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Die «Poire»

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Michel Vaucher, Genf

Mont Blanc, Brenvaflanke, Poire-Route wecken Erinnerungen. Die mächtige italienische Wand des Mont Blanc ruft in uns das grosse Abenteuer von anfangs unseres Jahrhunderts mit allem, was es an Einsatz verlangte, wach. Die ungeheure Wand, welche zum Dach Europas führt, zieht uns in ihren Bann. Die schon bezwungenen Spitzen und die Schwebebahnen können der Brenvaflanke ihre Schönheit und Grossartigkeit nicht nehmen.

1957 hatte ich Gelegenheit, die Major-Route zu begehen. Der nächtliche Aufbruch im Schein unserer Lampen, nach Tagesanbruch die Sonne, welche uns schon hoch oben in der Wand erreichte, die scharfen Schneegrate, die endlosen Gipfelhänge - ich erlebe sie wieder in Gedanken mit Begeisterung, diese für mich ideale Tour; denn sie führte mich zum erstenmal auf den Mont-Blanc-Gipfel.

1966 meisterte Yvette die Sentinelle-Route. Am gleichen Tag stand ich auf dem Matterhorn. Beim Blick in den wunderbar klaren Herbsttag begegneten sich unsere Gedanken.

Im Laufe der Sommer werden viele Pläne « grosser Touren » geschmiedet und diese nach und nach verwirklicht. Den Sommeranfang 1969 hatten wir verpasst. Prächtige Tage verflossen, während deren wir auf die Ausführung einer mündlich getroffenen Abmachung warteten, die dann ins Wasser fiel. Endlich, am 15. Juli: Schluss der Untätigkeit! Das Bergfieber packt uns mit Gewalt, wir müssen etwas unternehmen. Wie herrlich ist es, den Sack wieder aufzunehmen, die Schuhe einzulaufen, im Anmarsch zu schwitzen! Unsere Hochtourensaison beginnt. Mein Kamerad oder, besser gesagt, meine immer gegenwärtige Kameradin ist - Yvette! Wir durchqueren die Zentralschweiz, die Dolomiten und das Mont-Blanc-Massiv. Man glaubt zu träumen, wenn man an die von René Mayor, dem Führer aus den Drancetälern, und von Armand Sarasin, dem Führerasprianten, ausgeführten Touren dieser Saison denkt. Am gleichen Tag die drei Routen des Petit Clocher du Portalet; dann der Pilier Bonatti der Drus, die Nordostwand des Badile, die Eigernordwand — das alles in einer einzigen Saison! Es wird bald kein einziges Projekt « grosser Touren » mehr übrigbleiben. Sie werden bald alle « gemacht » sein!

September: Rückkehr in den städtischen Betrieb mit der etwas mühsamen Wiederanpassung an den Lärm, die Alltagspflichten und den Stundenplan. Auf der Reise nach Trento zum internationalen Festival der Berg- und Forschungsfilme passieren wir den Mont-Blanc-Tunnel. Wir erforschen das Massiv nach allen Seiten. Die Poire springt uns ins Auge. Ob der so schöne Herbst erlauben wird, diesen alten Wunsch zu erfüllen?

Samstag, 11. Oktober, zehn Minuten vor t 12 Uhr: Die Glocke kündigt den Schulschluss an. Ich eile zu meinem Fahrzeug. Zu dieser Zeit die Stadt zu durchqueren ist kein Vergnügen! Rot-licht - Zeit zum Nachdenken. Bedeckter Himmel — zeigt er das Ende des schönen Wetters an? Man muss das Äusserste versuchen: die Kabine zur Aiguille du Midi erreichen - bei Nacht zur Hütte gelangen, ohne zu wissen, wo sie genau liegt -kein Mond sorgt für Helligkeit... Und dann - es hat geschneit; Freunde haben letzten Sonntag auf die Route verzichtet.

Zu Hause: « Gruss Gott, Yvette! » Schnell zieht man sich um, schnell wird gegessen. Yvette hat den Proviant schon vorbereitet. Noch bleibt das Material zu besorgen - Laufschritt zwischen Keller und Estrich. Noch ein Sprung zum Tabakladen, um Batterien und Zigaretten zu kaufen; dann geht es los.

« Sicher haben wir etwas vergessen! » Ich werde hässig. Bah! es wäre nicht das erste Mal... Die gutbekannte Fahrt verläuft nach unserer Ansicht viel zu langsam. Es ist schrecklich, nur einen kleinen Wagen zu besitzen, wenn man es eilig hat. Chamonix - 4 Uhr. Die letzte Kabine fährt in zwei Minuten. Wir erreichen sie gerade noch und sind kurz darauf auf dem Gipfel der Aiguille. Der Himmel ist stark bedeckt.

« Kein schlechtes Wetter; es herrscht Ostwind! » erklären uns die Angestellten der Schwebebahn. Also gut, es lebe der Ostwind!

Wieder beruhigt, seilen wir uns im Tunnel an, bevor wir auf dem Grat absteigen; er ist vereist, so dass wir unsern Gang vorsichtig sichern. Bald aber beschleunigen wir unsere Schritte, um die Hütte noch vor dem Einbruch der Nacht zu erreichen. Wir kennen beide das Biwak de la Fourche nicht, aber die neue Ghilionehütte. Es ist beinahe Nacht, als wir am Fuss der Pointe Adolphe Rey vorübergehen. Trotzdem bestimmen wir den wahrscheinlichen Standort der Hütte. Kurz nachher finden wir im Schein unserer Frontlampen eine Spur, die in der Combe Maudite hinaufführt. Wir steigen aber nur mit einer einzigen elektrischen Taschenlampe den steilen Hang zur Unterkunft empor. Yvettes Lampe funktioniert nicht mehr, und meine Frau muss sich deshalb ganz allein im Dunkeln zurechtfinden. Trotz dieses Missgeschicks langen wir bald in der Hütte an, wo wir sympathische Franzosen antreffen.

Zwei von ihnen gehen zur Sentinelle, die zwei andern auf die Poire. Wir werden also nicht allein sein! Und dennoch habe ich keine grosse Lust, die Poire zu besteigen. Ich bin nur mittelmässig in Form. Seit Ende August habe ich keine grosse Tour unternommen, und diese Flanke des Mont Blanc stellt grosse Anforderungen an Ausdauer und Muskelkräfte! Einer der Franzosen ist krank und muss auf die Tour verzichten. Georges, sein Freund, ist untröstlich; er möchte so gern die Poire besteigen! Wir schlagen ihm vor, sich uns anzuschliessen. Er nimmt mit Freude an und erreicht damit, mich umzustimmen. Verschneite Felsen, körperliche Verfassung — alles verblasst vor seiner Entschlossenheit! Die defekte Taschenlampe ist repariert, und wir legen uns schlafen.

Sonntag, 12. Oktober, 5 Uhr: Wir verlassen die Hütte in stockdunkler Nacht. Wir brechen absichtlich spät auf, um unsere Route vom Col Moore aus gut bestimmen zu können, und treffen dann auch dort bei Tag ein. Geht es von dort aus hinauf oder hinunter? Unten sind Steintrümmer und Séracs zu traversieren - oben steile, vereiste Couloirs und Lawinenzüge. Wir entscheiden uns für die obere Variante, denn in dieser Jahreszeit sind keine Lawinen zu erwarten - mit Ausnahme derjenigen von 7 Uhr am letzten Sonntag, die von unsern Freunden beobachtet wurde und heute zur gleichen Zeit vor unsern Augen wieder herunterkommt. Das Krachen dieser Eislawine lässt uns anhalten. In der wieder eingetretenen Stille setzen wir dann, mit Schneestaub bedeckt, unsere Traversierung an den Fuss der Felsen der Poire fort. Mit grosser Erleichterung langen wir dort an. Die Sonne wirkt wohltuend, die Stimmung ist freundschaftlich. Georges zeigt uns, dass er Führeraspirant ist. Schon seit unserem Aufbruch beurteile ich ihn als sehr sicher und vorsichtig. Ich bemerkte, dass er sich Yvette gegenüber wie ein Führer gegenüber seinem Kunden verhält. Dazu gesellt sich ein gesunder Menschenverstand. Unsere Seilschaft rückt rasch voran. Zu unserer Rechten, schon sehr weit oben, befindet sich die Sentinelle-Seilschaft. Vorerst säubere ich die Tritte in den verschneiten Felsen der Poire. Die angeschnallten Steigeisen, welche wir während der ganzen Tour nie abnehmen, erleichtern das Vorrücken nicht immer. An einer leicht überhängenden Stelle muss ich mich voll und ganz einsetzen, stelle aber freudig fest, dass es der Felsgipfel ist. Der Höhenmesser zeigt 4200 Meter. Es ist Mittag; eine kleine Pause erlaubt uns, die letzten Sonnenstrahlen zu geniessen. Zu unserer Linken der blendende Peutereygrat, rechts der dritte Schneegrat des Major, über uns die Aiguille de l' Etoile, die letzten Hänge und - der blaue Himmel! Der Ostwind hat seinem Ruf alle Ehre gemacht!

Noch sind sechshundert Meter Höhenunterschied zu bewältigen. Alle vierzig Meter schliessen wir zu Georges auf, der die Führung übernommen hat. Es ist sehr kalt; die Sonne ist hinter dem Grat verschwunden, und der Hang richtet sich auf. Wir treffen oft blankes Eis an, das Georges, ohne Tritte zu schlagen, bewältigt. Wir fühlen, dass uns von jetzt an nichts mehr hindern kann, den Gipfel zu erreichen, jedoch verlangsamt sich der Rhythmus. Der Mangel an Training macht sich bemerkbar. Die Haltepausen mehren sich, und die Kälte durchdringt uns trotz der Anstrengung. Der Gipfelgrat nähert sich nach und nach. Ah, die letzten Meter! Herrlich, wieder das intensive Sonnenlicht geniessen zu können! In solchen Augenblicken spürt man, wie unentbehrlich es uns ist. Nun sind wir alle auf dem Grat beisammen, geniessen in vollen Zügen diesen Augenblick und brechen dann zum Gipfel auf, wo wir etwa um 5 Uhr eintreffen. Der Schat- ten des Mont Blanc zeichnet sich weit draussen im Luftraum ab. Es ist das erste Mal, dass wir einem solchen Schauspiel beiwohnen. Doch nun Schluss mit der Bewunderung! Georges Füsse sind unempfindlich, und er hat es eilig, sie in der Vallothütte zu wärmen. Bei wunderbar klarem Sonnenuntergang unternehmen wir den Abstieg. Eine renovierte Unterkunft erwartet uns. Georges erzählt uns von neuen Schlafstellen, neuen Decken, einem neuen Eingang. Die Türe ist geschlossen, wir können nicht eintreten, so kräftig Georges auch am Türgriff zieht!

« Gemeinheit! Schon das letzte Mal war die Türe schwer aufzukriegen! Da, probier du einmal! » Ich nehme einen tiefen Atemzug und - knacks! Der Griff ist abgebrochen! Das ist die Höhe; wir werden die Nacht im Freien verbringen müssen! Aber Georges bittet uns, einen Augenblick zu warten, und - bald öffnet er uns von innen. Er ist ganz einfach durch das kleine WC-Fenster gekrochen! Ich setze das Rechaud in Betrieb, und etwas später trinken wir heissen Tee. Georges Füsse machen uns aber Sorge; mehrere Zehen sind weiss und eiskalt. Yvette verabreicht ihm ein gefässerweiterndes Mittel, und bald stöhnt er unter unerträglichen Schmerzen. Die Blutzirkulation setzt wieder ein, und unser Kamerad muss sich beherrschen, um nicht loszubrüllen. Nach einer Stunde hat sich die Lage noch nicht geändert. Georges schluchzt und windet sich auf den Pritschenplanken. Unsere Apotheke enthält schmerzstillende Ampullen; ich beschliesse, ihm eine Spritze Pantopan zu verabreichen. Voller Hoffnung erwarten wir die Wirkung; eine lange Stunde vergeht, doch Georges leidet noch immer so stark, dass wir um seinen Verstand bangen. Endlich nehmen dann aber die Schmerzen doch rasch ab und verschwinden. Unser Kamerad entschuldigt sich bei uns.

« Ich habe mir Erfrierungen wie ein blutiger Anfänger zugezogen! » bemerkt er. Er nimmt ein Schlückchen Tee, erbricht sich aber sofort. Trotz allem verbringt er eine ordentliche Nacht.

Montag, 13. Oktober: Georges geht es gut. Seine Füsse schmerzen noch etwas, und er sagt lachend zu uns: « Wenn man mit beiden Beinen hinkt, sieht 's niemand! » Es folgt ein mühsamer Abstieg nach den Grands Mulets. Der nur oberflächlich gefrorene Schnee hält nicht, und wir sinken oft mehr als knietief ein. Dann erreichen wir die Jonction mit ihrem Spaltengewirr. Endlich folgt blankes Eis! Wir sind alle drei sehr müde. Georges steigt längs einer Spalte ab, Yvette folgt ihm, stolpert und fällt... Ich erfasse die Situation etwas spät, spanne das Seil den Bruchteil einer Sekunde zu spät, und der Ruck wirft mich aufs Eis. Ich liege hilflos auf dem Bauch - aber die logische Folge stellt sich nicht ein. Es gelingt mir, Yvette soweit zu halten, dass sie sich aufrichten kann; sie hat sich unwillkürlich zwischen den Spaltenwänden verstemmt, und ich vermeide es denn auch, ihr bäuchlings nachzurutschen! Wir befreien Yvette aus ihrer misslichen Lage. Georges, an der Spitze, hatte selbst keine Zeit, zu erfassen, was geschah. Dann geht es schleunigst zum Plan de l' Aiguille; doch erfahren wir dort, dass sich die Schwebebahn in Revision befindet! Das wäre somit der letzte Zwischenfall dieses verlängerten Wochen-endesÜbersetzung: Jakob Meier

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