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Erinnerungen aus alter Zeit

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Paul Montandon.

Ein Vortrag, den ich im Dezember 1935 im Schosse der Sektion Blümlisalp in Thun hielt, über « Alpine Frühturen im Berner Oberland », wurde hernach im Jahresbericht jener Sektion unter dem Titel « Vor 60 Jahren » abgedruckt. Seitdem erhielt ich diesbezüglich eine Anzahl freundliche Briefe und Aufforderungen, welche die Meinung aussprachen, dass meine Mitteilungen auch einen weiteren Leserkreis, insbesondere die älteren Clubmitglieder, einigermassen interessieren, in ihnen ein Echo ähnlicher alter Erinnerungen wachrufen könnten. Möge dies in für sie angenehmer Weise eintreten. Mein Bericht erscheint also nachfolgend in unsern « Alpen », ein wenig abgeändert, aber in der ursprünglichen Vortragsform. Er sei der Nachsicht des Lesers empfohlen, um so mehr, als der Autor nicht vermeiden konnte, in demselben mehr als ihm angenehm in den Vordergrund zu treten.P. M.

Werte Bergsteiger, junge und alte!

Ich soll Ihnen heute auf höheren Befehl einiges erzählen aus meiner alpinen Jugendzeit, also eine Art archäologischen Vortrag halten über jene entfernten Zeiten, als den damaligen Jungen nur ein kleiner Teil der heutigen Verkehrsmittel — wenige Eisenbahnen und weder Velos noch Autos — zur Verfügung standen, als jugendlicher Enthusiasmus manches ermöglichte, was angesichts der verfügbaren Zeit und der beschränkten Mittel nur schwierig ausführbar schien.

Es wird also in folgender Plauderei sehr viel von mir selber die Rede sein. Denn wie soll einer seine Erinnerungen in anderer Weise zum besten geben? Im übrigen erwarte man nichts Besonderes in meinem Bericht: keinerlei Vorführung eisstrotzender Nordwände samt Beschreibung heldenhafter Versuche, nichts über sogenannte Schlosserei, Mauerhaken und Eisstifte, nichts von Hinüberhangeln und Bezwingen schauerlicher Abstürze — und fast nichts über neue Wege auf unsere Eis- und Felsgipfel. Es wird meistens von unsern Vorbergen die Rede sein. Um so schlimmer für diejenigen, die sich dabei langweilen, ich kann 's nicht ändern!

In den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als das dereinstige Erscheinen der heutigen heroischen Generation ( mit vielem anderen nun Vergangenem ) noch im Nebel der Zeiten verborgen lag, verstieg sich der Unternehmungsgeist, die Abenteuerlust unserer damaligen jungen Sippe ( nach heutigen Begriffen ) keineswegs hoch. Ihr Wunsch ging dahin: zum Beginn die bescheidenen Oberländer Voralpen und später wenn möglich auch höhere Gipfel auf den gewöhnlichen Wegen mit eigenen Kräften zu erreichen. Die in Zeitungen und auch sonstwie periodisch erscheinende Kritik des zu jener Zeit neuen führerlosen Gehens ( es wurde uns sogar das Nichteinkehren vor-geworfenbesonders wenn aus inkompetenter Quelle stammend — kümmerte uns nicht allzusehr. Wir hüteten uns vor einfältiger Empfindlichkeit, machten uns Vorsicht zur Pflicht — hatten daher ein gutes Gewissen. Wir besassen allesamt keinen Uberfluss an Zeit und Geld. Auch verfügten wir über keine Samstagnachmittage, und mancher Lehrling musste sogar, « glustige » Blicke nach den weissen Firnen sendend, noch am Sonntagmorgen aufs Bureau wandern. Wenn es gut ging, blieb also die Zeit übrig vom Samstagabend bis Sonntagnacht und nötigenfalls eine zweite lange Nacht bis Montag früh. Diese Spanne hiess es aufs äusserste ausnützen, soweit das bei den fehlenden billigen Fahrgelegenheiten tunlich war.

Unser Gewaffen war lange Zeit nur der kurze Hakenstock. Steigeisen, Kletterschuhe, Kochmaschine und dergleichen kannte man kaum oder gar nicht, ja nicht einmal den Rucksack. Die wunderbare, modische Eleganz der meisten jungen Sportbeflissenen heutiger Zeit, auch der Professionellen, konnten wir nicht vorausahnen: wir trugen stets ältere Kleider auf unseren Bergfahrten.

Die junge Garde von Thun bestand in den 70er Jahren in erster Linie aus den drei Brüdern Müller, Techniker, allesamt Kletterer erster Güte. Einen von ihnen, Oberst Eduard Müller, Ehrenmitglied unserer Sektion Blümlisalp, über 80 Jahre alt, haben wir noch in unseren Reihen. Lobhorn, Spillgerten, Gummihorn, Vreneli, Schwalmeren von Lattreien, Türmlihorn usw., alle diese Klettergipfel fielen den Brüdern als Erstbesteigungen in den Schoss. Gastlosen und die fast unbekannten Engelhörner waren zu weit entfernt; erst später bestieg mein Bruder als erster die Gastlosenspitze. Steter Begleiter der Müller war Ingenieur Markus von Steiger, der sich später in Australien niederliess. Ferner Buchhändler Louis Krebser, Ehrenmitglied und ex-Präses der Sektion Blümlisalp, sowie einige andere sich zeitweise Anschliessende. Etliche dieser Männer sind in der Denkschrift der Sektion Blümlisalp von 1924 im Bilde verewigt.

In Bern hatten wir Abraham Ringier, Kartograph, nun auch schon 80 Jahre alt, dessen frühzeitiges preisgekröntes Schichtenrelief des Triftgebietes im Alpinen Museum zu sehen ist. Dann den Lithographen und Künstler Hermann Kümmerly, Schöpfer unserer famosen, unübertroffenen Schulwandkarte. Er war ein weitausschreitender, schneller Gänger. Ferner etwa den Graveur Louis Furer, mittelmässiger Bergsteiger, aber fröhlicher Mensch und allgemein beliebt. Langnau sandte die zwei unzertrennlichen Freunde Orestes und Pylades, zu deutsch Aeschlimann und Flückiger, bekannte Schrattenfluhspezialisten, und aus Kiesen stammte der junge und tüchtige Adolf Rubin, der leider, wenig über 20 Jahre alt, an der Schwindsucht starb. Münsingen endlich, wo wir damals wohnten und die Berge prächtig vor Augen hatten, sandte meinen jüngeren, nun ebenfalls verstorbenen Bruder Charles und mich.

Wir alle verschlangen mit riesigem Interesse die wenigen alpinen Publikationen, lernten die zehn Gebote des Bergsteigers vor- und rückwärts auswendig und bewunderten in hohem Masse die damaligen alpinen Koryphäen, ohne uns etwa einzubilden, dass sie von uns Notiz nehmen würden.

Eigentliche « Studenten » waren in jenen Zeiten in den Bergen keine zu erblicken, der Komment nahm sie wohl gänzlich in Anspruch. Trotz langen Ferien, um die wir sie beneideten, hatten sie keine Musse übrig fürs Bergsteigen und auch kein Interesse dafür. Ihre Nachfolger haben dies seitdem ergiebig nachgeholt und wissen es. Unsere junge Garde fühlte sich eins in der Begeisterung für unsere Gipfel und deren Romantik — eins auch im Respekt vor ihren Gefahren — und eins auch besonders in der steten Bereitschaft zu jedweder schönen Tur, auch wenn lange Tag- und Nachtmärsche mit in Kauf genommen werden mussten. So haben wir denn nach und nach schon sehr früh alle für uns erreichbaren Vorberge des Oberlandes und des Emmentales mehrmals besucht und schon damals eine Anzahl Hochgipfel als Nachtisch mitnehmen können.

Jene Samstagabendmärsche begannen jeweilen sei es in Thun ( für die Stockhornkette und die Justistalberge ) oder an der Ländte in Spiez ( fürs Simmen-, Kander- und Kiental ) oder auch in Därligen ( für das obere Oberland ). Wir waren in jenen Abendstunden stets die einzigen Turisten. Kandersteg, Adelboden oder gar Meiringen waren für uns schon das Ende der Welt. Noch früher hat unser verehrter Freund, alt Regierungsstatthalter Gottlieb Studer, aller Bergfreunde leuchtendes Vorbild, sogar Bern als Ausgangspunkt für seine Märsche nehmen müssen. Er bestieg in dieser Weise — alles zu Fuss ab Bern — das Morgenberghorn und andere Gipfel, wie auch die Jurahöhen, überall erstklassige, wunderbar scharfe Panoramen zeichnend.

Das Kiental, durch das wir so oft in später Samstagnacht hinaufwanderten, war im Gegensatz zu heute eine höchst einsame, turistenlose Gegend. Es bestand im ganzen Tal eine einzige einfache Wirtschaft, in welcher Gemsjäger, Älpler und hie und da auch wir einkehrten. Einst um Mitternacht, als dort noch Licht war, sahen wir im Hausgang fünf Gemsen im Blute liegen, penibler Anblick einer en-gros-Schlächterei. Höher oben im Tal krochen wir dann etwa in einen Heuschober, um vor dem Angriff auf einen der umliegenden Gipfel zwei oder drei Stunden zu schlafen.

So hatten wir auch im Lauterbrunnental in der Nähe des Staubbaches, abseits des Strässchens, eine famose, stets gut mit Heu versehene Hütte entdeckt. Im Dunkel der Nacht über eine Leiter hinaufkletternd, bezogen wir sie jedesmal, wenn unser Sinn dem Rottal, der Stellifluh, der Wetterlücke, dem Tschingelgrat oder gar der Jungfrau galt. Dem Besitzer sei unser Dank in den Himmel nachgesandt für seine unbewusste Gastfreundschaft! Die Jungfrau sollte einst von dort aus in gewohnt frecher Weise über den Sonntag erobert werden. Aber im Dunkel der Nacht verfehlten wir ob Stechelberg den Weg und gerieten, die Laterne zwischen den Zähnen, in felsige Hänge. Wir mussten zurück und begnügten uns mit dem Rottal. Die Scharte wurde in späteren Jahren zusammen mitTh.Aeschlimann und Christoph Iselin(Glarus ) ausgewetzt.

Lange Fusswanderungen waren der Aufstieg Interlaken-Schynige Platte-Faulhorn-Sc/ju>arz/io77i mit Abstieg zum Giessbach, sowie diejenige Interlaken-Schilihorn mit Abstieg nach Hohkien und Reichenbach, Spiez. Ebensolang, wenn auch weniger hoch führend, der Marsch Interlaken-Brienz-iïo//iorn- Kruterenpass-Kemmeribad-Schallenberg-Thun. Diese Rundtur machte der früher allbekannte Schnelläufer Fritz Rüegsegger ( vide Denkschrift Sektion Blümlisalp ) allerdings in viel kürzerer Zeit als wir, und zwar, als richtiger Rekordmann, von Thun aus. Wir mussten das Endstück Schwarzenegg-Thun in leichtem Trab zurücklegen, um den letzten Zug zu erreichen. Oft genug endigten diese Märsche mit wunden Füssen; wir nahmen uns dann die standhaften Krieger in den Indianergeschichten zum Vorbild und bissen halt die Zähne zusammen.

Das Drettenhorn, 2804 m, wie auch Schwalmeren, die Andristen, Hundshorn usw. gewannen wir in ähnlicher Weise wie das Schilthorn. Vom Dretten-gipfel hiess es an jenem Tage dann aber in aller Eile flüchten. Oben und in der Südostwand, über die wir abstiegen, überfiel uns ein gewaltiges Hagelwetter. Noch jetzt, nach fast 60 Jahren, sehe ich die vielen Blitze, höre die scharfen Donnerschläge und den betäubenden Lärm der fallenden Schlössen. Es tönte, wie wenn Tausende von Nüssen auf die Felsen herabgeschmettert würden. Dem direkten, eiligen Abstieg in unbekanntem Gelände wurde unten durch eine etwa 8 Meter hohe, senkrechte Wand plötzlich Halt geboten. Wir hatten kein Seil. An ihrem Fuss klaffte ein drei Meter weiter, regelrechter Bergschrund, von dessen Rand sich ein steiles Schneefeld mit Wasserrinne absenkte. Hinabgeworfene Steine überzeugten uns, dass der Schnee weich sei. Dort, am Rande der Fluh, standen nun, unentschlossen, im Sturm der Elemente, drei Ritter von der traurigen Gestalt. Ein jeder von ihnen nahm sukzessive einen Anlauf. Aber erst nach geraumer Zeit wagte einer den Luftsprung, von dem er sich dann in der Rinne in Bälde erholen konnte. Nun war der Bann gebrochen, die Kameraden folgten und wurden unten in Empfang genommen. Stundenlanger Regen begleitete uns hernach das lange Saustal hinaus nach Isenfluh, nach Zweilütschinen und Interlaken. Erst zu Hause wurden wir wieder des Lebens froh, als wir all das nasse Zeug ablegen konnten. Aber eine abenteuerliche und interessante Fahrt war es « einewäg ».

Dauermärsche über den Sonntag erforderten die Besteigung der Blümlisalpgipfel — alles zu Fuss — und ebenso die zweite Besteigung der Spillgerten von Spiez aus, mit nachfolgender Rückkehr bis Thun. Die eigentliche Kletterei erledigten wir unnötigerweise « in Strümpfen ». Ein junger Älpler, der mitmachen wollte und viel gewandter kletterte als wir, verzichtete in Bälde: « Go abegheie wott i nit! » Beim nächtlichen Rückmarsch das Tal hinaus schliefen wir des öftern und fielen dann etwa auf die Zäune am Wegrande hin. Wie viele haben wir in dieser Weise eingedrückt: ihr Krachen weckte uns allemal für einige Minuten. Mein sehr ausdauernder, aber damals noch etwas zu junger Bruder hatte diesmal auf der letzten Strecke von der Sache übergenug und dauerte mich, wie denn ein langer Landstrassenmarsch am Ende einer Bergfahrt kein Vergnügen genannt werden kann. Auf ärztlichen Befehl musste er während zwei Jahren seines Wachstums das Bergsteigen aussetzen. Dauermärsche sind also nicht immer ratsam.

Die zweite Erkletterung des Grossen Lobhorns, ebenfalls « in Strümpfen », durch A. Ringier und uns Brüder war verhältnismässig weniger lang — ihr Gelingen erfüllte uns junge Anfänger mit mächtiger Befriedigung.

Hie und da verfehlten wir Brüder trotz allem Eilen in Thun den letzten Zug nach Münsingen. Wir hatten in der Schule gelernt, die gerade Linie sei die kürzeste Verbindung zweier Punkte. So beschlossen wir denn einst, versuchsweise auf der Bahnlinie heimzumarschieren. Auf der Eisenbahnbrücke in Uttigen musste dabei im Finstern von einer Schwelle zur andern in weiten Schritten gegangen werden, mit dem unheimlichen Rauschen der reissenden Aare unter uns. Jenes mathematische Gesetz der kürzesten Verbindung ist offenbar nur relativ richtig. Wir versuchten unser Manöver denn auch kein zweites Mal. Ausserdem war der Gang über die Brücke selbstverständlich streng verboten.

Nach nützlicher Schulung in den Vorbergen, die jedem Jüngling und Mädchen zu empfehlen wäre, kamen naturgemäss die hohen Herren an die Reihe. « Stolz griffen wir zur Eisaxt »... doch Pickel, die heutzutage sozusagen in jedem Spezereiladen oder gar Weisswarengeschäft erhältlich sind, waren damals keine käuflich. Sie mussten extra bestellt werden. Noch erinnere ich mich, anfangs in Bern alle Eisenhandlungen abgesucht zu haben als Notbehelf nach einem « Jäthaueli mit auf einer Seite einer Spitze statt zweien»übrigens erfolglos. Mein erster Pickel, das Werk eines Verwandten, war zum Abschrauben eingerichtet, aber keineswegs praktisch, da er beim Hacken allzuleicht « aufging ». Er hatte aber den Vorteil, dass man ihn auseinanderschrauben konnte und sein Besitzer weniger von Neugierigen und ihren Fragen belästigt wurde.

Über die Besteigung des Eigers — erste führerlose, im Jahre 1878, zu Fuss von Interlaken hin und zurück über den Sonntag — habe ich in « Die Alpen » 1928 kurz berichtet. Max Müller, unser Bester, der spätere Centralbahn-Ingenieur Rudolf Wyss und der junge Adolf Rubin waren ( im Alter von 16 bis 23 Jahren ) meine Kameraden. Sie sind alle längst tot. 3400 Meter Höhe waren ohne längere Unterbrechungen zu ersteigen: ohne Oberland- und Wengernalp-bahnen, mit einem guten Stück schlechter Landstrasse hin und zurück. Der glatte Erfolg trotz langen Hackens und die grossartige Aussicht belohnten die Mühe. Am Montag früh führten Schiff und Zug Rubin und mich über Münsingen ( in dessen Wartsaal ich in aller Schnelle Kleidung wechselte ) nach Bern, wo ich damals meine Banklehrzeit absolvierte. Dem etwas bärbeissigen Bureauchef aus dem Schwabenland verriet ich nichts von unserer Tur und den zwei fast schlaflosen Nächten. Gleichmütig liess ich dessen spitze Bemerkungen über schlechtes Rechnen und angeblich unsolides Leben wie einen Traum über mich ergehen... Wir hatten doch so fest und so solid in unsern Stufen gestanden! Der Gerechte muss viel leiden...

Für den Mönch nahmen Kümmerly und ich, um in der Samstagnacht den Aufstieg übers Kalli zum Bergli nicht zu verfehlen, einen gewissen berühmten Führer als sogenannten Träger mit. Aber diesmal vertrugen Freund Hermann und ich den langen Nachtmarsch nicht am besten. Gelegentlich wurde es dem einen wie dem anderen übel. Ebenso schlimm war unser Begleiter daran, freilich aus anderem Grunde. Trotzdem führte er uns fehlerlos. In der Berglihütte erlaubten wir uns einen kurzen Schlaf, der Wunder wirkte, und auf dem Gipfel war dann alles wieder in bester Ordnung.

Noch in die 70er Jahre fiel unter anderen die erste Besteigung der Büttlassen durch einen 15jährigen Alleingänger, meinen Bruder Charles. Ebenso dessen erste Besteigung des Mittaghorns, 3895 m, mit Abr. Ringier und Adolf Rubin, ohne Führer. Louis Krebser und Ed. Müller ihrerseits eroberten, mit meinem Bruder, den Blümlisalpstock von Nordosten, das ist auf neuem Wege. Krebser führte in jenen Jahren mit Ad. Hadorn und uns Brüdern die erste führerlose Besteigung des Doldenhorns durch, ebenso später den Aufstieg zum Nordgipfel des Bächlistocks im Grimselgebiet auf neuer Route. Ed. Müller endlich gelang mit uns die erste führerlose Besteigung des Schreckhorns, wie denn überhaupt anfangs und Mitte der 80er Jahre fast sämtliche Hochgipfel der Berner Alpen, der Bietschhorn-Nordgipfel und auch der Tödi usw. von Mitgliedern unserer Gruppe zum erstenmal aus eigenen Kräften erreicht wurden.

Der Winter setzte den Wünschen und Projekten der jungen Abenteurer keine unüberwindlichen Grenzen entgegen, obwohl Skis damals unbekannt waren. Schon früh in den 80er Jahren erfolgten, besonders von seiten Ingenieurs Simon, Krebsers und meines Bruders resolute Angriffe, welche nach den Vorbergen vor allem die Blümlisalpgipfel, Balmhorn und Alteis zum Ziele hatten und auch fast alle gelangen. Die Alteis z.B. erforderte von der Spitalmatte aus siebeneinhalb Stunden Arbeit — Gipfelaufenthalt drei warme Stunden —, währenddem der Abstieg respektive das vergnügliche Hinunterrutschen in dritthalb Stunden erledigt ward. Sogar kleine Berge gaben damals fast immer viel zu schaffen. Niemand wusste etwas von Skifahren im Gebirge, denn Nansens prächtiges, in seinen Folgen so wichtiges Buch über seine Durchquerung Grönlands wurde erst später bekannt.

Einst, an einem Samstag im Februar, lud Freund Kümmerly Abr. Ringier und mich ein, den Jahresball des Berner Turnvereins in Bern anzusehen, wonach — es war 4 Uhr morgens, ohne schöne Begleitung — die Landstrasse nach Schwarzenburg und Ryffenmatt unter die Füsse genommen wurde. In der Folge stets zwei Fuss tief im Schnee einsinkend, gelangten wir schliesslich um halb 12 Uhr mittags auf den Gipfel der Pfeife. Etwa eine halbe Stunde weiter begrüssten wir, wohl als einzige Besucher in jenem Winter, eine einsame Familie, die Frau in Hoffnung, ihre Hütte in tiefem Schnee begraben. Heutzutage fühlen sich die guten Leute dort oben in der kalten Jahreszeit wohl nicht mehr so weltverlassen, und ein Arzt ist auch viel schneller zur Stelle. Es folgte eine lange, mühsame Waterei über die Hänge zum Schwefelbergpass und, rascher, der Abstieg nach Wattenwil. Meine Kameraden liessen es sich nicht nehmen, noch zu Fuss nach Bern zu wandern, für sie eine Nacht- und Tagesleistung von etwa 19 Stunden ohne Schlaf.

War die Mühe gross, so war dagegen die Auslage eine minime. Soviel mir erinnerlich, belief sie sich, mangels Gelegenheit, an jenem Tage nicht einmal auf ein Fränkli pro Person. ( Das Fränkli war damals allerdings mehr wert als heutzutage !) Man hatte früher in unsern Kreisen keine grossen Bedürfnisse und konnte glücklich sein, ohne viel Geld auszugeben. Heutzutage bratet sich der Turist, der etwas auf sich hält, auf dem Gipfel ein Beefsteak, und auf dem Konkordiaplatz offerierte uns ein bekannter Thuner Fürsprecher, Bergsteiger und Skiläufer einst seine Feldflasche, wohlgefüllt mit köstlichem Cherry-Brandy. Wir haben wohlverstanden nicht refüsiert! Einen Gruss dir ins Jenseits, du guter Freund Hügli!

Später, als die Fahrpläne es gestatteten, besuchten wir wenigstens einmal im Jahr den Kanton Uri, dessen unteren wie oberen Teil. Man langte z.B.

Sonntagmorgen 1 Uhr in Göschenen an — öfters auch die Kollegen Henry Rieckel von Chaux-de-Fonds oder Carl Seelig von Zürich her — und liess sich vom Dichter-Restaurateur Zahn ergebenst einen schwarzen Kaffee servieren. Nach einem Schläflein im Wartsaal, oder ohne dasselbe, begann der Angriff auf einen der scharfen Granitgipfel des Göschener-, Gotthard- oder Oberalp-gebietes. Dies auch manchmal im Winter: Fleckistock, Sustenhorn und andere. Ersterer erforderte im Januar von der Voralphütte aus neun Stunden harte Arbeit und nur drei für den Abstieg. Das Sustenhorn ( 20. November ) wollten wir traversieren, d.h. vom Gipfel zum Sustenpass absteigen. Wir gerieten aber abends am Bockberg an Abstürze und entschlossen uns, trotz leichter Rückkehrmöglichkeit, in 2600 Meter Höhe zu biwakieren. Es war herrlich frisches Wetter, und wir genossen es besonders am folgenden Morgen auf dem Gwächtenhorn nach Herzenslust.

Soll ich Ihnen noch einiges von anderen Biwaks erzählen? Ich habe deren gewollte und auch unfreiwillige etwa 25 erlebt. Sie lassen einem, Schlechtwetternächte ausgenommen, in der Regel keinerlei unangenehme, sondern vielmehr interessante Erinnerungen und starke Eindrücke zurück. Viel lieber im Freien nächtigen als in einer überfüllten Clubhütte! Für Hochturen trugen wir stets grosse Schuhe und Doppelsocken; leichte Schlafsäcke sind eine Errungenschaft der Neuzeit, genügen übrigens auch nicht ganz.T.rotzdem gab es bei Freilagern etwa kalte Füsse, gegen die weder energisches Zähneklappern noch Singen schönster Lieder etwas half. Man war froh, sich am Morgen wieder in Bewegung setzen zu können. Aber wenn nachts in jenen Höhen die ewigen Sterne in unsäglicher Klarheit und Schönheit herableuchten, rufen sie im einsamen Menschenkind grossen Gedanken, lösen seine Seele von allem Gewöhnlichen, Vergänglichen und offenbaren ihr eindringlich, dass wir im unendlichen All allesamt nichts sind.

Am Weisshorn, das sie trotz schlechtem Wetter und verschneiten Felsen erzwingen wollten, biwakierten einst drei Gesellen in zirka 4200 Meter Höhe am Fuss des letzten Eishanges auf dem obersten Felsplätzchen. Nur zwei von ihnen konnten sich niederkauern, und es schneite die ganze Nacht bei leichtem Wind. Sie können es verstehen, meine Herren, dass der Abstieg am folgenden Morgen, bei gleichem Wetter, keine einfache noch ungefährliche Sache war! Ich habe nur einmal, an der Südseite des Matterhorns, mit meinem Schwager einen ähnlichen, eher gefährlicheren Abstieg erlebt, doch ohne vorheriges Biwak. Man ist nach einem « gemussten » Freilager körperlich und geistig oft nicht mehr ganz normal und soll sich daher zwingen, doppelt aufzupassen. Wenige Jahre nachher bezogen René Koenig und ich am Vorabend unseres zweiten Aufstiegs zum Weisshorn ein diesmal freiwilliges Biwak, etwa eine Stunde oberhalb der Clubhütte. Wir lagen in einer warmsandigen Nische, mit einer Decke über uns, und hatten dann eher zu warm. Am folgenden Morgen waren die Verhältnisse oben auf dem Grat so günstige, dass wir dessen felsigen Teil schon nach einer Stunde hinter uns hatten und auf dem Gipfel einen langen, herrlichen Aufenthalt erleben durften. So können die Verhältnisse auf den Hochgipfeln ändern. Uns Dilettanten oder Amateuren geschah bei all diesen Experimenten nichts Ernstliches. Aber ein Franz Lochmatter, grosser Hima-laja-Reisender, alles in allem bester Führer seiner Generation, Vater von acht Kindern, fällt auf diesem von ihm hundertmal begangenen Grat und reisst seinen Herrn mit sich in die Tiefe! ( Ebenso verunglückte seinerzeit Emile Rey. )... Vorsicht! Vorsicht! liebe junge Bergsteiger — die kleinste Nachlässigkeit kann sich rächen! Auch der Beste unter euch ist nicht gefeit.

Ich könnte Ihnen noch von manchen anderen Freilagern erzählen. So von einem sorgfältig ins Werk gesetzten, hoch ob dem Sefinental in den prächtigen Ostfelsen der Büttlassen, anlässlich unserer Überschreitung der Lücke. Sie sind das Heim des reizenden Alpenmauerläufers. Gegenüber erhebt sich die Jungfrau in ihrer ganzen Grösse. Oder, in späteren Jahren, von einem am Gspaltenhorn-Südwestgrat, oberhalb des obersten Roten Zahnes — nach einem grossen Tag eine fröhliche Nacht! Oder von einem im April mit Henry Rieckel im Val Bedretto, am Fuss des Poncione di Ruino. Wir entdeckten in der Nähe einer vom Schnee zusammengedrückten Alphütte, in der wir hatten nächtigen wollen, ein schneefreies Plätzchen und zündeten dort ein wärmendes Feuer an. Aber in der Nacht griff dieses plötzlich auf das mich bedeckende, photographische Schwarztuch über. Santa Madonna purissima! Ein Sprung, ein Herumwälzen im Schnee, und für einmal war ich dem mich schon etwas brennenden Feuer entronnen! Andere freiwillige Biwaks erfolgten, mangels Clubhütten, 1876 am Wildhorn ( meine und meines Bruders erste Gletscherfahrt ), 1877 am Dom, ferner am Griespass ( fürs Blindenhorn ), im Mont Blanc- und Dauphine-Gebiet, letztere mit meinem Freund Charles Simon und R. Koenig.

Doch damit Schluss meiner Aufzählung. Wenn die Fussturen der einstigen Jungen manchmal in der Länge etwas ausarteten, lag die Erklärung in ihrem jugendlichen Optimismus und darin, dass sie mussten — wollten sie ihre zum Teil weit gesteckten Ziele in der verfügbaren Zeit erreichen: also kein besonderes Verdienst von ihrer Seite. Später waren sie nur zu froh, von den besseren Verbindungen zu profitieren.

Heutzutage hat es der fröhliche Bergwanderer viel bequemer. Bahnen führen überall hinauf, in hohe Täler und auf viele hohe Ausgangspunkte. Oder aber, zum Kummer der armen Aktionäre oder sogar Obligationäre, besteiget Ihr, werte Clubisten, am Sonntag morgen, nach bester Nachtruhe, nicht sowohl die notleidende Eisenbahn als vielmehr Euer Auto oder das eines Freundes. Ihr fahret ins Oberland und machet Eure Tur. Wir mussten im Abstieg fast immer eilen. Ihr, im Gegenteil, habt hiefür keinen Grund noch Notwendigkeit, denn kein Fahrplan schreibt Euch etwas vor. Zu beliebiger Stunde umfangen Euch wiederum die weichen Kissen Eures Vehikels, und in relativ kurzer Zeit verlasset Ihr sie und den Wagen genau vor Eurer Haustüre — falls nicht etwa unterwegs ein zur Strecke gebrachter, einfältiger Fussgänger Euch aufgehalten hat! Im übrigen steht es noch heute einem jeden frei, sollte ihn die Lust dazu ankommen, alle diese Turen in der alten Weise, wie vor 60 Jahren, ohne Benützung der heutigen Verkehrsmittel zu unternehmen!

Im Winter gleitet Ihr auf glatten Brettern lustig über metertiefe Schneehänge, wo früher ein langes, mühsames Waten, bestenfalls mit Schneereifen, unser Los war. Aber die Berge waren damals, besonders im Winter, wunderbar einsam, still und unberührt. Auch im Sommer begegnete man selten Turisten, lärmenden, rohen Gesellen und ihren Gespanen schon gar nicht.

Man hatte die Gipfel fast immer für sich. Diese Zeiten sind vorbei und kehren nicht wieder.

Danken wir Schweizer, junge und alte, dem Schicksal, dass wir die grünen Täler und weitausschauenden Gipfel stetsfort so nahe haben, dass wir dort jederzeit Körper und Geist erfrischen, erneute Lebenskraft und Freude fassen können, wenn wir das Bedürfnis dafür empfinden. Wie viele andere Länder, tausend andere Städte beneiden uns darum. Unser Land ist klein, aber unser sind unsere gewaltigen Berge.Verachten wir in unserer allzu sportlich sich gebärdenden Zeit aber auch die wenig berühmten, die unschwierigen Gipfel nicht. Keiner gleicht dem anderen. Ein jeder hat seine Individualität, seine spezielle Aussicht und bietet geographisches und anderes Interesse. Der nicht blasierte Berggänger fühlt ihren besonderen Reiz, ihren wohltuenden Einfluss, auch wenn wenige oder keine Schwierigkeiten zu überwinden sind. Ich habe es erfahren.

« Die Berge sind stumme Meister und machen schweigsame Schüler » ( Goethe ) oder sollen es. Ich gedenke der fernen Jugendjahre, als jene schöne wilde Welt dort oben uns gänzlich neu war, als sie uns nach und nach ihre ganze Schönheit erschloss, und ich sende den Berggruss eines Alten jenen Freunden und tapferen Genossen, die nicht mehr da sind.

Valete!

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