Herbstfahrt auf den Grossen Kärpfstock | Club Alpin Suisse CAS
Soutiens le CAS Faire un don

Herbstfahrt auf den Grossen Kärpfstock

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Armin Rühl

( Zürich ).

Strassen und Gassen sind schon still und dunkel, da wir einige Minuten nach 11 Uhr Schwanden durchschreiten. Ein Stück geht 's dem Sernf entlang, und dann erreichen wir den eigentlichen Weg, der erst durch Wiesen massig steil emporführt. Es ist eine selten klare Nacht, der Himmel mit Tausenden von Sternen besät. Kurz, bevor der Weg ins Tal des Niederenbaches einbiegt, steigt der Mond, der uns bis zur Hütte begleiten soll, hinter dem Gufelstock auf, mit seinem Schein das unter uns liegende Dorf, dessen Dächer, die wie mit Rauhreif überzogen scheinen, überflutend. Bald wieder im Bergschatten, geht 's zuerst rechts, dann links neben dem mächtig rauschenden Niederen-bache aufwärts. Bei einem kleinen Weiher queren wir nochmals den Bach, ein längeres, fast ebenes Stück folgt, wenige Minuten vor Mitternacht sind wir im Kies.

Hier ist die primitive Talstation der Luftseilbahn, die zum Stausee Garichte führt. Kurzer Kriegsrat, dann läute ich die Bergstation an. Einmal, zweimal, ein paar Minuten Stille, die uns unendlich lang erscheint. Endlich erfolgt Antwort, ja wir können noch hinauffahren. Schnell in die Kiste, noch einmal läutet das Telephon, und genau um Mitternacht entschweben wir dem Erdboden. Es ist eine phantastische Fahrt. Von tief unten dringt das Rauschen des Niederenbaches herauf, die grossen Tannen werfen riesige Schlagschatten, zur Linken erhebt sich die schwarze Schwirrenwand, während rechts drüben die gewaltige Südwand des Glärnisch, vom silbrigen Mondschein Übergossen, auftaucht. Zu kurz nur ist die Fahrt, der erste Träger über der Steilwand taucht auf, und schon fahren wir in der Bergstation ein. Ein kleines, aber nachhaltiges Mitternachtsintermezzo ist zu Ende.

Über die Staumauer, dem schön gelegenen See entlang, dessen Uferpartien sich auf der glatten Fläche spiegeln, führt der Weg nach einer kleinen Steigung dem flachen Talboden der Niederenalp zu. Im fahlen Mondlicht erscheint jetzt im Talhintergrund unser Ziel, der Kärpfstock, in dessen uns zugekehrter Flanke noch ziemlich viel Neuschnee liegt, der erst in den letzten Tagen gefallen ist. Noch immer ist der Bach richtungweisend. Einmal wird er auf einer Naturbrücke überquert, der Pantenbrücke, die man in früheren Jahren öfters auf Stichen abgebildet gesehen hat. Gegen den Talabschluss zu führt der Weg westwärts zwischen Alpenrosenstauden durch, über Grashalden und leichtes Geröll. Rasch gewinnt man an Höhe. Fünf Minuten vor zwei Uhr ist die Grathöhe erreicht, die sich vom Sonnenberg gegen den untern Kärpf hin zieht. Über eine grobblockige Geröllhalde, dann südwärts umbiegend wird die Hütte in einer Viertelstunde erreicht. Bevor die Hütte in Sicht kam, hatten wir noch ein schönes Erlebnis. Ein grosses Rudel Gemsen, es mochten über 20 Tiere sein, ästen in Wegesnähe und liessen uns ziemlich nahe kommen, um dann bergwärts zu flüchten. Der Hüttenwart, dem ich den Vorfall später erzählte, meinte, das sei hier keine Seltenheit, man könne oft Rudel bis zu sechzig und achtzig Stück Gratwild erblicken. Das Gebiet des Kärpfstockes ist eines der ältesten Wildschonreviere der Alpen. Ehe wir die Hütte betraten, um für ein paar Stunden die Pritsche aufzusuchen, genossen wir noch ein Weilchen die nächtliche Aussicht, den Blick ins Glarnerland hinaus, der bis Ziegelbrück offen war; Ortschaft reiht sich an Ortschaft; eine einzige Strasse von Lichtern.

Es ist schon reichlich spät, als die Pritschen verlassen werden. Aber ein herrlicher Tag! Die Gipfel und Firne der Tödi- und Claridengruppe sind schon von den ersten Sonnenstrahlen geküsst, ein zartes Rosa und Gold liegt auf ihnen. Auch über den Terrassen von Braunwald und Oberblegi ist Sonne, scharf hebt sich der Guppengrat, dem ich vergangenes Jahr die Ehre erwiesen habe, vom blauen Himmel ab. Gegen den Kärpf hin liegt alles noch im Schatten, eine gute Stunde wird 's wohl dauern, bis die Sonne über dem Kärpftor herabschauen wird. Man merkt, dass die Tage bedeutend kürzer geworden sind. Trotz des prächtigen Wetters ist sonst kein Mensch weit und breit; der Hüttenwart hat es nicht begreifen können, uns aber freut dieses Alleinseinkönnen. Von der Hütte weg queren wir Geschröff, steile Gras- und Geröllhalden schräg aufwärts unter dem untern und kleinen Kärpf durch, es folgen Blöcke, kleinere Kletterstellen, Schneeflecke. Zwei-, dreimal erblicken wir den Milchspülersee ( dessen milchig bläuliches Wasser ihm wohl zu diesem Namen verholfen hat ), der idyllisch in einem Kessel verborgen liegt, von drei Seiten von Fels und steilen Halden, die mit Schrofen durchsetzt sind, umrahmt. Um eine Ecke biegend, gewahren wir das kleine Gletscherchen, das zwischen kleinem und grossem Kärpf eingebettet liegt. Etwas zu hoch gekommen, fahren wir nun mit einer Ladung Schiefer zu ihm hinab. Auch hier und in den Felsen, die zum Tor hinaufführen, liegt Neuschnee; man sieht, dass dies ein Schattenloch ist. Viele Gemsspuren zeugen von der Vorliebe dieser Tiere, sich in den warmen Nachmittagsstunden auf dem kühlen Firn zu lagern. Leicht geht 's nach Überschreiten des kleinen Gletschers mit seinen wenigen kleinen Querspalten in dem gutgestuften Schiefer zum Tor hinauf, wo uns herrlich warme Sonne empfängt. Ein umfassender Blick in die Berge zwischen Foo- und Panixerpass belohnt den Aufstieg.

Über Geröllbändchen geht 's ein Stück horizontal weiter aufwärts über Blöcke und gute Felsen zum Gipfel des grossen Kärpfstockes, 2797 m. Es ist kein sehr schwer zu erringendes Ziel, trotzdem freuten wir uns des Sieges und sind glücklich.

Lange, lange liegen wir in der Sonne, der milden, warmen Oktobersonne, schauen hinaus ins herbstliche Land, das sich gegen die Linthebene zu in leichtem Dunst verliert, schauen hinüber zu den gleissenden Firnen und Gletschern der Bündnerberge, zum nahen Hausstock, dem trutzigen Klotz des Tödi, zum schönen Skigebiet der Clariden, zum Ortstock, zum Hohen Turm, an dessen Füssen ich die ersten Edelweiss gefunden habe. Und dann sucht das Auge Erholung von dem Geschauten im dunkelblauen Himmel. Es sind dies Stunden, die für viele graue Tage in der Stadt, für den eintönigen Alltag im Geschäft entschädigen. Leise Wehmut will mich beschleichen beim Gedanken, dass dies wohl die letzte Tour des Jahres ist; denn bald werden rauhere Tage kommen, verhangener Himmel, Regen, Nebel, Schnee, gelb, braun und zerfahren in den Strassen... Dann aber wieder ein anderes Gedankenbild: weisse, glitzernde Flächen, wie Bugwellen stiebt der Pulverschnee vorn von den Brettern auf, schwungvolle Spuren hinterlassend. Schnee, Winter, du schöne Zeit! Ich freue mich auf die erste stiebende Fahrt, während Oktobersonne mir auf die geschlossenen Lider scheint. Fort ist die Furcht vor dem Grau, nur eine Sehnsucht nach neuen Fahrten, neuen Bergen klingt leise nach, die wohl ewige Sehnsucht, die einem in der Tiefe nie zur Ruhe kommen lässt, die immer zu neuen Höhen lockt.

Es ist Mittag, als der Abstieg Richtung Elm angetreten wird. Viel Geröll, sehr viel Geröll, viel Sonne, sehr viel Sonne auf dieser Seite.

In einem kleinen Kessel hat sich ein Firnkuchen erhalten, und so etwas wie eine Höhle ist vorhanden. Froh, diese entdeckt zu haben, machen wir es uns darin bequem, denn die Kühle tut wohl. In der Nähe fliesst Wasser, und bald ist eine erfrischende « Ovomaltinefrappé » zubereitet. Mit neuen Kräften werden die nun folgenden steilen, heissen Halden zur Erbsalp hinunter erledigt. Von da windet sich ein Weglein durch schönes Weideland hinab; dann kommen erst einzelne, zum Teil verkrüppelte, zum Teil herrlich gewachsene Tannen, die nach und nach einen hochstämmigen, lockeren Wald bilden, erfüllt von harzigem, herbem Geruch. Schön ist 's, da zu gehen, und nur zu bald ist das kleine Strässchen erreicht, das uns in einer halben Stunde nach Elm hinaus bringt. Es ist 4 Uhr, also noch nicht so spät am Tag; der vorgerückten Jahreszeit wegen aber hat die Sonne viel in ihrer mittaglichen Hitze nachgelassen; die Strahlen fallen schon schräg durch Zweige und Blätter, weisse Flecken und Streifen auf den schattigen Boden werfend, den schon viele bunte Blätter bedecken. Hie und da ein wilder Rosenstrauch am Weg mit noch wenigen gelbgrünen Blättern und vielen roten Hagebutten. Wo der Wald aufhört, säumen Wiesen, in denen einzelne Herbstzeitlosen stehen, den Weg. Rot leuchten am jenseitigen Talhang die Buchen in der Sonne, goldgelb der Ahorn, darüber dunkle Schieferwände, tiefblauer Himmel, ein Bild, das man so leicht nicht vergisst. Das schöne Kirchlein von Elm mit seinem Käsbissendach liegt nah vor uns. Bevor wir Einzug halten im Dorf, wird noch einmal ein kleiner Halt gemacht; wir schauen zurück, wo der weisse Hausstock das Tal abschliesst, geniessen nochmals den Anblick der in Rot und Gold leuchtenden Laubwälder, und mir kommen Kellers Worte in den Sinn:

« Trinkt, oh Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt. »

Feedback