Die Gebirgssagen
von Prof. Ed. Osenbrüggen.
In den « Beobachtungsnotizen », welche den Alpenclubisten als Vademecum für ihre Fahrten von dem umsichtigen Centralcomite 1866 ans Herz gelegt wurden, sind auch die Volkssagen im Gebirge als Gegenstand der Nachforschung empfohlen und diese Anregung stimmte ganz zu meiner Neigung. Das Jahrbuch hat nun zwar keinen Raum zur Aufnahme des grossen Materials dieser Art, welches sich finden lässt, aber vielleicht ist den Clubgenossen der Versuch einer Gruppirung der Gebirgssagen genehm, wobei deren Charakter und ihr Werden veranschaulicht wird.
Die Wechselbeziehung zwischen der Natur und den Menschen ist die Grundlage der Religionen der Naturvölker. Die Erscheinungen in der Natur geben den Stoff, welcher dann von den davon in Abhängigkeit sich fühlenden Menschen in der Weise geformt wird, dass die Erscheinungen als freies Wirken der Naturmächte gefasst und die Naturmächte zu Göttern und Heroen werden. Bis zur äussersten Consequenz vorgehend, hat schon vor Jahren ein geistreicher Alterthumsforscher, V. W. Forchhammer in seinen Hellenika ( 1837 ) die griechische Mythologie in solcher Weise behandelt und auf den Satz basirt, dass die Mythologie Darstellung der Natur als Geschichte sei.
Er sagt: « Jedem wahren Mythos liegt eine physische Thatsache zu Grunde, und es ist nicht anders möglich, als dass, wer die Natur des griechischen Landes in ihrer gesammten Erscheinung schildert, zugleich, sei es absichtlich oder unabsichtlich, bewusst oder unbewusst, die Grundlage der gesammten griechischen Mythologie offenbare; und so in jedem einzelnen Fall, wer die Natur einer bestimmten Gegend beschreibt, der erzählt schon eben dadurch den Mythos, der dieser Gegend eigenthümlich angehört ». Der Grundgedanke einer solchen Anschauung des Verhältnisses zwischen Natur und Religion, Land und Mythen, lässt sich für die Hochgebirgssagen verwerthen und wir erhalten dadurch als Hauptgruppe derselben die Naturmythen in einer durch die Beschaffenheit des Gebirges bedingten Gestaltung. Es hat auch der gelehrteste Sagenforscher in der Schweiz, E. L. Rochholz, einen Band seiner Schweizersagen « Naturmythen » betitelt und diese mit den Worten eingeführt: « Wir zeigen hier die schweizerische Sagenbildung als bedingt durch den geologischen Bau des Gebirges und den Gang seiner Gewässer. Der unvergängliche Realismus, den die Mythe auf diesen Felsen-höhen, in diesen Hochwäldern, an diesen Sturzbächen gewinnt, ist das Naturwahre selbst ».
Um die Wirkung zu veranschaulichen, welche die Naturerscheinungen auf die in der Einsamkeit des Gebirges lebenden Menschen ausüben und wie die Einbildungskraft dieser Naturkinder unter den immer wiederkehrenden mächtigen Eindrücken diese, an den alten Traditionen festhaltend, von Neuem personificirt, dafür lasse ich einen Mann aus diesem Jahrhundert auftreten, der keine andere Welt kannte als die Gebirgswelt.
Als am 2. September 1806, dem Schicksalstage von Goldau, der Rossberg oder Ruffiberg in Bewegung gerieth, da lebte zuoberst unter dem Gnypenspitz in seiner Hütte Bläsi Mettler mit junger Frau und einem vier Wochen alten Kinde. Der Bläsi sah, wie grosse Felsstücke sich ablösten, wie das Erdreich sich veränderte, wie die alten Tannen oben auf der Fluh hin und her schwankten; er hörte die unheimlichen Töne in der Luft, und was that er? Man sollte denken, er sei fortgeeilt mit Frau und Kind aus dem Bereich der drohenden Gefahr. Er rannte zwar hinab ins Thal, aber ohne Weib und Kind, und nicht etwa, um die Thalbewohner zu warnen, sondern er eilte im stärksten Lauf zum Pfarrer in Arth und bat diesen flehentlich, mit ihm hinaufzukommen und dort zu benediciren, weil es gar nicht richtig zugehe. Ueber den Grund dieser Handlungsweise hat der Doctor Zay, der genaue Beschreiber jener furchtbaren Katastrophe, welcher als Arzt mit der Familie Mettler bekannt geworden war, genügende Auskunft gegeben. Bläsi war ohne Schulbildung aufgewachsen, aber seine Phantasie hatte in dem einsamen Gebirge, zwischen den seltsam und schauerlich geformten Felsen, wo der Witterungswechsel und manche Naturerscheinungen mit solcher Heftigkeit sich zeigten, Nahrung gefunden, und Geistergeschichten waren in seiner Kindheit eine gewöhnliche Unterhaltung am häuslichen Heerde gewesen. Das Pfeifen der Winde in den Felsenklüften war ihm der drohende und schadenfrohe Gesang bösartiger Dämonen, das heulende Geschrei der Uhu und der Kauze war der Nachtgesang verderblicher Kobolde und Unholden, welche in dieser wilden Gegend ihre Gelage und Tänze in der Luft hielten. Das waren seine Naturmythen, wie die meisten Naturmythen der Gebirgsbewohner in das Gebiet des Schauerlichen hinübergehend.
Nach solcher Gefühlsweise gestaltete sich ihm auch der Eindruck als an jenem Tage die bedrohlichen Veränderungen am Berge sich zeigten; er konnte sich dieselben nicht anders erklären, als aus der Arbeit der hier hausenden bösen Geister, welche nur durch eine stärkere Kraft, durch das Gebet und Beschwören eines Geistlichen gebannt werden könnten. Darum eilte er hinab ins Pfarrhaus.
Dieser Fall führt uns auch zu der Wahrnehmung, dass und wie die sehr heidnischen Naturmythen dem Ansatz der Legende verfallen. Wo die Bann- und Beschwörungsformeln der christlichen Kirche sich wirksam zeigten gegen die Naturmächte, da war der Uebergang von der Mythe zur Legende bereitet, und die Kirche konnte sich nicht begnügen, den heidnischen Cultus, der sich an die Berge, die Bergsee'n, die Quellen knüpfte, zu verbieten, sondern sie musste zeigen, dass das Christenthum mächtiger sei als Heidenthum. Ein merkwürdiges Gemisch von Heidenthum und Christenthum, Naturmythe und Legende ist die Pilatussage und nach langer Phänomenologie ist von ihr nichts übrig geblieben im Volksglauben als das Ursprüngliche, die Wetterprophezeiung, welche sich von ältester Zeit her an dem Gipfel des merkwürdig zerklüfteten Berges vollzog. Wo Mythos und Legende mit einander verwebt sind, da hat der Sagenforscher den Mythos abzuklären und überhaupt bei allen Gebirgssagen, vornehmlich Naturmythen, den ursprünglichen Kern und die einfachste Form zu ermitteln. Da gelingt es ihm denn auch wohl zu erkennen, wie die zu derselben Classe gehörigen Sagen je nach der Eigenthümlichkeit der Localität, an welche sie sich ansetzen, eine verschiedene Färbung annehmen und darin wieder den Fundamentalsatz bewähren, dass die Natur-
Schweizer Alpenclub.38
mythen Spiegelbilder der Natur sind. In der umfangreichsten, man kann sagen natürlichsten Gruppe dieser Mythen, welche die Aenderung der Witterung zum Gegenstande hat, sind den Wetterdämonen, welche das wilde Wetter machen, die wildesten Regionen des Gebirges als Wohnsitze und Werkstätten angewiesen, z.B. die unzugänglichen Karrenfelder oder Schratten im Entlebuch und anderswo.
So wie Bläsi Mettler die durch Felsschluchten gellenden Winde personificirte, ist es von uralter Zeit her mit den Luftbewegungen, die im Gebirge so kräftig wie rasch sich vernehmen lassen, geschehen, die Windsbraut, die Angetraute des Windes, wirbelt durch die Luft, die wilde Jagd hat dort ihr Revier, der Türst ist eine Hauptfigur im Kreise der Naturmythen. Ob und wie der Türst auf Wuotan zurückführe, das darf man der Combination der Mythologen von Fach überlassen, den Alpenclubisten stellt sich vielmehr die Aufgabe, ohne Einmischung nordischer Götterlehre, im Gebirge zu erkunden, wie weit und in welchen Formen der Mythos von der wilden Jagd und dem wilden Jäger hier heimisch und volkstliümlich sei. Eine solche Form aus der Gegend von Grandvillars findet sich in dem an Sagen reichen Buche von Frans Klientin « historisch-romantische Schilderungen aus der westlichen Schweiz » II, 212.
Die Erfahrung, dass manch kühner Bergsteiger, der einen jungfräulichen Gipfel erobern wollte, nahe am Ziel durch wildes Wetter zurückgeworfen worden ist, konnte nicht ohne Verwerthung für die Sage bleiben. Die darin liegende Warnung liess sich als Stimme des Berggeistes auffassen, aber die ganze Naturmacht eines gewaltigen Berges tritt doch nicht häufig zum Berggeiste personificirt unter diesem Namen in den schweizerischen Gebirgsagen auf.
Interessant war mir daher eine Sage aus dem Wallis, welche ich der gefälligen Mittheilung des Präsidenten der Section Uto, des Herrn Siber-Gysi, verdanke, der sie in Simpeln erfuhr.
Die Spitze des Fletschhorns ( 4016 M. ) ist nachweislich im Jahr 1856 zum ersten Mal erstiegen, nach der Sage aber schon früher. Die Zeit weiss man nicht mehr, aber eigenthümlich ist die Angabe, dass dem ersten Besteiger als Lohn seiner That die Fletschalp zugefallen sein soll. Sein erster Versuch führte ihn zwar schon zu einer bedeutenden Höhe, aber angesichts der schrecklichen Zerrissenheit und Vergletscherung der obersten Region ermattete seine Kraft. Da rief eine geisterartige Stimme von oben ihm zu: « Bring einen Hund mit und eine Katze und einen Hahnen !» Er that am folgenden Tage wie ihm geboten war, aber zuerst stürzte der Hund von einem Felsen herab, dann fiel die Katze in einen tiefen Abgrund und bald war auch der Hahn erfroren. Dabei wirbelte Schnee mit kleinen Eisstücken vermischt von der Höhe auf den Steiger herab, ein weiteres Vordringen war unmöglich und nur mit grosser Anstrengung kam er wieder ins Thal, wo er mit Tadel und Spott empfangen wurde. Das reizte aber den kühnen Mann zu einem nochmaligen Versuch. Als die Witterung eines anderen Tages ihm günstig erschien, machte er sich wieder auf mit seinem sonderbaren Dreigespann, kam auch höher als das vorige Mal, aber wieder verendeten die drei Thiere in kläglicher Weise. Er selbst ging noch weiter aufwärts und glaubte bald den Gipfel erreicht zu haben, die Füsse hätten ihn auch noch weiter getragen, allein dem sonst schwindelfreien Mann war es, als ob der Kopf auseinander gehen wollte. Er musste sich niedersetzen, sobald er aber in die Höhe wollte, war der wüthende Schmerz im Kopfe wieder da.
Da blieb ihm nun nichts übrig, als wieder abwärts zu steigen. Als dann eines Morgens die Luft rein und klar war und die Gletscher oben blinkten, da erfasste ihn nochmals die unwiderstehliche Lust, den Kampf mit dem Berge wieder aufzunehmen, wenn es auch sein Leben kosten solle. Er sah sich aber vor und legte einen eiseren Reif um die Stirn. Da konnte der Kopf nicht zerspringen und weil auch sein Muth eisern blieb, kam er wirklich auf die Spitze des für unbezwingbar gehaltenen Berges und die Fletschalp wurde sein Lohn. Die drei Thiere könnten hier vielleicht als Opfer aufgefasst werden, « welches der Berggeist verlangte. In den Gebirgssagen kommen sie sonst, soweit meine Kenntniss reicht, nicht vor, wohl aber als Figuren der Rechtssymbolik in alten Rechtsdenkmälern Basels, wo sie als die gewöhnlichen Hausgenossen des Menschen die Rolle von Scheinzeugen haben.
Den genannten Naturmythen stellt sich zur Seite eine grosse Gruppe, welche in ein goldenes Zeitalter zurückversetzt. Der schöne Traum der Menschheit hat im Hochgebirge eine der Oertlichkeit und der Lebensweise der Anwohner entsprechende Richtung genommen. Wo jetzt die Höhen mit Eis bepanzert sind und die Firnmulden sich herabsenken, wo der ewige Winter starrt, da hinauf kam einst der Lenz und brachte Gras und Blumen und die Aelpler hatten dort, dem Himmel nah, ein Paradies. Aber sie verloren das Paradies durch ihre Schuld; Uebermuth, Missbrauch mit den Spenden der Natur, Lieblosigkeit, sogar gegen die eigene Mutter, waren die Ursachen, dass aus den Blümlisalpen Gletscher und Schneewüsten wurden. So die bekannte, sehr verbreitete Sage, welche der biblischen Sage von der Fluth analog ist. Wegen der grossen Ausdehnung dieser Sage hat VemaleJcen recht passend der « Vergletscherung » den ersten Abschnitt seiner « Alpen- sagen » ( 1858 ) gewidmet.
Es gewinnt diese Gebirgssage mit ihrem ethischen Einschlag ein besonderes Interesse durch ihren physikalischen Gehalt und gehört dadurch zu den Naturmythen. Nicht nur erzählen uns die Geologen, wie vor Jahrtausenden die Erde und namentlich auch die Schweiz ganz anders aussah als jetzt, wie es hier zu Olims Zeiten noch gar keinen Gletscher und keinen Schnee gab, wie damals der Zephyr mit schlanken Palmen und immergrünem Lorbeer spielte und eine üppige südliche Flora die Fluren bedeckte, sondern, was unmittelbar zur Bildung jener Sage gewirkt hat, die Bergbewohner haben seit Jahrhunderten beobachtet und sehen es auch jetzt, welchen Veränderungen, oft langsam, oft auch ungemein rasch, der Gebirgsboden unterworfen ist, und zu diesen Veränderungen gehört denn auch die Vereisung und Verwüstung von Alpengegenden, die von den Menschen bewohnt und benutzt waren. Nach grossen Perioden abgemessen sind diese Veränderungen und Verödungen in der Sage vom ewigen Juden. Ahasver ist mehrere Male auf verschiedenen Bergpfaden durch die Schweiz gewandert und in den bezüglichen, an bestimmte Gebirgsgegenden sich anschliessenden Traditionen ist sein dreimaliges Erscheinen Regel. Wo sein Fuss zum dritten Mal auftrat da ist es wüst und öde geworden und geblieben. Drei Mal kam er über das Matterjoch. Zuerst fand er dort eine grosse Stadt und da sagte er: « Wenn ich zum zweiten Mal hier wandere, werden da, wo jetzt Häuser und Gassen sind, Bäume wachsen und Steine liegen, und wenn mich zum dritten Mal mein Weg daher führt, wird nichts da sein als Eis und Schnee. Diese Prophezeiung ist längst erfüllt, und ähnlich ist es mit der Grimsel ergangen, worüber Karl Vogt in dem hübschen Büchlein « Im Gebirg auf den Gletschern » ( 1842 ) sehr ausführlich berichtet hat.
Als Ahasver einst in der Nähe des Stockhorns daher schritt, fand er eine ansehnliche Stadt; als er zum zweiten Mal kam, waren die Bewohner in Sittenlosigkeit versunken und da verwünschte er die Stadt zu einer unfruchtbaren Wilde und wenn er das dritte Mal kommen wird, soll diese Gegend zu Gletscher werden. Von jener Stadt rührt noch die auf einer Anhöhe stehende Kirche von Blumenstein her. ( Vernaleken, Alpensagen I. 13 ). Auch nach Basel ist der ruhelose Wanderer gekommen und als er zum dritten Mal kam, fand er die Stadt vom Erdbidem in Trümmer geworfen. Sein Erscheinen im Entlebuch ist in Verbindung gesetzt mit einer von jenen physikalisch ethischen Sagen, in denen die Umgestaltung der Hochgegenden zur Oede auf die Schuld der Menschen zurück geführt wird. Da wo jetzt hinten im Entlebuch, südwestlich von Flühli, die Schratten in schroffen Formen empor- starren, sah Ahasver zuerst noch einen Weinberg, das zweite Mal eine Alp, zuletzt ein unwirthliches Felsengebiet. Aus der Alp war eine Wüstenei geworden, weil ein Bruder den blinden Bruder bei der Erbtheilung übervortheilt hatte.
Die Sage vom Wandern des ewigen Juden ist nun zwar in den Kranz der schweizerischen Gebirgssagen ge- flochten, muss aber doch als fremdländisch angesehen werden. Sie ist mit ihrem Träger, dem Ahasver, aus dem Orient gekommen und hat, wie Ahasver, die Schweiz nur gestreift. Ihr orientalischer Ursprung erhellt aus Rückert's schönem Gedicht « Chidher », dem persischen Sagenschatz entnommen. In ihrer Anpassung an Ahasver, der die Welt ohne Rast und Ruh zu durchwandern hatte, konnte die Sage weltbürgerlich werden.
Dem Rückblick der Menschen auf das goldene Zeitalter conform ist ihr Sehnen nach den Schätzen, welche das Innere der sie umgebenden Berge birgt, und damit steht eine sehr grosse Zahl der Gebirgssagen in Verbindung, führt also zurück auf das zwar aller Poesie baare gewöhnliche Streben der Menschen, reich und dadurch glücklich zu werden.
Im Sagenkreise gestaltet sich aber das einem solchen prosaischen Keim Entsprossene zu poetischen Gebilden. Die Schätze im Berginnern, wie in alten Burgruinen, werden bewacht und gehütet; es gibt zwar Zaubermittel, um zu diesen Schätzen zu gelangen, aber nur wenigen Menschen ist es vergönnt gewesen, diese Mittel zu finden und richtig zu gebrauchen, nur wenige haben die Prüfungen bestehen können, die zur Erreichung des Zieles durchzumachen sind. Kurz und treffend ist die Hauptart dieser Sagengruppe mit « Hortsagen » bezeichnet ( Rochholz, Naturmythen, S. 153 ff. ). Auch die bekannte, nicht blos in der Schweiz, sondern in andern Gebirgsländern verbreitete Tradition von den s. g. Venedigern, welche die Kunst verstanden, ohne weitere Beihülfe Gold und andere edle Metalle aus dem Berginnern herauszubringen, gehört hieher ( Vernaleken, Alpensagen S. 158. Lütolf, Sagen Seite 68, 508 ).
Zu den schönsten Gebirgssagen gehört eine grosse Gruppe, die man als « Zwergensagen » rubriciren kann. In alter Zeit lebten in der Alpenregion mit den Menschen die Bergmännchen, Waldmännli, Waldfänken, Dialen, oder wie man die kleinen Geschöpfe in den verschiedenen Gegenden verschieden benannte. Sie standen mit den Menschen in freundlichem Verkehr und nahmen diesen manche Arbeit ab. Klein waren sie zwar, aber stark und erfahren in der Alpenwirthschaft. Aus der Gemsmilch bereiteten sie kleine Käse. Ihre Wohnung war im Berginnern und von den dort verborgenen Schätzen theilten sie auch wohl den Menschen mit. Aber theils übel angebrachte Neugierde der Menschen in die Geheimnisse der kleinen Ge- 600.Osenbrüggen.
schöpfe einzudringen, theils tibermüthige Neckereien störten das freundliche Verhältniss und allmälig sind die Bergmännchen ganz verscheucht worden. Auf solche Neckereien beziehen sich die bekannten Sagen aus dem Gadmenthal, dem Haslithal, vom Grindelwald. Manche Gegenden, in denen sie vorzugsweise sich bewegt haben, auch Eingänge zu ihren Wohnungen im Berge sind noch in der Erinnerung der Alpenbewohner geblieben. Eine Zwerghöle ist in der Furrenfluh bei Guttannen, bei Seewis zeigt man " solche Holen und merkwürdiger Weise soll das Pfaffenloch bei dem Schlosse Rümlingen Wohnung der Zwerge gewesen sein, wo doch der heilige Odilo, der aus Clugny berufen wurde das Kloster Rüggisberg einzuweihen, seine Klause hatte. Nach dem Bericht von Pfarrer Gerwer war ein Eingangsportal für die Zwerge « im oberen Eispfad » am Fusse des Wetterhorns.
Zunächst ist zwar bei den Zwergen ihre Kleinheit charakteristisch, aber eine weitere Eigenthümlichkeit ist, dass sie Ziegen- oder Gänsefüsse haben, und dadurch erscheinen sie noch mehr als Mittelwesen zwischen Mensch und Thier. Als einmal das Geissmaidli am Hasliberg einen hübschen Jungen in einen Heugaden lockte, sah der Bursche, als sie die Leiter hinanstieg, zu seinem Schrecken ihre Geissfüsse und folgte ihr nicht.
Man kann auf die Zwergensagen anwenden, was einst V. von Sonstetten bemerkte: « Die Idee der Grosse bleibt immer klein neben den Alpen und die Fabel der Giganten wäre nie in der Schweiz erfunden worden ». Allein, wenn auch nicht so häufig wie die Zwerge, kommen doch in 4er schweizerischen Gebirgssage Riesen vor. Bekannt « ind die drei Riesen von Iseltwald, welche sich in Bären-und Wolfshäute kleideten und durch ihre wuchtigen Hiebe dem deutschen Kaiser die Schlacht gewannen. Mehr noch gehören der Alpenregion an die wilden Männer, welche oberhalb Gersau nach Rigi-Scheidegg zu gehaust haben {Rochholz, Naturmythen, S. 15 ).
Aus jener Urzeit stammen auch die Drachensagen, aber der Glaube, dass in den einsamen Seen hoch im Gebirge oder in Felsschluchten Drachen, Lindwürmer und ähnliche Ungethüme ihren Aufenthalt haben, reicht bis in die neueste Zeit, weil dabei ein Zusammenhang ist mit den Witterungsänderungen. Nicht blos die Gipfel der hohen Berge, sondern auch die Hochsee'n sind Wetterpropheten. In einem Augenblick liegt der See ruhig da, im anderen Augenblick ändert sich seine Farbe und das stille Wasser braust auf, ohne dass noch Lufterscheinungen besonderer Art das Herankommen bösen Wetters anzeigen. Da nehmen die Hirten an, ein grosser Fisch oder ein anderes Ungethüm rege sich im tiefen Wassergrunde und die Scheu vor dem unheimlichen Bewohner der Tiefe hält sie auch ab, etwas in den See zu werfen. Das mystische Bündnerland ist reich an Sagen von Drachen und See-ungethümen und wer auch nur den Lago bianco und Lago nero am Berninapass gesehen hat, der kann sich solche Glaubensartikel der Hirten erklären.
Erst spät lasse ich eine Persönlichkeit aus den Gebirgssagen auftreten, die doch alle Aufmerksamkeit verdient. Diese Person ist keine andere als der Teufel selbst. In den auf ihn sich beziehenden Sagen ist es aber schwer das Ursprüngliche, ich möchte sagen das Heidnisch-Germanische aus dem christlichen Beiwerk herauszufinden, Sage und Legende gehen hier in einander über. Der alte Teufel ist gar nicht so schlimm, als ihn nachher die Theologen gemacht haben und in seinem Geschäftsverkehr mit den Menschen ist er oft von diesen hintergangen worden. Sie wurden sogar so vermessen,
von einem « dummen Teufel » zu sprechen. Er erscheint noch gar nicht als böser Geist, wenn es in der Appenzeller Sage heisst, das liebliche Appenzellerländli habe ihm so sehr gefallen, dass er sich vorgenommen, dort eine Stadt zu bauen; daher habe er in einem grossen Sack eine Menge hübscher Häuser geholt, sei aber in seiner Eilfertigkeit unvorsichtig gewesen, als er über das Gebirge schritt, der vollgepfropfte Sack habe die scharfe Felsenkante des Säntis gestreift und sei zerrissen, da seien denn die lieblichen Häuser über die Alpen bis ins Thal hinab zerstreut worden.
Die Bedeutung des Teufels in der Sage zeigen die Teufelsbrücken, Teufelssteine, Teufelsmauern, Teufelskan-zeln u. s. w. Von den Teufelsbrücken, deren es manche gibt in und ausserhalb der Schweiz, ist die berühmteste die Eeussbrücke in wilder Umgebung an der Gotthardsstrasse und an diese Teufelsbrücke hat sich auch vornehmlich die Sage angesetzt, deren Grundzug darin besteht, dass der Teufel, gross und stark und ein geschickter Brücken-Ingenieur, es übernimmt, an der schlimmsten Stelle ein Brückenjoch über den tobenden Fluss zu spannen, was menschliche Kräfte nicht vermochten. Als Lohn wird ihm versprochen der Erste, welcher über die Brücke gehen werde. Der Teufel erfüllt seinerseits den Contrakt, in drei Tagen ist die Brücke fertig und wird « collaudirt ». Als er nun aber müde von der schweren Arbeit nieder-hockt und auf den Ersten wartet, da schicken die schlauen Urner einen Hund über die Brücke und lachen, wie sia selbst den Teufel zu überlisten wissen. Der Schwarze aber wird wüthend, zerreisst den Hund in tausend Stücke und nimmt sich vor, die Brücke wieder zu vernichten. Er läuft in den Wald bei Wasen und holt einen haushohen Stein; als er aber, unter der Last keuchend, an das Dorf Göschenen kommt, begegnet ihm ein altes Mütterli und ruft ihm ein « Gruss Gott » zu.
Das fährt ihm in die Glieder und er lässt den Stein fallen, wo er noch liegt und als Teufelsstein gezeigt wird. Die Brücke hiess fortan die Teufelsbrücke.
Bei dieser Sage findet sich die kleine pikante Variante, dass nicht ein Hund, sondern eine Ziege über die Brücke spedirt wird und dass der ergrimmte Teufel dem Thier nur den Schwanz abreisst, woher es kommt, dass die Ziegen so kurze Schwänze haben. Bedeutender ist die Abweichung in der Form der Sage im Sagenbuch der Gebrüder Grimm, insofern ein junger Hirt, der sich immer mühsam durch die Reuss durcharbeiten musste, um zu seiner Geliebten zu kommen, dem Teufel die Veranlassung gab, die Brücke zu bauen. Das « Gruss Gott » der alten Frau dem der Teufel nicht widerstehen kann, nähert die Sage schon der Legende, aber zur matten kirchlichen Legende ist die Sage geworden, wenn dem Christen-apostel und Bischof Gotthard die Erbauung der Brücke zugeschrieben wird, oder auch schon, wenn dieser heilige Mann dem Teufel, der mit dem grossen Stein daher kommt, um die Brücke zu zertrümmern, entgegen geschickt wird. Wenn auch der Uebertritt der Teufelssagen in das Gebiet der Legende sehr nahe lag, so ist doch ein grosser Unterschied, ob der Uebergang plump oder ungezwungen gemacht wird. Das Letztere ist noch der Fall in der Behandlung der Sage in diesem Jahrbuch III, 238. Die dort mitgetheilte, in Auslauf und Form neue Sage hat mit manchen Teufelssagen gemein, dass, wenn der bedrängte Mensch den Teufel anruft, dieser auch sogleich zur Stelle ist. Es liegt darin ein tiefer ethischer Zug. Der Mensch soll auf der Hut sein vor bösen Gedanken, denn der Uebergang vom bösen Gedanken zur bösen That vollzieht sich in der Regel rascher, als das Werden der guten That aus dem guten Vorsatz.
Um noch den engen Anschluss der Gebirgssagen an 4as Leben derer zu betonen, bei denen sie entstehen und von Mund zu Mund überliefert werden, wähle ich eine Sage aus, die zu den schönsten gehört und in verschiedenen Gegenden der Schweiz Verbreitung gefunden hat. In Churwalden hörte ich sie in dieser Einkleidung. Auf der nach Churwalden gehörigen Alp Stätz weideten fünf Männer und Knaben in einem Sommer ihre Heerde. Da kamen Nachbarsennen von Obervatz, fingen Streit an mit den Churwaldnern und erschlugen alle bis auf den Kuhhirten, dem es gelang, zu entfliehen. Er eilte mit seinem Alphorn auf einen Vorsprung des Berges nach Churwalden .zu und blies aus Leibeskräften, um dem Thal Kunde zu geben von der Unthat. Seine Braut war grade am Brunnen in Churwalden beschäftigt, horchte auf die langgezogenen Töne und verstand auch deren Bedeutung. Daher eilte sie mit einigen Männern auf die Alp, von wo das Blasen noch fortgesetzt wurde, dann aber plötzlich verstummte. Als die Eilenden oben ankamen, fanden sie den Hirten auf dem Rasen liegen; er hielt sein Alphorn noch in der Hand, aber das Herz war ihm zersprungen. Die erbitterten Churwaldner folgten den Feinden nach, erschlugen alle und nahmen das geraubte Vieh an sich. In einer nicht wesentlich verschiedenen Form findet sich diese Sage auch in dem wilden Bergthal Habkeren, dagegen ist sie modificirt und complicirt in der Mittheilung, welche Pfarrer Gerwer aus seiner Gegend gegeben hat in dem Pracht-
Die aus dem Leben erfasste Thatsache, dass arme Jungen, welche als Handbuben oder sonst im Dienste der Sennen, von diesen in der Bergeinsamkeit oft grausam behandelt werden, ist der Ausgang mehrerer Sagen, die dann einen verschiedenen, eigenthümlichen Verlauf nehmen.
Sehr schön ist eine Sage dieser Art, welche sich an die Glarner Sandalp knüpft ( Schott, Alpenrosen 1838 S. 131 ), und gleichfalls interessant ist die Sage von der Altenalp in Appenzell ( J. B. Dähler, Volkssagen aus Appenzell-Inner-rhoden 1854 N. 5 ).
Damit die Gebirgssagen für eine künftige « schweizerische Gebirgskunde » verwerthet werden können, ist e& nothwendig bei dem Sammeln derselben, wie.^für die weitere Mittheilung, nach festen Eegeln zu verfahren. Ich erlaube mir daher, am Schlüsse meines Aufsatzes anzugeben, wie ich mir die'Aufgabe der Alpensteiger in dieser Richtung denke.
Es wäre wohl nicht paradox zu sagen, dass Sagen nur da gefunden werden, wo sie geglaubt werden. Nun ist zwar solcher Glaube im Gebirge noch nicht verschwunden, aber er verschwindet immer mehr und damit verringert sich der Sagenschatz, der deshalb möglichst in Sicherheit zu bringen ist. Es ist vollkommen wahr, was ein des Gebirges und der Gebirgsleute sehr kundiger Clubgenosse mir darüber schrieb: « Es ist grade die höchste Zeit, die noch im Volke lebenden Sagen durch Aufzeichnung vor gänzlichem Verklingen zu bewahren. Die Cultur beleckt die Leute auswendig und sie fangen an, sich der alten Volkseigenthümlichkeit zu schämen, die man gern an ihnen sähe, weil sie poetische Seiten bietet, während die innerliche Bärenhaftigkeit und Kohheit sammt allen ihren prosaischen Nebenseiten durch besagtes Lecken noch lange nicht beseitigt sein wird. Es gehört ein eigenes Talent dazu, mit unseren Bergbewohnern so weit vertraut zu werden, dass sie die alten Geschichten und Sagen erzählen^, welche ihnen die Grossmutter überliefert hat ». Die in den letzten Worten angedeutete Schwierigkeit ist unleugbar vorhanden und zum Theil durch taktlose Frager verschuldet.
Grossmütter erzählen aber immer noch gerne alte Geschichten und da muss man nicht nur willig mit ihnen in die alte « gute » Zeit zurück gehen, sondern sie auch ausreden lassen, wenn, sie ausführlich werden und nur von Zeit zu Zeit durch eine geschickte Wendung sie von der Abschweifung auf das Thema zurücklenken. Vor Allem ist es aber nothwendig, dass man den rechten Glauben zeigt un das, was eben nicht zu begreifen, sondern nur zu glauben ist. Solche Gläubigkeit ist mir schon oft zur Wünschelruthe geworden, wo ich Dinge aus dem Volksleben zu erfahren wünschte.
Hat man alte Leute, die Träger der Sage, zum Erzählen gebracht, so muss man manches mitnehmen, das wie die Spreu vom Weizen zu sondern ist. Eine sondernde Kritik, welche man für sich zur Anwendung bringt, muss aber noch weiter gehen. Man soll auf der Hut sein gegen solche Sagen, welche durch Leetüre aus Zeitblättern, Kalendern oder auf andere Weise aus der Fremde an einen Ort gekommen sind. Nicht als ob solche Sagen ohne Werth wären, aber sie sind oft verkünstelt, während die in einer bestimmten Gebirgslokalität gewachsenen Sagen, welche wie ein Echo von den Felsen wiederhallen, in ihrer Einfachheit die Ursprünglichkeit anzeigen. Das gilt wenigstens von den Naturmythen, die darin mit den Volksliedern zusammentreffen. So wie man es den Volksliedern oft gleich anhört, dass sie gepudert oder wie sie ver-schnörkelt sind, so auch manchen Sagen. Die Volkssage soll, wie Lütolf kurz und richtig bemerkt, « schlicht und recht » wiedergegeben werden und der Mann, den wir als den Hohenpriester im Sagentempel ansehen, sagt sehr schön: « Die Volkssage will mit keuächer Hand gelesen und gebro- chen sein.
Wer sie hart angreift, dem wird sie die Blätter krümmen und ihren eigensten Duft vorenthalten. In ihr steckt ein solcher Fund reicher Entfaltung und Blüthe, dass er auch unvollständig mitgetheilt in seinem natürlichen Schmuck genugthut, aber durch fremden Zusatz gestört und beeinträchtigt wäre. Wer diesen wagen wollte, müsste, um keine Blösse zu geben, in die Unschuld der ganzen Volkspoesie eingeweiht sein, wie der ein Wort zu ersinnen ausginge, in alle Sprachgeheimnisse » ( Jakob Grimm, deutsche Mythologie, Vorrede ). Mit solcher Scheu hat der Züricher Beithard das Sageiigebiet nicht betreten und mögen auch manche seiner Zusätze und Veränderungen schweizerischer Sagen poetisch genannt werden können, so sind sie doch übel angebracht. Als Sage wäre auch die Erzählung vom Zwerg und dem Stollenwurm auf dem Räterichsboden bei Karl Vogt « Im Gebirg und auf den Gletschern » verkünstelt zu nennen, sie ist vielmehr ein hübsches Märchen, an Gestalten der Sage angeknüpft und ein solches wollte Vogt geben. Grimm sagt a. a. O.: « Das Märchen fliegt, die Sage geht; das Märchen kann frei aus der Fülle der Poesie schöpfen, die Sage hat eine halb historische Beglaubigung. Wie das Märchen zur Sage, steht die Sage selbst zur Geschichte, und, lässt sich hinzufügen, die Geschichte zu der Wirklichkeit des Lebens », Um hier am Schlüsse die Aufgabe der Alpenclubisten als Sammler von Gebirgssagen nochmals zu präcisiren meine ich, dass diese Aufgabe darin bestehe, die Sagen an ihren Ursprungsstätten in der natürlichen Frische zu erfassen und « schlicht und recht » wiederzugeben. Wir dürfen es dann den Mythologen von Fach überlassen, aus der Sagenfülle gelehrte und tiefsinnige Combinationen zu machen.