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Eine Mondnacht auf dem Zinalrothorn

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Von Alois Ulrich.

Das Hohe, Göttliche, es ruht in ernster Stille, mit stillem Geist will es empfunden sein.

( Schiller. ) Im Biwak verschläft man sich nicht, das ist auch einer seiner Vorteile. Morgens 2 Uhr wies mir der Mond den Weg durch das Trümmerfeld des Besso nach dem kleinen Hotel und hernach zur Mountethütte, 2898 m, wo ich, wie verabredet, mit meinem Freund Karl Heuberger zusammentraf.

Ein vollkommen schöner Tag des Hochsommers 1934 lud uns zu einem Einlauf auf den Col Durand und die Pointe de Zinal, 3806 m. Wenn uns das Glück hold gesinnt ist, werden wir morgen auf dem Zinalrothorn, dem schönsten Gipfel der Walliser Riesen, stehen, das war unsere gemeinsame Hoffnung. Aus dem literarischen Studium allein kannten wir den Berg in allen Einzelheiten. Den direkten Anstoss dazu gab uns der verlockende Bericht Tscharners 1 ), der in Superlativen die Erklimmung über den Rothorngrat preist. In Würdigung der Schwierigkeiten, die uns dieser selten gewählte Anstieg aller Voraussicht nach bieten würde, waren wir einig, das Vorhaben nur unter besten Wetterverhältnissen zu wagen. Die beiden vergangenen Sonnentage mochten den Südwestgrat so ziemlich ausgeapert haben, was für uns erste Bedingung war, und mit jener eigenartigen Vorstimmung betraten wir um Mittag wieder die Cabane Constantia und freuten uns den ganzen Nachmittag der Sonne und der Ruhe.

Unsere Fahrt begann am 29. Juli, 310 Uhr. Wie wir in sehr gemächlichem Tempo die lange Gandegge hinanstiegen, krönte das prächtige Siebengestirn der Plejaden während einiger Minuten den Gipfel. In den stillen Gletscherzirkus ergoss sich das milde Mondlicht, und später warf uns die steile Gabelhorneisflanke den Frühschimmer des herannahenden Morgens zu. Das Weihevolle solcher Ubergangsstunden, wo Nacht und Tag sanft ineinander-fliessen, löst Eindrücke, die kaum mit Worten, vielleicht eher durch eine zarte Melodie wiedergegeben werden könnten, spielt man doch in solchen Minuten die Rolle des Hörers, der leisen Akkorden der Natur lauscht.

Beim Betreten des Glacier du Mountet vertrauten wir uns der Obhut des Seiles, das uns ununterbrochen bis wieder zur gleichen Stelle verbinden sollte. Wie romantisch war allein schon der Gang durch die labyrinthischen Eisklüfte bis zum Fuss der Westflanke des Rothorns! Beim Anblick des Grates ahnten wir schon die herrliche Turnerei als anregendes Vormittags-vergnügen und das Behagen einer längern Gipfelsiesta in gleissender Sonne voraus. Anfänglich erreichten wir eine ordentliche Höhe, bis schneebedecktes Wassereis Stufenhacken befahl. Also bauten wir eine Himmelsleiter und bezahlten sie mit gehörig Zeit. 826 Uhr standen wir im obern oder nördlichen Rothornjoch, 3800 m, die ersten Sonnenstrahlen willkommen heissend.

Dieser markante Einschnitt neben der Pointe du Mountet, 3878 m, wird von Trift aus angenehmer erreicht oder auch mit Überschreitung des Trifthorns. Doch beginnt der eigentliche Rothorngrat erst hier, zuerst weniger steil, später sich immer jäher zur Gabel auftürmend durch eine Parade zwölf gewaltiger, wild phantastischer Gendarmen von rötlicher Färbung.

Mit der innern Spannung mächtig pulsierender Kletterlust spottete ich zu meinem Kameraden: « So, nähmed mer no's Reschtli! » Gleich stellte sich uns der erste Gratwächter vor und verriet uns sofort den Stil der Kletterei. Im Eifer aber hatte ich nicht bemerkt, bis mein Gefährte es mir sagte, dass das Türmchen dem weiblichen Geschlecht angehöre, so liebevoll wie es uns aufgenommen hätte. Er schien damit recht zu behalten, denn in der Folge begegneten uns Gestalten der verschiedensten Charaktere dieser grossen zwölfköpfigen Familie liebe, hübsche und nette, schmollende, trutzige, abweisende und sogar ein verrückter, der mit Handschuhen angerührt sein wollte. Zwischenhinein klüften sich eingeklemmte Felsplatten in die Höhe, meist östlich überhängend. Beidseitig gähnen respektable Tiefen, die uns ein striktes Innehalten jeglicher Kletter- und Seiltechnik geboten.

Unter solchen Voraussetzungen war es eine Lust, uns am himmelstürmenden Grat hinaufzuarbeiten, die Kräfte im friedlichen Kampf mit den felsigen Wegelagerern zu messen. War wieder eine kühne Zinne erreicht, freuten wir uns und verschlangen für einen Augenblick die Azurbläue des Firmaments und das silberne Leuchten der Firne mit empfänglichen Sinnen. Wie sie bei unserer Annäherung an die Viertausenderlinie aus den Tiefen der Täler in die Höhe wuchsen, diese alpinen Kolosse! Dann rief uns die nächste Scharte erbarmungslos wieder herunter, bot in prickelnden Abstiegen eine grossartige Abwechslung in den verschiedensten Schwierigkeitsgraden, dass einem das Herz im Leibe lachte, und das Kletterspiel begann von neuem.

Herrliche Hangel- und Schulterpartien charakterisieren die Kletterei am Rothorngrat. Aber es ist nicht ein Hangen und Bangen in schwebender Pein wie auf glatten Kalkplatten oder felsbrüchigen Rippen, da lässt sich keine Stelle aufs Geratewohl überschwindeln. Rein und reell erhebt sich der Grat in der Klasse jener prächtigen Schwierigkeiten, deren Hindernisse auch den echtesten Alpinisten in ihren Bann ziehen.

Heute noch gedenken wir mit Respekt jener schwierigsten Stelle, wo uns der erwähnte « verrückte » Gendarm narrte. Er kündigt sich durch ein gewaltiges Bollwerk an, das wir auf abschüssigem aber breitem Gesimse westwärts zu umgehen versuchten. Wie sehr auch das unter dem Namen Bernina bekannte Winkelbeschläg unserer Bergschuhe in diesem ausserordentlich grobgekörnten Gneis vorzüglichen Halt fand, liess dieser Geselle doch erst mit sich reden, als wir ihm barfuss die Ehre unseres Besuches gaben. Diesmal fühlten wir den Nervenkitzel an den Fussohlen.

Ungezählte Male, zuerst mit dem Gedanken, dass die rassige Kletterei nur nicht so bald aufhöre, später mit immer mehr Ungeduld nach deren Ende, hielten wir Aufschau zur Gabel. Die prächtig ausgerichtete Flucht der kühn geformten Säulen schräg übereinandergeschichteter Gneistafeln hielt die zu schneidenden Firsten gruppierten Grateinsenkungen geschickt verborgen.

Eine Seillänge von 30 m, mit der grösstenteils der Grat abgemessen wurde, verlor sich unausgiebig an den steilen Felsen. Mächtig wirkten deren beidseitigen Abstürze auf das Gemüt, aber man hatte auch reichlich Gelegenheit, sich daran zu gewöhnen, und der Sonnenglast auf Fels und Firn verscheuchte zuweilen auftretendes Bedenken.

Endlich standen wir vor dem vermeintlich letzten Felsmonument mit seinen glatten Wänden und hefteten daran unsere Blicke ( weil es mit den Händen nicht mehr ging !), als wäre es der Loreleyfeisen. Doch harrten wir diesmal nicht einer Nixe, vielmehr der längst ersehnten Gabel. Fieberhaft, wie vor des Rätsels Lösung, verzichteten wir erstmals auf die allerdings schwerste Turmbegehung, umkletterten in einer Schneeflanke der Mountetseite die Felsbarrikade und erkannten in der nächsten Lücke einen entzwei-gespaltenen Sporn: Gabel genannt. Ein trottoirähnliches Band leitet horizontal in die ausgeprägte Gabelscharte. Wir atmeten auf. Fast zögernd, wir ahnten wohl warum, tasteten wir nach der Uhr: 450 Uhr. Wie staunten wir da einander in die Augen!

Durch Linksumgehung der Türme könnte der Aufstieg wesentlich abgekürzt werden, wodurch ihm aber die Eigenart genommen würde. Der Rothorngrat ist kein praktikabler Zugang zum Rothorn, seine Begehung hat nur Selbstzweck. Seine landschaftliche Grossartigkeit, die vorzügliche Beschaffenheit der Felsen, wie sie in den Alpen kaum ein zweites Mal ein Viertausender bietet, das alles schafft Eindrücke höchster Bewunderung. Ein Probestück des merkwürdigen Gneises, der von der grünlichen zur schwarzbraunen Farbe wechselt, nach Hause zu nehmen, blieb mir versagt, fand ich doch auf dem ganzen Grat bis zur Gabel kein einziges loses Bruchstück. Die aussergewöhnliche Ähnlichkeit der Türme ist durch die geologische Entstehung des Berges bedingt. Auf seiner ganzen Länge ist nämlich der Rothorngrat in einer Mächtigkeit von etwa hundert Meter gegen Osten senkrecht oder gar überhängend, so dass ein Ausweichen zermatterseits nirgends möglich ist. Die grosse Kette vom Weisshorn bis zur Dent Blanche gehört dem höchsten penninischen Deckenbau der Alpen an, ihr Gestein zählt zur Serie der Arollagneise, welche die jüngere der beiden schichtenweis aufgebauten Einheiten ( Arolla und Valpellina ) der Dent Blanche-Decken ausmachen; ihr vielleicht bis 35 km aus Südwesten erfolgter Schub beim Faltungsprozess der Alpen lässt sich deutlich in der auffallenden Plattenschichtung studieren, die für die meisten Rothornfahrer in den Binerplatten am augenscheinlichsten zutage tritt und die nun auch wir bald zu begehen hatten.

Wir spähten nach dem Rothorngipfel, der durch einen schroffen Vorbau verdeckt ist, sahen leichte Nebel um die Wände wallen, wandten unsern Blick wieder nach Trift hinunter, das so unendlich tief zu liegen schien, und mich beschlich ein seltsames Gefühl, als ich dort unten düstere Gestalten zu uns heraufsteigen sah. Sollten sie uns noch zuvorkommen?

Mit erhöhtem Interesse und erneuter Offensive verfolgten wir die letzte Phase der Besteigung. Da ist einmal die abschüssige Platte, über die 1894 der tragische Absturz des Führers Josef Maria Biner erfolgte, die heikelste Stelle. Eine Sicherungsmöglichkeit von der felsenfensterähnlichen Scharte, die mit einem Schlag den Blick in die jäh geneigte Gipfelwestwand eröffnet, ist durch die zerschlissenen, rauhen Felstafeln wirksam gegeben. Ungeachtet des morschen Seils lässt sich auf einer Firnrippe in der Fallirne zum schneeigen Gipfelgrat stufen. Die westlich überhängende Kanzel wird auf schmaler Felsleiste leicht umturnt, wobei man je nach Lust und Laune zwischen den Beinen hindurch den schauervoll lotrechten Tiefblick — 600 m — auf den Hohlichtgletscher mitnimmt. Nach wenigen Minuten winkt das trigonometrische Signal, welches zurzeit den 4223 m hohen Rothorngipfel markiert. Mit einem innern Hochgefühl erleben wir die so sehr erwartete Gipfelankunft, abends 7 Uhr.

Nun durften wir vom herrlichen Tage dankbaren Herzens Abschied nehmen. Als war 's ein gütiger Geist, der immer und allerwege unser Geschick in seiner Macht behält, so hätten wir mit dem Berge plaudern mögen zum Zeichen unseres tiefempfundenen Glückes. Gipfelstunde! Unvergessliche kostbare Minuten stiller Betrachtung! Der Gedanke durchmass nochmals den ungeheuren Felsgrat aufwärts. Und wieder einmal mehr wurden wir gewahr, dass diesem felsigen Leib eine Seele eingehaucht zu sein schien, die eine weit höhere Ahnung zum Bewusstsein zu bringen vermochte: das erhebende Gefühl kosmischer Verbundenheit, jenes göttliche Vermächtnis, über welches gesellschaftliche und wirtschaftliche Scheinkultur unserer Tage so achtunglos hinweggeht, als hätte sich der Mensch der Empfänglichkeit für die geheimnisvollen Stimmen der Schöpfung zu schämen. Im tiefsten Grunde lieben wir doch unsere Berge deshalb so sehr, weil sie uns mit den wertvollsten Eindrücken beschenken, uns immer wieder mit Kraft und Glauben tränken.

Unsere körperliche Verfassung war eine vorzügliche, die Nerven aber waren ermattet. Und doch durften wir uns von der süssen Lethargie nicht meistern lassen, denn unsern Fersen folgten, wie ein bedächtiger Blick nach Trift hinunter bestätigte, jene tückischen Gestalten, die Schatten der Nacht, immer näher. Aber gerade zu dieser Stunde, die sofort den Abstieg heischte, hielt uns die ungeheure Gletscherperipherie mit unbeschreiblicher Macht gefangen. Umrankt von den Armen höchster Zufriedenheit, gelang es uns kaum, die magischen Fesseln eines Alpenabendzaubers zu lösen. Würden wir wieder einmal auf solcher Zinne gleich ungestört verweilen dürfen wie jetzt, wo das Hohe, Göttliche so innige Zwiesprache mit uns hielt?

Welch ein erlösender Gedanke für uns: wir waren frei, hatten es nicht mehr eilig, wussten wir doch, was da kommen sollte: eine Nacht auf einem Viertausender. Wir lagen nicht in den Krallen der Hetze eines nahenden Unwetters, nur im Banne eines glutvollen Sonnentages, der sich allmählich im All auflöste.

Der Übergang zur niedern Temperatur schuf für eine halbe Stunde wundersame Nebelbildungen. Die Helligkeit erlaubte mir für heute ein letztes Lichtbild: die Rauchfahne des Matterhorns, den lichten Schleier vor dem Gabelhorn. In unbändiger Wucht dräut mit trotziger Gebärde die Dent Blanche herüber, in weiter Ferne herrscht mit Grandezza der Mont Blanc. Das scheidende Tageslicht tauchte nun all die königlichen Gestalten ringsherum in rosige Farben.

Lieber Bergfreund! Auch du wirst auf deiner Jagd nach alpinen Schönheiten und Abenteuern schon dies und jenes erlebt haben, du kennst den überraschenden Wechsel der Witterung im Hochgebirge, vor dem du Schutz suchtest, empfindest jederzeit wieder das nagende Gefühl des Bangens, wenn die Nacht dich überfiel vor schwerem Abstieg und der Sporn des Selbsterhaltungstriebes dich vorwärts drängte. Aber warst du schon Zeuge jener Stimmung, wenn Nacht und Berge miteinander raunen, ihre Ruhe in deine Seele geben, während die Elemente im sanften Schlummer liegen? Dann verstehst du, wenn meine Schilderung solchen Erlebens erblassen muss, und wirst mir auch glauben, dass die strahlenden Kräfte des Friedens über die dämonischen Mächte entfesselten Kampfes triumphieren.

Der Sonnenball näherte sich der Alpensilhouette. Wir beide schwiegen, jeder überliess das erste Wort dem andern. Was für merkwürdige Gedanken mir da im Hirn so unvermittelt aufstiegen: der gruselige Abstieg über den Zinalgrat bei Nacht und das Problem moderner Beförderungstechnik. Vielleicht, dass in hundert Jahren der Rothorngipfel mit der Clubhütte durch eine Seilbahn verbunden ist! Wie schön, dass wir noch nicht so weit sind, sonst wahrlich wären wir hinuntergefahren. Mein Kamerad mahnte plötzlich zum Aufbruch. Gottlob, nun wusste ich, dass ich meine noch unausgesprochene Idee einer Beiwacht schleunigst zu begraben hatte.

Der Entschluss steigerte die Kräfte, erfüllte uns mit Zuversicht. Nachdem das Auge noch einmal die Runde über das unermessliche Gipfelmeer aufgenommen hatte, stapften wir über den schneeigen Felsgrat in die erste Scharte zwischen Gipfel und Vorgipfel. Auf diesem, la Bosse genannt, verblüffte uns die seltsame Erscheinung des plötzlichen Einbruchs der Nacht ohne den geringsten Dämmerungsübergang. Mit dem letzten Sonnenstrahl war auch das Firneglühn verglommen.

Vorerst erschreckte uns der bedrohliche nächtliche Abstieg von diesem grössten Felskopf, doch erwies sich die scheinbar senkrechte Wand als Kletterfels vorzüglichster Art. Als wir zurückschauten, dräute der kirchturmhohe, schroff aufstrebende « Buckel » wie ein Schreckensgespenst zu uns hernieder. Voll Ehrfurcht dachte ich an den am 4. August 1899 verunglückten Führer Joachim Tabin, dessen pietätische Gewohnheit, die berüchtigten Zinaltürme zu personifizieren, sie um Gnade zu bitten und sich hinterher zu bedanken, ich so recht nachzufühlen verstand.

Die Felsen des Rothorns lagen nun in völliger Dunkelheit, während das bestirnte Firmament sich über die schweigende Pracht einer Hochgebirgsnacht wölbte. Der Anblick dieses Bildes und die eisige Kälte, die hereingebrochen war, liessen uns erschauern. Der Grat keilte sich bald auf etwa zwei Seillängen zum bekannten scharfen First, Bourrique geheissen, auf den sich zermatterseits die Ellbogen stützten, wogegen der Körper über dem Mountetgletscher hing. Diese etwas unbequeme Fortbewegungsart zauberte uns die nötige Wärme in die Glieder.

Plötzlich tauchte aus der Finsternis ein Ungeheuer in die Höhe und versperrte uns den Weg über den kaum zentimeterbreiten Grat: die Sphinx. Eine Überkletterung zu dieser Zeit war nicht denkbar. Während wir berieten, löste sich das Rätsel wie auf Geheiss. Das Hinterhaupt dieser Kolossalstatue erhellte sich, die Konturen eines menschlichen Gesichts enthüllten sich allmählich in der magischen Beleuchtung des uns zum zweitenmal grüssenden Mondes, wie Banquos Geist im « Macbeth ». Nach einigen Minuten wurde das Antlitz ganz scharf. Die im Schatten liegenden Partien von Augenwinkel, Schläfe, Ohr und Mund schufen eine plastische Figur, gleichsam die Kopie der ägyptischen Sphinx. Der Ausdruck des gratab gerichteten Blickes und das zynische Lächeln ergriffen unsere Phantasie, und sie las aus ihrer Physiognomie die Worte: Was wollt ihr da?

Die Romantik dieses Augenblicks 1 Weltraumstille! Selbst der Atem der Berge ist erstarrt, kein Rauschen eines Gletscherbaches. Höre ich das nächtliche Summen einer üppig prangenden Sommerwiese, wo die Heimchen zirpen? Nichts von alldem. Nur ein stummes Gletscherparadies. Einsame Mutter Erde, im Südwesten winkt dir Jupiter mit ruhigem Glanz, im Osten grüsst dich der rötliche Saturn, deine einzigen Verwandten. Von allen andern Gestirnen bist du durch Lichtjahre getrennt. So zählen auch wir heute zu den Abgeschiedensten unter unseresgleichen... Doch siehe, dort im fern-tiefen Norden ein leiser Schimmer — das gedämpfte Lichtermeer der Stadt Siders. Dort wohnen Menschen... Zu diesen wollen wir hinab...

Die Sphinx, Wächter und Wahrzeichen des Rothorns, weist am Halse eine waagrechte Narbe auf. Diese gestattete uns ein verhältnismässig leichtes Queren der im Schlagschatten des Berges stehenden Wand. Dann war das Gesicht verschwunden, und der Turm ward von unten zum würfeligen Klotz. Scheinbar endlos senkt sich der Grat, die Zacken werden kleiner und sind meist leicht, doch bei Nacht immerhin beschwerlich. Der letzte grosse Zahn, Le Rasoir, der im fahlen Mondlicht schon von weitem nichts Gutes versprach, stürzt beidseitig unvermittelt ins Leere ab. Eine direkte Umgehung schien hier unmöglich. Wir mussten in die finstere Wand absteigen, nach links, bis eine Querung möglich wurde.

Wie ein Phantom schwebt über dem höllischen Abgrund ein Toten-kreuz. Vater Schär erlitt hier mit seinem Sohne 1923 den Bergtod. Ein schauriges Memento mori! In plattiger Rinne vollzogen wir den Abstieg an die 30 Meter, ängstlich nach Griffen tastend, denn die Augen versagten. Und wie eine Befreiung überkam es mich, als ich nach kurzem Seitengang und wenigen Meter Aufstieg ganz unerwartet wieder die Gratkante gewonnen hatte. Schneidender Nachtwind drang bis auf die Knochen. Trotzdem sicherten wir nach wie vor mit grösstem Bedacht. Nun ging die Unübersichtlichkeit des Grates zu Ende, es folgten nur noch kleinere Zacken. Der letzte, Frühstücksgendarm getaufte Zahn führte uns erstmals auf die Ostseite des Berges, wo die Firnbedeckung einsetzt, und bald hernach standen wir auf der Schulter 4065 m.

Höchst romantisch und eindrucksvoll, eine herrliche Abwechslung nach so vielen Stunden Fels, war die schwindelige Begehung des Le Blanc-Schnee-grates, der sich von den Diablons aus so grossartig ausnimmt mit seinen schrecklichen Eisabstürzen. Noch vermochte der Mond nicht, den steilen Kamm zu erhellen. Merkwürdigerweise war der Schnee fast weich, so dass r.

wir ohne Steigeisen langsam hinunterstapfen konnten. Der jähe Abfall auferlegte uns für die nächste Stunde harte Knieproben. Wie dann der zierliche, halbmeterbreite Schneefirst das Gefälle verringerte, schwenkten wir in den sichern Mountetkessel hinunter und betraten wieder leichteres Gefilde.

Auf dem mondbeglänzten Firnplateau seilten wir auf 15 Meter und torkelten wie Nachtwandler abwärts, jede Widerstandskraft ehrlich preis-gebend. Strauchelte einer im Schnee, übermannte ihn augenblicklich der Schlaf, bis der Zug am Seil ihn weckte.Versuchten wir, hin und wieder ein Wort zu sprechen, so erstickten die Laute in der gänzlich ausgetrockneten Kehle. Die ersten Felsblöcke kamen, zerstreut in porösem Eis. Wie Silber rieselte Wasser darüber. Wir schlürften davon. Es war zur Geisterstunde.

Endlose Moräne... Abschlussvergnügen. Dort war die Hütte...? Unser irdischer Trabant meinte es gut mit uns, er täuschte mit grossen Felsquadern die gastliche Stätte vor. Die Bergschuhe knirschten widerwillig im Gestein.

13S Uhr!

Vor der Cabane blicke ich dankend zum Zinalrothorn: bald werden die Plejaden dich wieder krönen 1

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