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Ein Tag in Üschenen

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Hanspeter Sigrist, Oberbalm

Ein Klettergebiet macht Geschichte In der Anfangsphase, als sich in der Schweiz die Entwicklung zum Freiklettern erst abzuzeichnen begann, wurden am Felsband von Üschenen, oberhalb von Kandersteg, Anstiege eröffnet, die zu den schwierigsten der Schweiz zählten. Die Routen bewegten sich zunächst im Bereich des sechsten, dann des siebten und schliesslich des achten Grades. Besonders Aufsehen erregten die konsequent von unten eröffneten Routen wie Le Toit, Quo Vadis, Via del Ladro Corda und Kolibri.

Als man aber auch in Üschenen begann, die ersten, meist kürzeren Anstiege abseilend zu eröffnen, wurde es plötzlich etwas stiller um dieses Klettergebiet. Während die einen diese neue Praxis verärgerte, glaubten andere, die vorhandenen Möglichkeiten seien bereits weitgehend ausgeschöpft. Und so konzentrierte sich das Interesse auf Gebiete, die noch weniger erschlossen waren. Erst 1988 rückten durch die Eröffnung neuer Routen die landschaftlich überaus reizvoll gelegenen Felsen von Üschenen wieder ins Blickfeld. In der Zwischenzeit hatte man auch gelernt, die verschiedenen Aspekte mit mehr Objektivität und der nötigen Toleranz zu betrachten, sind doch die Unterschiede zwischen von unten und von oben eingerichteten Klettereien nun jedem klar und Vor- und Nachteile bekannt geworden. Beides ist möglich, beides hat seine Berechtigung und nicht zuletzt auch seinen besonderen Reiz. Es gibt anspruchsvolle Anstiege wie zum Beispiel die von unten eröffnete Route Kumulus von Martin Stettier, die eine gesunde Moral und hohes Können erfordern und damit auch über einen ganz eigenen Erlebniswert verfügen. Dasselbe gilt für die von den rein klettertechnischen Schwierigkeiten her gesehenen Spitzenrouten und Anziehungspunkte für leistungsstarke Kletterer Bschüttigütti{\Q ) und Fusion ( 10- ). Diese stellen jedoch andere Anforderungen - nicht nur an den Kletterer, welcher der Besonderheit der Route mit Konsequenz und grösster Konzentration begegnen muss, sondern auch an den Sichernden, der viel zu einem schnellen Gelingen eines solch anspruchsvollen Unternehmens beitragen kann.

Die beiden Spitzenrouten wurden 1988 erstmals Rotpunkt geklettert: die Fusion durch Jürg von Känel im Oktober, und das langjährige Projekt Bschüttigütti gelang dem Autor an einem neblig-kalten Tag im Sommer. Dies, nachdem die Route neu eingerichtet und die Linienführung im obersten Teil noch bestimmt werden musste. Die Durchsteigung derartiger Routen bietet - besonders wenn sie, wie in diesem Fall, nach nur sehr kurzer Vorbereitungszeit bereits im ersten Vorstiegsversuch gelingt- sehr intensive Klettererlebnisse und gehört deshalb zu den Höhepunkten im Leben eines Kletterers.

Jene Augenblicke, in denen alle Voraussetzungen gegeben sind, damit eine Route im 10. Schwierigkeitsgrad in sehr kurzer Zeit gelingt, lassen sich kaum im voraus bestimmen oder planen. Zumindest mir scheint diese Fähigkeit nicht gegeben zu sein - selbst wenn ich mich vorher lange und intensiv mit mir und meinem Ziel auseinandergesetzt habe.Viel-leicht kann man aber eine solche Herausforderung auch nur bestehen, wenn ihr eine besondere Situation vorausgegangen ist. Eine Situation, die, von jedem Erfolgsdruck befreit, hemmende Blockierungen löst und so erst die notwendige Ausgewogenheit der Bewegungsabläufe ermöglicht.

Manchmal spielen aber auch klimatische Bedingungen eine grosse Rolle, indem sie erlauben, die Kraft voll auszuspielen - oder eben nicht. Kaum etwas vermag mich in einem schwierigen Aufstieg mehr zu irritieren als das durch eine etwas zu hohe Temperatur hervorgerufene unangenehme Gefühl, fast unmerklich, aber ständig von jedem Griff zu rutschen. In solchen Fällen konzentriere ich mich dann ganz von selbst auf dieses Problem und werde damit vom Klettern abgelenkt. Es kann aber auch vorkommen, dass ein Umfeld, so zum Beispiel zufällig anwesende Personen, derart motivierend wirkt, dass ein Kletterer sich plötzlich mit anscheinend grösster Sicherheit am Fels bewegen kann. Allerdings zeigt sich dann meist einige Zeit später, dass solche nicht zuletzt durch Im weit ausladenden Dach der Route « Fusion » ( 10- )

A

äussere Faktoren zustande gekommenen Leistungen mit enormem Kraftaufwand verbunden sind. Um so wertvoller und erlebnisinten-siver werden deshalb jene Momente empfunden, in denen man sich den Anforderungen gewachsen fühlt, selbst wenn die Ziele sehr hoch gesteckt sind.

Die persönliche Situation, die ( Atmosphäre ), der Tag, die Person des Sichernden -all das und vielleicht noch mehr müssen ideal zusammenpassen, um ein durchgehend positives Umfeld zu schaffen.

Routenziele Bei der Fusion handelt es sich um eine Kombination aus einer bestehenden Route im 9. Schwierigkeitsgrad und einer davon abzweigenden Traverse über ein ausladendes Dach. Der Ort, wo die ( Fusion ) stattfinden soll, ist gleichzeitig auch die Schlüsselstelle der gesamten Tour. Nach einer steilen, mit messerscharfen kleinen Griffen bestückten Passage und einem eindrücklich ausladenden Dach folgt die Stelle, an der sich alles entscheidet. Das Vor- und Nachher ist verhältnismässig leicht in den Griff zu bekommen, nicht aber die Loslösung von der ursprünglichen Linie, die gerade aufwärts weiterführen würde.

Ich habe mir die Route zusammen mit Heinz Gut ein erstes Mal an einem wunderschönen Herbstnachmittag im November angeschaut. Neben einem kurzen mit der etwas speziellen Linienführung und den originellen Bewegungsabläufen vor und nach der Schlüsselpassage reicht es gerade noch für je einen Vorstiegsversuch. An der Schlüsselstelle sind wir aber bereits völlig ausgepumpt, chancenlos, den ( Absprung ) von der geraden Linie überhaupt zu wagen. Voller Ehrfurcht beginnen wir auf der Heimfahrt von der neuesten zu sprechen.

Eine Woche später droht sich die Zeit des stabilen schönen Herbstwetters ihrem Ende zu nähern. Und damit scheint auch der Traum von der Fusion für dieses Jahr ausgeträumt zu sein.

Heinz weilt in Südfrankreich, er hat dort Ziele, die ihm eher machbar erscheinen. Und Gabriele will nach Italien. Sie mag den Nebel hier nicht und befürchtet, um diese Jahreszeit an den voralpinen Felsen ohnehin nur zu frieren. Am heutigen warmen und windstillen Tag sollte dies jedoch nicht der Fall sein, weshalb ich mich entschliesse, nochmals die Fusion zu versuchen und dann abends loszufahren. So können wir den vielleicht letzten sonnigen Herbsttag nützen, und Gabriele hätte die Möglichkeit, sich etwas von ihrer weiten nächtlichen Anfahrt aus Deutschland zu erholen.

Die eigenen Ziele zu nennen ist oft gar nicht so leicht. Geklettert wird nach wie vor zu zweit, und meist haben beide Partner ihre Routenziele und Vorstellungen, die auf einen zufriedenstellenden Nenner gebracht werden müssen. Deshalb scheint es mir manchmal recht schwierig, die eigenen Interessen vor mir selbst und dem Partner einzugestehen und gegebenenfalls sogar durchzusetzen, befürchte ich dabei doch, im Falle eines Misserfolges seine Hilfe zu Unrecht beansprucht zu haben. Andererseits sollten wir trotz derartiger Bedenken vielleicht vermehrt daran glauben, dass solche Unterstützung gerne geleistet wird und von Herzen kommt, wenn der Partner spürt, dass der richtige Moment da ist, um dem andern zu helfen, sein Ziel zu erreichen.

In der Route « Bschüttigütti ) ( 10 ), der schwierigsten Route im Klettergebiet von Üschpnpn Und es ist der richtige Moment! Üschenen präsentiert sich von seiner allerschönsten Seite. Die Luft ist frisch, und am Fusse der Felsen kann man sich noch in die warme Sonne legen. Die Berge sind schon weit hinunter eingeschneit, und bis auf einen einzelnen Kletterer, der am Einrichten einer neuen Route ist, sind wir hier oben allein.

Ein 7. Grad zum Einklettern und einige kurze Testzüge in den schwierigen Passagen der Route mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Schlüsselzug dienen der Einstimmung. Das linke Handgelenk schmerzt bei der extrem aufgestellten Fingerhaltung an dem runden Griff. Die kleine, unscheinbare Warze bohrt sich in die Fingerkuppe des rechten Zeigefingers. Hier muss ich mich mit aller Kraft festhalten, nur dann ist der weite dynamische Zug an den Fingerschlitz möglich. Dieser erste Vorstiegsversuch gelingt gar nicht schlecht. Beim Einhängen der blauen fixen Schlinge bin ich aber instabil und brauche deshalb viel Kraft. Zudem liegt die Hand unter dem Seil. Das kostet zu viel Zeit, um sie für das schwierige Nachgreifen freizubekommen. Ein zweiter Anlauf erfolgt nur wenig später, solange der richtige Teil der Bewegungsabläufe noch im Gefühl ist. Gabriele hat mich für das schwierige Einhängemanöver beruhigt und mir Mut gemacht. Ihre Anweisungen helfen mir in diesem Moment sehr viel, und es geht auch gleich deutlich besser. Nur um wenige Millimeter verfehle ich den Griff. Pause.

Wir wandern ein wenig umher und schauen uns den neuen kleinen Klettergarten an. Dann auch das Bschüttigütti. Immer wieder fasziniert mich diese Linie durch die steil aufschiessende Platte mit ihren nur winzigen Einkerbungen. Ich fühle mich gut. Ausgewogen und ruhig. Vielleicht deshalb, weil es mir in diesem Moment hier oben, inmitten einer wunderschönen Landschaft, an nichts fehlt.

Die Pause ist um, und ich muss wieder etwas tun: Den nächsten Versuch wagen. Wiederum bekunde ich Mühe, die Bewegung im entscheidenden Moment genau zu erfühlen und zu kontrollieren. Vor dem dynamischen Zug nehme ich noch zu viel Schwung, was bei der Kleinheit der Griffe ohnehin ein Unsinn ist. Selber fällt mir der kleine Fehler aber kaum auf. Ich spüre nur, dass etwas noch nicht ganz stimmt.

Gabriele gesteht mir noch einen Versuch zu, nur noch diesen einen. Beim Losklettern frage ich mich kurz, ob sie wohl ungeduldig ist oder ob andere Überlegungen dahinterstecken. Bestimmt würde sie mich noch einen weiteren Anlauf machen lassen, selbst wenn ich genau weiss, dass Konzentration und Kraft dazu nicht mehr ausreichen, dass die Haut an der Fingerspitze bald durchreisst und bei aller Feilscherei um einen fünften Versuch dieser mit Sicherheit danebengehen würde.

Im Dach ist kein Platz für derartige Überlegungen. Die weiten Züge erfordern volle Aufmerksamkeit. Dann der Überkreuzer an den winzigen Griff, der nötige Druck auf den Füssen, der Zwischengriff, und - mit etwas Glück - erwische ich den Schlitz mit einem Teil der Fingerspitzen. Ein kurzes Nachfassen und ich habe ihn richtig in der Hand. Die Traverse hat begonnen und muss jetzt noch konzentriert zu Ende geführt werden - bis an das vordere Dachende. Einhängen des letzten Hakens und ein entschlossener weiter Zug an den Ausstiegsgriff.

Die letzten Sonnenstrahlen und die freundliche Sicherungshilfe von Ernst Müller - er ist alleine hier oben unterwegs - erlauben uns sogar noch, den Quergang ein zweites Mal zu klettern, dabei einige Bilder zu machen und den schönen Moment noch etwas auszukosten.

In bester Laune packen wir unsere Sachen zusammen und verabschieden uns von diesem einzigartigen Ort. Die Sonne ist hinter dem Lohner verschwunden, und es wird schnell kalt. Die Bewegung auf dem Abstieg wärmt uns aber bald wieder auf.

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