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Gletscher Ducan

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Christel Kenel, Zug

oder eine Skitour mit dem schönsten Mann der Welt Soll ich wohl den roten Pullover anziehen oder den warmen grauen mit den dunkelgrauen Sternchen? Unentschlossen stehe ich vor meinem Kleiderschrank. Wir wollen mit den Ski auf den Gletscher Ducan, und Hansueli hat am Telephon gesagt, dass Mario mitkomme, Mario, der schönste Mann der Welt. Doch dann ziehe ich mir den dicken, grauen Pulli über den Kopf. Wir wollen im Zelt übernachten, und es ist erst Ende April.

Bertel und ich fahren mit der Eisenbahn nach der Station Davos-Monstein und mit dem Postauto zum Dorf Monstein, während Hansueli und Mario mit dem Auto folgen wollen. Frühjahr 1968. Staunend und erschreckt sehen wir die Zerstörungen, die die Lawinen in der Landschaft Davos angerichtet haben. In Monstein ist von die- sem verheerenden Geschehen nichts zu bemerken. Die Sonne scheint warm, und der Schnee schmilzt von den Dächern. Mit geschulterten Ski gehen wir zwischen braunen, aperen Wiesen auf dem staubigen Weg, der zur Oberalp hinaufführt. Noch spriesst nirgends ein Blümchen oder ein grüner Halm. Von überall her murmeln die Wasser. Bald ziehen wir die Ski an und spuren hinauf zur Alp. Auch hier haben die Lawinen gewütet und einen Teil der Hütten zerstört. Verblüfft und nachdenklich betrachten wir ein Kanapee, das auf einer glattpolierten Diele unter dem freien Himmel steht. Nirgends ein aperer Fleck, wo wir unser Zelt aufstellen könnten. Und dort oben, jene Schulter in der Flanke des Erezberges? Die Schulter erweist sich als vorspringendes, schneefreies « Egg ». In eine flache Senke stellen wir unser kleines, blaues Nylonzelt, « die Missgeburt », wie wir es seiner Form wegen nennen. Vorne auf dem Egg, bei der kahlen, knorrigen Lärche, errichten wir aus Steinen einen Windschutz für die « Küche », und damit sind die Bauarbeiten abgeschlossen. Wir räkeln uns faul in dem dürren Gras und schauen, halb schlafend, den kleinen Nassschneerutschen zu, die ab und zu aus der steilen Flanke des Berges über uns durch eine der vielen Rinnen heruntergleiten. Warm ist es und still. Wohlige Zufriedenheit erfüllt uns. Dann wird die Suppe gekocht, und nach dieser löblicherweise einzigen hausfrau-lichen Tätigkeit des Tages setzen wir uns vorne auf unser Egg und schauen hinunter ins Tal, nach Monstein und auf das helle Band der Strasse. Wir warten auf Hansueli und auf Mario. Nach und nach verwischen die Umrisse der Berge jenseits des Tales. Die Erlen am Nordhang, am anderen Ufer des Baches, werden zur dämmrigen Masse. Die Stille wird dichter. Ab und zu piepst ein Vogel — verstummt Grau und schummrig zieht sich die Strasse durch die dunklen Wiesen; kaum liessen sich zwei Menschen auf ihr noch erkennen. Die Äste der Lärche zeichnen schwarze Muster in den bleichen Himmel. Im Dorf unten leuchten die Lichter. Die Scheinwerfer eines Autos blinken auf - erlöschen. Wir frösteln und kriechen in die Wärme der Schlafsäcke und in die Geborgenheit des Zeltes. Der Wind raschelt im dürren Gras und spielt leise mit dem Nylontuch. Wehmütig erklingt der Ruf einer Lokomotive aus dem Landwassertal. Wir schlafen ein... und fahren plötzlich hoch. Völlige Schwärze umfängt uns. Kaum sind die Hütten der Alp zu erkennen. Durch die Stille der Nacht dringen hartes Klappern und zischendes Gleiten. Lichtkegel wandern suchend um die Hütten der Alp, und Stimmen fragen, wo wir wohl seien. Wir liegen in unseren Säcken und hören den Eindringlingen, die die Stille der Nacht so rücksichtslos durchbrechen und die doch unsere Freunde sind, zu. Unser endliches Rufen erhöht ihre Verwirrung, und erst wie wir unsere Lampen anzünden, erraten sie, wo wir sind. Bald liegt Hansueli, keuchend und schnaufend, vor unserem Zelt auf dem Bauch und erzählt uns in geballter Form die Ereignisse des vergangenen Tages. Ja, und Sauerkraut und Wienerli hätten sie gekauft, und Mario sei nun eben daran, das Kraut und die Wurst zu wärmen. Da — ein heftiger, harter Knall, kurz und schneidend, ein Knall wie ein Schuss! Starr liegen wir auf der Rippe des Berges. Stille — nichts - Stille. Dann, seltsam bebend, eine Stimme, die « un miracolo! » durch die Nacht gellt. Dann wieder Stille und das Poltern und Stolpern von Hansueli, der den Hang hinuntereilt, das Klappern seiner Ski. Noch halb benommen vom Schlaf, zu keiner Handlung fähig, liegen Bertel und ich in unseren Säcken und starren hinunter zur Alp, wo jetzt ein Licht tanzt und von wo Wortfetzen heraufflat-tern. Und wieder Hansueli: Unten bei der Hütte sei Mario gestanden, bewegungslos, die Pfanne mit dem Sauerkraut und den Würsten in der Hand, und habe nur immer gesagt: « Un miracolo. » Der Brenner des Benzinkochers sei explodiert, habe sich in Nichts aufgelöst, und Gott sei Dank sei weder Mario noch dem Sauerkraut und den Würsten etwas geschehen, und ob sie nun unseren Brenner haben könnten, um Tee zu kochen. Die « Küche » sei dort vorne bei dem Baum, sagen wir, und die sich überstürzenden Ereignisse dieser Nacht bedenkend, dösen wir wieder ein. Noch einmal raschelt das dürre Gras; es ist Hansueli, der den Brenner wieder in die « Küche » bringt... So schön es ist, am Abend vor dem Zelt zu sitzen, so grausam ist das morgendliche Aufstehen. Gerne würde ich mich verschlafen, aber Bertel erwacht unerbittlich. Schon um 4 Uhr kriechen wir aus dem Zelt in eine kalte, graue Dämmerung unter einem fahlen Himmel, in dessen Weite sich alle Wärme verliert. Frierend und schlotternd kochen wir Tee, frühstücken mit klammen Fingern und stelzen dann steif über den steilen Hang hinunter zu unseren Ski. Verlassen liegen die Hütten der Alp im ersten Licht des Tages. Tiefe, gefrorene Spuren führen von einem Gadentor zum anderen bis zur kleinsten der vielen Hütten. Tief muss ich mich unter den niedrigen Balken der Türe bücken. Ein durchdringender Geruch von Ziegen und Ziegenbock schlägt mir entgegen; es herrscht ein wirres Durcheinan- der, unbestimmbar im dämmrigen Zwielicht. Auf einem Haufen Stroh neben einem Kalbergat-ter regt sich etwas: Es ist Hansueli, der sich auf seinen Ellbogen stützt und mir « Salü Ghriisch-tel! » entgegenkräht. Unvermittelt erheben sich hinter einem grossen « Chessi » die Umrisse einer Gestalt, ein schemenhaftes Wesen streckt mir die Hand entgegen, murmelt « Mario » und versinkt wieder hinter dem « Chessi ». Verwirrt und etwas benommen von dem durchdringenden Gestank, frage ich Hansueli, ob sie denn keinen anderen Stall gefunden hätten. « Wir haben es hier doch z'greechte », tönt es zurück. Draussen vor der Tür scharrt Bertel wie ein wildes Pferd und ruft, die Sonne stehe schon an den Bergen, ich solle kommen, er gehe jetzt. Und dann schiebe ich meine Ski hinter denjenigen Berteis über den harten Schnee durch das erst enge, dann weiter werdende Tal, das hinaufführt zur Fanezfurgga, verwundert darüber, dass dieser « schönste Mann der Welt » für mich bis jetzt nur zu einer Stimme, die « un miracolo » durch die Nacht gellt, und zu einem schemenhaften Umriss in einem vom Ge- stank der Ziegen erfüllten Stall geworden ist. Doch dann nimmt mich das gleichmässige, rhythmische Gleiten auf den Skis, das so vieles vergessen lässt und so viele Probleme löst, gefangen. Immer näher kommen wir der Linie, die den Schatten vom Licht trennt, und dann tauchen wir ein in die Wärme der Sonne. Schon rollen kleine Kugeln nass gewordenen Schnees über unsere Ski von den Hängen zur Rechten. Dann stehen wir in der Furgga und schauen hinüber zum Gletscher Ducan, der noch im Schatten liegt. Sein Gipfelhang ist voll verwehter Skispuren. Wir fahren etwas ab und steigen dann inmitten anderer Skifahrer, die hinter uns aufgetaucht sind, zum Gipfel auf. Eine der vielen Gestalten ist Hansueli. Er ruft schon von weitem, Mario komme nicht auf den Gipfel; er habe Blasen an den Füssen und warte unten in der Ducanfurg- ga auf uns. Ich schaue hinunter zu den zünd-holzähnlichen Gestalten, die sich von Furgga zu Furgga bewegen. Welche ist wohl Mario? Wir lassen die Ski in der Scharte zurück und steigen zu Fuss auf den Gipfel. Es ist einer der « geschenkten » Tage, wie wir sie nennen, warm und mild, der Blick in die Weite von keiner Wolke getrübt. Stolz und düster der Piz Kesch, leuchtend die Bernina, zebraähnlich, von schneebedeckten Bändern durchzogen, der Piz Ela. Wo sie denn übernachtet hätten, fragen wir die anderen Skifahrer, die auch auf dem Gipfel sind. « Im Kurhaus von Monstein. » — Wir schauen sie an wie Wesen von einem fremden Planeten und denken an unsere « Missgeburt » unter den Sternen, Ich träume hinunter ins Val da Stugl und stelle mir vor, wie schön es wäre, Spuren in seinen gleissenden, unberührten Schnee zu ziehen. Da ruft Hansueli plötzlich, sich weit über den Gipfel hinausbeugend, dort unten komme Mario, Mario, der schönste Mann der Welt, auf jeden Fall der schönste Mann von St. Gallen und ganz bestimmt der schönste Mann in ihrem Büro, denn solches liesse sich aus dem Verhalten der weiblichen Mitglieder schliessen. Doch wie Mario dann freude- strahlend auf den Gipfel tritt, da ist er für uns schon längst zu unserem Bergkameraden Mario geworden, und bei Bergkameraden kommt es auf die Schönheit nun wirklich gar nicht an.

Der Schnee am Gipfelhang ist verweht und durchkreuzt von gefrorenen Spuren; doch weiter unten wird er zum gleissenden, rauschenden Teppich, und, wie immer, bleibe ich, meine Schwünge bedächtig ziehend, allein auf weiter Flur zurück. Ich bleibe stehen und lächle hinüber zum Piz Ela, und der Piz Ela lächelt zurück mit all seinen schneebedeckten Bändern. Unten im engen Ducantälchen kleben wir die Felle und steigen wieder an zur Fanezfurgga. Es ist heiss und drückend, und wieder bleibe ich zurück; doch diesmal empfangen mich Hansueli und Bertel gnädig mit Schnuuregiigemusik und erklären, wir seien noch zu früh, der Schnee sei noch hart. Von Zeit zu Zeit unterbrechen sie ihr Konzert und stecken den Zeigefinger in den Schnee, um dann plötzlich zu erklären, jetzt sei er gut. Wir fahren los und fahren, als ob noch nie ein Mensch beim Skifahren sein Bein gebrochen hätte.Völlig ausser Atem stehen wir schliesslich am Fuss unseres zeltgekrönten Eggs, stöhnend darüber, dass auch wir, wie der SAC seine Hütten, unser Haus so hoch hinaufgestellt haben.

Voll strahlt die Sonne, und das Weiss des Schnees verdoppelt ihre Kraft. Zartweiss blühen die Krokusse. Innert kürzester Frist entledigen wir uns all dessen, dessen sich zu entledigen statthaft ist, und bald ist unser Egg übersät mit Hemden, Hosen, Schuhen, Socken. Wie eine Schar bleicher, frisch gerupfter Bergdohlen hocken wir enggedrängt und schielen immer wieder ängstlich zur « Küche » hinüber, wo der Benzinvergaser in der prallen, heissen Sonne brummt und zischt. Von Zeit zu Zeit steht eine der Gestalten auf und umhüllt den Brenner sorgfältig mit kühlendem Schnee. Wir atmen erst auf, als das Wasser kocht und wir den Brenner löschen können. « Gott sei Dank ist letzte Nacht nichts passiert », murmelt Bertel, noch ganz unter dem Eindruck einer möglichen zweiten Explosion. « Was, nichts pas- siert? » entgegne ich, « schau doch hinunter zur Alp; dem sagst Du ,nichts passiert '? » Alle schauen wir hinunter auf die von den Lawinen zur Hälfte zerstörte Alp, und nun kennt unser Übermut keine Grenzen mehr. Er gipfelt in Schlagzeilen wie: « Unruhen im Südtirol greifen auf die Schweiz über. Italienischer Alpini zerstört mutwillig Alp im Kanton Graubünden. » Die ganze Zeit über bestreicht Hansueli Brote mit Butter und Mettwurst und verteilt sie gedankenverloren zwischen die blühenden Krokusse und die herumliegenden Hosen, Socken und Schuhe. « Jetzt han i viel z'viel Bröötli gmaacht », jammert er plötzlich, « wer wott Bröötli? » Misstrauisch betrachten wir die an der Sonne schmelzenden Dinger, und nur ich kann mich dazu entschliessen, eines der fetttriefenden Gebilde zwischen dem einen langen Bein von Berteis Unterhose und dem härenen Pullover von Mario herauszuan-geln. Dann überreden wir Hansueli dazu, sich halbnackt, wie er ist, auf den Schnee hinter dem Egg zu wagen. Er versinkt sogleich bis zum Bauch, und von neuem erfüllen schauerliche Klänge das stille Tal. Immer wieder wird die Stunde des Aufbruchs hinausgeschoben, obwohl Hansueli und Mario am selben Tag in St. Moritz noch ein Fräulein mit einem gebrochenen Bein holen und nach St. Gallen bringen müssen. Doch endlich raffen wir uns auf und steigen ächzend — wegen Sonnenbrands - in unsere Kleider und stöhnend - wegen « Blootere a de Füess » - in unsere Schuhe.

Die restliche Abfahrt im nassen, grundlos gewordenen Schnee am nordseits gelegenen Schattenhang ist mühsam und die Überquerung des stark angeschwollenen Baches spannend. Bei den Autos beginnt ein seltsames Treiben, dem Bertel und ich, auf einem Mäuerchen sitzend, etwas verwundert zusehen. Hansueli und Mario entnehmen dem Kofferraum ihres Autos je ein wohlver-wahrtes, blütenreines, weisses Hemd, das sie sich über die verschwitzten Köpfe ziehen. Dergestalt verschönert, lassen sie weisse Zähne in braunge-branntem Gesicht blitzen und sind nun wohlge- rüstet, das Fräulein mit dem gebrochenen Bein in St. Moritz abzuholen.

Ob denn die weissen Hemden etwas genützt hätten, frage ich Hansueli die folgende Woche am Telephon. Nein, nicht viel, lautet die Antwort, das Fräulein habe nicht verstehen können, dass zwei so gut aussehende Herren so penetrant nach Ziegenstall röchen.

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