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Eine Silvesterfeier auf dem Hohen Säntis

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Das war eine lange und kalte Fahrt, die uns zwei Straßburger Bergfreunde am 30. Dezember 1893 von Straßburg über den Sûhwarzwald nach Appenzell brachte! Die acht St. Galler Herren vom Club „ Edelweiß ", die in Winkeln zu uns stießen und den Säntis ebenfalls anzupacken gedachten, hatten freilich eine kürzere Fahrt gehabt. Ihre vorzügliche touristische Ausrüstung — Pickel und Steigeisen fehlten nicht — ließ darauf schließen, daß man im Winter dem berühmten Bergesalten nicht so ohne weiteres auf den Leib rücken durfte. Während die St. Galler, darunter Herr Albert, dem ich das beigegebene Bild verdanke, selbigen Abend noch bis Wasserau gingen, blieben wir zwei im wohlbekannten „ Weißbad " über Nacht. Dank unserer telegraphischen Benachrichtigung fanden wir ein gutes Abendessen und einen zuverlässigen Lokalführer ( Joh. Jos. Zeller ) für den andern Tag bei unserem Eintreffen bereit. Umgleich vorweg zu sagen, waren wir mit unserem eingeborenen Begleiter gut beraten und haben ihm mit Vergnügen das Doppelte der Sommertaxe bezahlt.

Bei minus 13° R. verließen wir am Silvestertag kurz nach 6 Uhr das gastliche Weißbad. Der Schnee knirschte unter den Schuhen, und die Bäume am Schwendibach, dessen Lauf wir auf anfangs noch gebahnter Straße aufwärts verfolgten, waren mit Rauhfh&sfc cSfibi gedeckt. Noch funkelten die Sterne über uns und im Westen sank die Sichel des Mondes, aber bald umhüllte uns ein eisiger Nebel? der dem Massiv des Alpsteins entquoll. Die um Mund und Ohren gebundenen Tücher waren durchaus am Platz.

Beim Wirtshaus zur Wasserau hört der gebahnte Weg auf, und hier, im letzten bewohnten Haus des Thals, waren die St. Galler über Nacht geblieben. Da die Herren eine Stunde vor uns aufgebrochen waren, so hatten wir den Vorteil, ihre Spuren benutzen zu können. Anfangs ging es durch leicht verschneiten Fichtenwald gemächlich bis zur Hüttenalm bergauf. Über das Thal blinkte von steiler Wand das Wildkirchli aus seiner Felsennische herüber. Als wir in 1300 m Seehöhe sein mochten, blickte im Südwesten auch der Säntisgipfel verheißend über den Thalschluß, wenn auch nur für kurze Zeit, zu uns nieder. Es war 8 Uhr. Wir standen nun inmitten des Alpsteins, dessen graugelbe Mauern und Zacken, fast schneefrei, ringsum hart und kalt emporstarrten. Die Spuren führten nun zur Westseite des Marwies, der in teilweise überhängenden Schroffen zum Seealpsee abfällt. Ungefähr 500 m über dem See ist der Sturz der jähen Wand durch ein geräumiges Felsband unterbrochen, und auf diesem hin, nur sehr allmählich ansteigend, gelangt man in einer Stunde zur Meglisalp. Dieser Pfad ist der Schrennenweg, auch wohl Katzensteig genannt. Bevor wir das Felsband betraten, das der Schnee in schräger Böschung deckte, legten wir, wie unsere Vorgänger auch gethan hatten, die Steigeisen an.

Tief unter uns lag nun der besungene, ernste Seealpsee, d.h. für die schaffende Phantasie, denn eine gleichmäßige Schneedecke verhüllte Thalsohle wie See, und nur an dem Zurückweichen der Fichten, dio wir als schwarze Punkte tief unter uns sahen, konnten wir die Uferliqißjix erkennen.

Es war 10 Uhr 30 Min., als wir die Meglisalp erreichten, wo wj£ uns der Steigeisen wieder entledigten. Welch reges Leben mag sicji wohl im Sommer auf der Meglisalp entfalten, wo der Komplex größerer und kleinerer Almhütten auf eine stattliche Zahl von Melkern schließen läßt, denen sich die zahlreichen täglichen Touristen in gewiß oft recht fröhlicher Stimmung hinzugesellen! Jetzt trafen wir da unsere St. Galler Herren, sowie die beiden Wirte Dörig, Vater und Sohn; ferner waren noch ein zweiter Führer und ein Träger zur Stelle. Im engen Raum des einfachen Wirtshauses auf der Meglisalp, das der ältere Dörig bewirtschaftet, während der jüngere Säntis wirt ist, ging es schon ganz lustig her. Da hörten wir eine Kuhglocke, der nur die Kuh fehlte, unablässig läuten, dazwischen tutete ein Alphorn aus Pappe mit einem Flaschenhals als Mundstück, und kräftige Männerstimmen sangen im Chor heitere Volkslieder. So hatte der Glühwein die Bergsteiger gestärkt, der *uch; uns besser als die gefrorene Butter schmeckte. Im Fremdenbuch konnte man sich leider nicht verewigen, da die Tinte eingefroren war.

Neugestärkt setzten wir nun in größerer Gemeinschaft 11 Uhr 15 Min. den Aufstieg fort. Der Schnee wurde bedeutend tiefer und das Ansteigen verlangsamte sich dementsprechend. Die beiden Führer, sowie der jüogere Wirt und der Träger machten abwechselnd die Stapfen. Um 1 Uhr 25 Min. hatten wir die Wagenlucke, jene riesige Bresche in Ser Gebirgsmauer, erreicht. Somit waren wir 2069 ^ hoch. Dort, am Sttdabbang der Roß-maad, wo im Sommer Karrenfelder sich dehnen, lag reichlich Neuschnee, so daß es für unsere Vorhut keine kleine Anstrengung war, Spur zu treten. Aber mit rühmlicher Ausdauer wies sic jede Ablösung zurück! Mein Landsmann hatte kanadische Schneereifen mitgebracht und legte dieselben jetzt an. Aber er erschwerte çich dadurch nur da ». Steigen, da der Neigungswinkel des Anstiegs schon zu groß war, vm diese sonst vorzüglichen Verkehrsmittel noch mit Vorteil zu verwenden. Wo man im Sommer am Drahtseil gradeaus zum Säntiswirtshaus empör-schwitzen kann, da wäre es jetzt nicht geraten gewesen, anzusteigen« Vom Seil sah man nur ab und zu ein Stück aus der Schneeverwehung hervorschauen. Also blieb uns nur der Weg über den „ großen Schnee". offen, den man im Sommer links liegen läßt. Lang, und in seinem obersten Teil, wo es unmittelbar an die obersten Felsen der Säntisspitze anstößt, auch steil genug, erstreckte sich dieses ewige Schneefeld vor uns. Hier war der Pickel sehr am Platze l Mittlerweile erblickten wir das Gasthaus und noch etliche Meter darüber, unmittelbar unter der obersten Säntiskuppe, die berühmte meteorologische Station. Als wir noch langsam, einer nach dem andern, wie auf einer Leiter stehend, emporrückten, sahen wir über una Herrn Bommer, den Beobachter der Station, beschäftigt, in Erwartung des zahlreichen und im Winter jedenfalls sehr willkommenen Besuchs, seine Felsentreppet voi » Schnee zu säubern. Wohl hörten wir seine fröhlichen Zurufe, und es fehlten die Antworten nicht, über eine Stunde dauerte es doch, bis der ^große Schneea unter uns lag und wir beim Holzstall das Säntiswirtshaus endlich erreichten. Zunächst mußte der Eingang vom Schnee befreit werden und dann konnten wir um 3 Uhr 20 Min. Einzug halten, Natürlich war es stockdunkel und « iskalt im Wirtshaus, das schon seit Monaten keinen Bewohuer gesehen hatte. Bis die Läden geöffnet, Feuer angezündet und Kaffee bereitet war, gingen wir die paar Schritte auf der Felsentrepp© hinauf, um die Bekanntschaft Herrn Bommers und seiner Gattin zu machen, die jahraus jahrein den entsagungsreichen meteorologischen Dienst auf der Hochwarte versehen. Über die Gründung und Einrichtung dieser wichtigen Beobachtungsstation brauche ich an dieser Stelle wohl nicht zu berichten. Ich möchte nur feststellen, daß es uns bei Bommers in Anbetracht der Verhältnisse außerordentlich gemütlich vorkam.

An jenem Silvesternachmittag herrschte übrigens minus sieben Grad Celsius Lufttemperatur und die Messung der Windstärke ergab bei 564,9 Barometerstand eine Geschwindigkeit des Ost-Nord-Ost zwischen 40 und 50 Kilometer per Stunde. Die Aussicht war vollständig klar und umfaßte den überhaupt möglichen Gesichtskreis; nur im Vorland lag Nebel, der den Bodensee deckte. Der Ütliberg bei Zürich blickte schon darüber hinaus. Östlich starrte der Turm des Altmann, „ des Santi » Kanzler und Busenfreund ", rechts und links von ihm dehnten sich die Vorarlberger Höhen. Im Süden, zum Greifen nahe, verdeckten die plumpen Zähne der sieben Churfirsten den Walensee. Weiter nach Süden war der Horizont von einem amphitheatralischen Kranz hoher und höchster Alpenzinnen gebildet, von denen nur einige der letzteren wie die Bernina, Piz Roseg und der Monte della Disgrazia genannt sein mögen. Im Westen dominierte die berühmte Gruppe des Berner Oberlandes und auf gleicher Breite ließ sich im Osten der Ortlergipfel deutlich wahrnehmen. Nahe unter uns klaffte die breite Furche des Rheinthals, dessen Bildung den ehemaligen Seeboden deutlich verrät. Dennoch fehlt dieser großartigen Landschaft eins: der Reiz des Gegensatzes. Wo im Sommer die Übergänge aus dem Weiß der Spitzen in das Braun und Gelb der schneefreien Region des Vegetationsanfanges und dann weiter in das Grün der bewaldeten Flächen und des Thalbodens farbensatt das Auge erfreuen, dehnt sich im Winter die gleichmäßige, weiße Decke.

Es blieb bis gegen 5 Uhr hell, dann aber überließen wir dem kalten Nordost die alleinige Herrschaft über des Alpsteins höchste Spitze und nahmen durch den Tunnel, der von der Wohnung Bommers aus den so bei jedem Wetter gefahrlosen Zutritt zum Anemometer vermittelt den Rückzug wieder ins Wirtshaus hinab, wo es mittlerweile warm geworden war. Nach Kaffee und Glühwein stand jetzt unser Sinn!

Die Herren aus St. Gallen hatten ein Fichtenbäumchen mit heraufgebracht und waren nun beschäftigt, dieses aufzuputzen. Fünf Pickel und ein Seil bildeten den hier oben stilgerechten Fuß, Cigarren und Cigarren-bänder, kleine Päckchen Tabak, Apfelsinenschalen und dergleichen seinen Schmuck. Ein Wachsstock wurde in 20 Teile zerschnitten und um 6 Uhr brannte ein vollendeter Christbaum. Als Bescherung lag ein Paar Steigeisen auf dem Tisch, das der „ Club Edelweiß " Herrn Bommer bestimmt hatte. Diese denkwürdige, einfache, aber wirklich eindrucksvolle Feier wurde nun bei Magnesiumlicht photographiert und es ergab sich, wenn auch durch die Eigenart der Beleuchtung neben dem brennenden Christbaum ganz bedenkliche Physiognomien herauskamen und jede Nasenspitze mit einem herausfordernden Glanzlicht bedacht wurde, ein ganz hübsches Bild.

Während des Abends erfuhren wir von Herrn Bommer, der mit seiner Frau natürlich an der Feier teilnahm, daß er auch im Winter, der auf dem Säntis die Zeit von Oktober bis Mai umfaßt, ein oder zweimal ins Thal hinunterkomme. Währenddessen versieht die Frau den Dienst allein. Je nach den Schneeverhältnissen steigen im Laufe des Winters wiederholt Träger mit Proviant hinauf, wo es dann viel zu erzählen giebt. Diese Männer bringen gleichzeitig einige Kilo Zeitungen und inzwischen eingelaufene Briefe, „ und bis wir die durchgearbeitet haben, gehen wieder einige Wochen hin ", setzte die Frau hinzu. Es interessierte Bommer, von mir über die Wetterwarte auf dem Hohen Sonnblick in den Tauern einiges zu hören, die noch 600 m höher liegt. Der bis vor nicht langer Zeit dort thätige Beobachter, der im Winter völlig einsame, weil unbeweibte biedere Peter Lechner, hatte auch einmal den Säntis besucht, und seitdem standen die beiden Genossen eines seltenen Berufes im Briefwechsel. Peter Lechner hat bekanntlich vor Jahresfrist bei einer Wirtshausrauferei ein trauriges Ende gefunden.

Uns Straßburger erfreute der edle Sassella die St. Galler hielten sich an Glühwein und derselbe mag zu der fidelen Stimmung des Silvesterabends sein redliches Teil beigetragen haben. Wir zogen uns ziemlich früh zurück und verschliefen so die bengalische Beleuchtung der Säntisspitze, mit der dieselbe Schlag 12 Uhr aus dem alten ins neue Jahr hinüber-glänzte und tief unten den St. Gallern das verabredete Zeichen von der Anwesenheit und der zuversichtlichen Stimmung ihrer Mitbürger gab.

Waren wir noch im alten Jahr schlafen gegangen — in den Kammern war natürlich eine nette Polartemperatur — so waren wir dementsprechend am Morgen des neuen Jahres schon um 6 Uhr wieder zum Abstieg gerüstet, während vom Club Edelweiß sich noch nichts rührte. Bei Laternenschein stiegen wir vorsichtig die obere steile Partie, genau in den Stufen vom Tage vorher, wieder ab. Schritt für Schritt den Pickel einstoßend, überwanden wir das Ende des Ewig-Schneefeldes.

Nun ging es unter der Wagenlucke hin wieder bequemer weiter. Die Abfahrt von der Lücke nach der Fehlalp, eine angenehme Variante des Rückwegs, durften wir nicht wagen, da der Schnee noch nicht hoch genug lag. Allmählich rötete sich der Himmel und scharf umrissen hoben sich die Grate und Zacken des Alpsteins vom Östlichen Horizont ab. Es war völlig tageshell, als wir 8 Uhr 30 Min. die Meglisalp wieder erreichten, wo der alte Dörig schon vor uns in der Hütte eingetroffen war. Uns Wanderern duftete daher schon wieder das verlockende Aroma des Glühweins entgegen, den man im winterlichen Hochgebirge zu jeder Stunde trinken mag. Nach kurzer Rast, wobei die Steigeisen wieder angelegt wurden, schritten wir zum Schrennenweg ( Katzensteig ), der, wie am Tag vorher, volle Aufmerksamkeit erforderte. Auf diesem Steig begegneten uns zwei Träger, welche die Spuren benutzten, um frischen Proviant zum Observatorium zu schaffen. Mit kurzem Gruß und „ Prosit Neujahru schritten wir an diesen ersten Menschen, die uns im neuen Jahr begegneten, vorbei, nicht ahnend, welches furchtbare Geschick die beiden jungen Männer bald erreichen sollte.

Gegen 11 Uhr erreichten wir gesund und munter das Gasthaus zur „ Wasserau " und damit den Thalboden wieder, wo wir unseren biederen Führer entlohnten. Ein bestellter Schlitten nahm uns auf, rittlings sitzend, die Pickel quer auf den Knieen, ging es in sausender, lustiger Fahrt in das Neujahr hinein, nach Appenzell. Wegen des Festtages war die Straße stark belebt. Die Frauen und Mädchen tragen die originelle Landestracht und durch das aufgesteckte geflochtene Haar einen Pfeil, der völlig die Form eines Löffels hat. Wohl blieb mancher und manche stehen, uns einen Blick nachzuwerfen, und je nach dem Staunen, oder aber auch Lächeln, konnten wir ermessen, was wohl ein vernünftiger Gebirgsbewohner über solche seltene Winterfrischler denken mochte!

Bei Waldstatt fing der bis dahin heitere Himmel an, sich zu um-wölken, und in St. Gallen begrüßte uns lustiges Schneetreiben. Unsere Fährt war somit noch rechtzeitig durchgeführt worden!

Ich will noch der erwähnten beiden Träger gedenken; sie waren am 3. Februar wieder auf den Säntis gestiegen und Tags darauf beim Abstieg an der Wagenlucke verunglückt. Genau vier Wochen später hat man sie unter 8 Meter tiefem Lawinenschnee als Opfer ihres Berufes gefunden.A. Stolberg ( Sektion Bern ).

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