschlossen los, ( Was zum Teufel !) rufend und unbeherrscht den Arm durch die Luft schwingend. Im Näherkommen sah er, dass sie seitlich an den Hang hingekauert im Schnee lag und sich nicht rührte. Er verliess ihre Spur, verkürzte den Gleitschritt, ging senkrecht den Tiefschneehang hinauf.

Fanni hatte sich hingekuschelt, stellte Renz unwillig fest, er hörte sie trotz seines rasselnden Atems sagen: ( Ich kann nicht weiter ). Er stampfte mit dem Ski auf; ( Was soll das heissen...? Wir müssen weiter !) Fanni hatte die Skis ausgeklinkt und versuchte mit angewin-kelten Beinen, sich darauf zu legen. ( Ich kann aber nicht ), sagte sie leise, ( ich habe Blut verloren. ) Näherrückend schaute er auf die aus-gebuchtete Stelle, an der sie gekauert hatte, und entdeckte tatsächlich eine bereits versik- Schlechtwettereinbruch im Jungfraugebiet kerte hellrote Blutspur. , sagte Renz, indem er mit dem Skistock weissen Pulverschnee über den Flecken stäubte. Fanni schüttelte den Kopf:

Ihre Diskussionen, die sie früher miteinander hatten! Verbale Auseinandersetzungen, in denen er sich mit grossen Worten gegen den Schwangerschaftsabbruch ausgesprochen hatte, wenn sie meinte, dass die Entscheidung letztlich bei der Frau liege. Wie könne man etwas entscheiden, das bereits geschehen sei. Und auch der Vater habe doch ein Sagen... Es gehe um das Leben, und auch ein Ungebore-nes sei unbezweifelbar ein Leben... Dafür hast du sie zu dieser Gletschertour überredetEr ging viel zu schnell, dachte nicht mehr ans Kräfteeinteilen, seine Skis kreuzten sich, blieben stecken, er fiel vornüber. ( Du feiger Hund !) schrie er, mit den Stöcken hilflos um sich schlagend.

Schwerfällig rappelte er sich auf, er war in Schneeverwehungen geraten, merkte, als er aufschaute und durch die Nebelschleier plötz- lieh das Panoramarestaurant über sich erblickte, dass er sich verstiegen hatte. Für einen Augenblick glaubte er, Leute an den Fenstern erkannt zu haben, er zog seinen Pullover aus und schwenkte ihn wild durch die Luft. Darauf stieg er weiter, unter der Felswand durch, in die Richtung, in der er den Stolleneingang vermutete. Dazwischen liess er immer wieder Arme und Pulloverärmel über seinem Kopf kreisen, obwohl er genau wusste, dass man ihn hier unten schwerlich sehen konnte.

Da sah er einen Mann mit hellroter Jacke über den Rand des Stollenloches steigen und begann, für den andern kaum verständlich, hinaufzurufen. Eine Weile schrien sie hin und her, der andere konnte ihn nicht verstehen, trotzdem schien er begriffen zu haben, denn Renz hörte das Knacken und Rauschen eines Funkgeräts. Mit Armen und Beinen rudernd, arbeitete er sich heraus, pfadete sich irgendwie zum Stolleneingang hoch; dankbar packte er die Hand, die ihn auf den flachgetretenen Absatz hinaufhievte. Schwer atmend, beinah hechelnd, stand er zunächst da und brachte nur ein Wimmern über die Lippen. Was nun eigentlich mit seiner Frau sei, fragte der Mann mit dem Funkgerät, ob sie etwas gebrochen habe. Renz schüttelte den Kopf: ( Bitte, lassen Sie einen Helikopter kommen !) Es klang wie ein Betteln, Renz kam sich einen Moment lächerlich vor, als hätte er einen Taxi hierherbe-stellt. Der Rettungsmann aber hatte bereits die Taste seines Funkgeräts betätigt, und gleich darauf ertönte daraus eine zerscherbte Stimme.

( Die müssen gleich da sein>, sagte der Rettungsmann, ( gleich werden sie auftauchen. ) Renz hüstelte, wäre es nicht besser, er fahre wieder hinunter, es müsse doch jemand bei ihr sein. Der Mann legte ihm die Hand auf die Schulter: ( Bleiben Sie! Kaspar, der Pilot, und sein Begleiter, die machen das schon, die haben Verunglückte schon bei schwierigeren Verhältnissen geborgen.Mit hängenden Armen starrte Renz ins Nebeltreiben hinaus, er spürte plötzlich Müdigkeit, aber auch Erleichterung, er hätte sich, wäre er allein gewesen, in den Schnee gesetzt und sich gehen lassen, so aber beantwortete er die knappen Fragen des Mannes mehr als bereitwillig, als hinge alles von ihm ab.

Plötzlich, wie auf Knopfdruck, widerhallte das Klappern von Rotorblättern von den Bergwänden. ( Da sind sie schon ), sagte der Rettungsmann, und zeigte ins Nebelgrau hinaus. Tatsächlich erschien dort der Hubschrauber in einer Berglücke, schemenhaft, kurz aufblitzend, und flog in einem Bogen zum Firn hinunter. Dem Motorenlärm nach zu schliessen, wendete er und kreiste über dem Gletscher, ging dann tiefer, war nur noch gedämpft zu hören, ein Stottern, das am selben Ort zu verharren schien und schliesslich vom Nebel verschluckt wurde. Der Rettungsmann nickte befriedigt: ( Jetzt hat er sie... Kaspar macht das schonKann er landen ?) fragte Renz den Mann, der die Lage mit zusammengekniffenen Augen anscheinend zu beurteilen imstande war, doch der schüttelte den Kopf: ( Die machen bloss einen Aufsetzer. ) Renz hatte nicht auf die Uhr geschaut, trotzdem glaubte er, dass der Pilot kaum mehr als eine Minute unten gewesen war. Bereits schrillte der Motor wieder auf, der Hubschrauber tauchte aus dem Nebel, deutlich hob er sich vom Firnschnee ab, ehe er an Höhe gewann, sich mit der Nase nach vorn neigte, kurz wippte, und, eine Kurve beschreibend, über ihren Köpfen hinwegflog. Renz schaute ihm nach, hob halb die Hand, hätte den Leuten im verglasten Cockpit gerne zugewinkt.

aber der Hubschrauber war schon hinter der Bergkuppe verschwunden und der Motorenlärm wie abgeschaltet. ( Kommen Sie>, sagte der Rettungsmann, Er hätte die Schläge der Räder auf die Gleisnahtstellen mitzählen mögen, wie ein Auszählen, und jeden Augenblick erwartete er einen Ruck, ein Getöse von brechendem Eisen, ein Abrasseln im Getriebe, erwartete, dass sie in höllischem Tempo, aus den Geleisen hupfend, über die Schwellen ratterten, hinabrasten, aus dem Tunnel schössen, in eine ausblendende Helle und über den Rand der Schienenstrecke auf den Gletscher hinunter-krachten.

Renz hielt sich mit beiden Händen an der Sitzbank fest, stemmte die Beine gegen den abgeschrägten Boden. Die Bahn ruckte etwas, beschleunigte das Tempo, so dass die Gesichter einiger Fahrgäste um eine Spur bleicher wurden, aber das Röhren des Zahnradgetrie-bes blieb gleichmässig und der Widerstand gegen das Gefälle ungebrochen. Der Wagen schaukelte leicht hin und her, und die eng zusammengerückten Passagiere schunkelten teilnahmslos mit, einigen war das Kinn auf die Brust gesunken, die gräulichen Augenlider waren ihnen zugefallen. Renz gegenüber sassen zwei Jungen, der jüngere der beiden, ein bebrilltes Knäblein mit käsigem Gesicht, hatte seinen Kopf dem älteren Bruder an die Schulter gelegt, der grössere starrte mit herabhängenden Mundwinkeln vor sich hin und wis-perte ihm auf Französisch Trost zu.

Das Zahnradrattern hatte das alleinige Wort übernommen, ein alles einschläfernder Monolog; wenn einer der Fahrgäste sprach, schien sich der Mund tonlos zu bewegen. Und auch die weibliche Lautsprecherstimme war auf der Talfahrt nicht mehr zu vernehmen.

Ein Mann mit karierter Schirmmütze schraubte seiner Kamera ein immenses Objektiv auf, nervös fingerte er an seinem Apparat herum und wechselte mit der Frau, die mit stumpfsinnigem Gesichtsausdruck neben ihm sass, panikartige Blicke. Renz entdeckte auf der Hose einen dunklen Fleck - war das Blut? Er fuhr mit dem Fingernagel die Ränder ab, kratzte am Gewebe, aber der Fleck war eingetrocknet und nicht zu entfernen. Gegenüber stöhnte oder seufzte der Junge im Halbschlaf, sein älterer Bruder hielt ihm den Kopf, damit er nicht weiter wegrutschte; Renz hob einen heruntergefallenen Handschuh vom Boden auf, der Junge nahm ihn mit beleidigter Miene entgegen.

Einmal hielt die Bahn kurz an, sie blieben im Tunnel stehen, es gab keine Station und auch keine Aussichtsfenster, die Türen wurden nicht aufgeschlossen, sie mussten lange warten, bis die bergwärts fahrenden Züge an ihnen vorbeigerollt waren. Es wurde nicht heller, im Gegenteil, die elektrische Beleuchtung schien plötzlich schwächer geworden zu sein, das Licht flackerte einige Male und liess die Gesichter der Waggoninsassen verwackelt erscheinen.

Es gelang Renz nicht, seine Gedanken zu ordnen, er konnte sich Fanni weder in einem Hubschrauber noch in einem Spitalbett vorstellen, sie war einfach auf einmal weg, und er spürte einzig ihr Fehlen. Er presste seinen Rücken gegen die harte Sitzbank, Schloss die Augen, versuchte, die Wachsgesichter zu vergessen; eine Prozession, dachte er noch, hinab in die Unterwelt, ohne Blick zurück.

Erfühlte sich abwärts getragen oder gezogen, dann verschwamm alles wie in einer wohligen Trunkenheit, in der er sich aufgehoben fühlte, auch Fanni, so glaubte er, war gut aufgehoben. Er wäre zu allem bereit gewesen, auch zur Freude, wenn es ihr geholfen hätte, er wäre aufgestanden und hätte allen Fahrgästen zum freudigen Ereignis der Talfahrt gratuliert.

Hände schüttelnd ging er durch die Bankrei-hen, er forderte alle auf, sich zu erheben, zusammenzurücken, der Amerikaner mit der Schirmmütze zückte seine Kamera und rief:

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