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Himalaya-Chronik 1955

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von G.O. Dyhrenfurth

Man mag « das Goldene Zeitalter des Himalayismus » mit dem Jahre 1950 beginnen lassen, als « der erste Achttausender », Annapurna I ( 8074 m ), bezwungen wurde und als die bergsteigerische und wissenschaftliche Erschliessung des früher so schwer zugänglichen Königreiches Nepal in Schwung kam. Jetzt ist der Andrang kleiner und grosser Expeditionen bereits so stark geworden, dass ein Himalaya-Pionier etwas wehmütig an die guten alten Zeiten der Stille zurückdenkt. « Die ich rief, die Geister... » Leider wird dabei neuerdings der nationale Gesichtspunkt immer schärfer betont. Manche versuchen, sich gewisse Achttausender-Reviere durch Vorbestellung auf Jahre hinaus zu sichern, ein Monopol, das von der nepalischen oder von der pakistanischen Regierung durchaus nicht immer gebilligt wird.

Wer glaubte, dass das Jahr 1953 mit Everest- und Nanga Parbat-Besteigung ein Sonderfall sein und bleiben werde, hatte sich geirrt. 1954 setzte sich die Eroberung der Weltberge mit K 2 und Cho Oyu fort, und auch 1955 entwickelte sich zu einem grossen Himalaya-Jahr. Am Jahresbeginn 1956 einen Überblick über die wichtigeren Himalaya-Expeditionen 1955 zu geben, ist eigentlich zu früh. Für den Chronisten ist der zeitliche Abstand noch zu gering; manches, was er wissen sollte, ist noch nicht bekannt oder zum mindesten noch nicht ganz klar. Andererseits ist es angesichts der Überfülle des verflossenen Jahres verständlich, dass viele Klubkameraden gern möglichst bald eine Übersicht des Wesentlichsten haben möchten. Darum habe ich mich, wenn auch mit einigem Vorbehalt, zu diesem Versuch entschlossen. Wir wollen dabei, geographisch vorgehend, im Osten beginnen und im äussersten Nordwesten enden. Nur die von meinem Sohne Norman organisierte und geleitete « Internationale Himalaya-Expedition 1955 » soll ausserhalb dieser kurzen Zusammenfassung später ( S. 86 ) für sich behandelt werden.

1. Die Britische Kangchendzönga-Expedition wurde vorsichtshalber « Reconnaissance Expedition » genannt, doch wusste jeder Fachmann, dass es jetzt um mehr ging als eine blosse Erkundung. Der neue Leiter, Dr. Charles Evans, ein sehr erfahrener Bergsteiger und Himalaya-Kenner, wollte mit seiner kampfkräftigen Mannschaft einen entschlossenen, wenn irgend möglich entscheidenden Angriff auf den Kangchendzönga-Hauptgipfel ( 8585 m ) machen. Auch George Band, der Neuseeländer Norman Hardie, John Jackson, Tom Mackinnon und Tony Streather hatten bereits grosse Himalaya-Erfahrung. Der junge Joe Brown ist einer der besten « Extremen ». So ist ihm z.B. ( zusammen mit D. Whillans ) 1954 die dritte Durchkletterung der furchtbaren Drus-Westwand gelungen, und zwar in der unglaublich kurzen Zeit von zwei Tagen, womit er den britischen Alpinismus wesentlich beeinflusste. Auch Neil Mather und der Expeditionsarzt Dr. John Clegg waren als tüchtige Alpinisten bekannt.

Erster Sirdar war Dawa Tensing ( meist nur Da Tensing genannt ), nicht zu verwechseln mit dem berühmten « Tensing Norgya Sherpa », dem Gefährten von Hillary bei der Erstersteigung des Everest 1953. Dawa Tensing, dem die Engländer ein glänzendes Zeugnis ausstellen, brachte aus Solo Khumbu eine gute Sherpa-Mannschaft mit, bei der er grosse Autorität hatte. Die Ausrüstung war gegenüber 1953 noch verbessert worden, auch die Sauerstoffgeräte.

Eine ernste Gefahr war der Einspruch des Hofes von Sikkim gegen jeden Angriff auf Kangchendzönga, den heiligsten Berg des Landes. Nach längeren Verhandlungen in Gangtok einigte man sich schliesslich dahin, dass die Briten sich verpflichteten, den un- Die Alpen - 1956 - Les Alpes7 mittelbaren Bezirk des Gipfels keinesfalls zu entheiligen, also den höchsten Punkt nicht zu betreten.

In drei Staffeln setzte sich die grosse Expedition Mitte März von Darjiling in Bewegung. Der Anmarsch über den welligen Singalila-Kamm, mit prachtvollen Ausbücken auf Kang-chendzönga- und Everest-Gruppe, ist einer der kürzesten und bei gutem Wetter reizvollsten Zugangswege zu einem grossen Berg. Bereits am 23. März waren sie in Tseram im Yalungtal; das Hauptlager erstand im Oberen Ramser ( ca. 4400 m ), wo die Kulis, d.h. natürlich nur die « Lokalträger », ausgezahlt und entlassen wurden. Dann bildete man gemäss Programm drei Arbeitsgruppen:

Nach dem allmählich berühmt gewordenen nepalischen Dorf Khunza wurde eine « Einkaufsreise » unternommen, um die Belieferung mit frischen Lebensmitteln sicherzustellen. Inzwischen ging eine zweite Gruppe nach dem oberen Yalung-Gletscher, um einen guten Platz für das eigentliche Basislager ausfindig zu machen, und die Vermessungsabteilung sollte für die beabsichtigte Route die Höhen der verschiedenen Abschnitte in der SW-Flanke des Kangchendzönga bestimmen. Doch ein heftiger Sturm beschädigte die Zelte und zwang zu einem Rückzug im Schneetreiben nach dem Hauptlager. Ende März ist für die Hochregion noch zu früh.

Als das Wetter besser und frühlingsmässiger wurde, errichtete man ein erstes Basislager am Fusse des Felssporns südöstlich des Unteren Eisfalles und begann, die von der Kundfahrt 1954 ( John Kempe und Gefährten ) empfohlene Route gangbar zu machen. Aber der obere Teil des Unteren Eisfalles - über dem Felssporn - erwies sich als recht schwierig und gefährlich. Evans konnte es nicht verantworten, wochenlang den ganzen Nachschubdienst durch diese bösartige Trümmerzone zu leiten.

Glücklicherweise hatte Hardie jedoch bereits eine andere Möglichkeit der Routenführung entdeckt: eine Firnmulde, die vom westlichen Felsbollwerk herabziehend oberhalb des Unteren Eisfalles einmündet. Dieser breite Westpfeiler ist durch den Unteren Eisfall vom östlichen Felssporn getrennt. Wenn es gelänge, den Kamm des westlichen Felsbollwerkes zu erreichen, dann könnte man auf diesem Umweg und mit kleinem Höhenverlust die Gletscher-Terrasse zwischen dem Unteren und dem Oberen Eisfall gewinnen.

Am 26. April wurde das Basislager an den Fuss des westlichen Felsbollwerkes verlegt, also nahe dem Platz, der. auf der Karte von Marcel Kurz als « Pache's Grave » bezeichnet ist. Nun kam die Aktion in raschen Fluss: Auf dem Westbollwerk wurde ein neues Lager 1 erstellt und unverzüglich nach dem Platz für Lager 2 vorgespurt. Jeden Tag gingen acht Sherpas mit einem Sahib oder mit Da Tensing im neuen Basislager ( ca. 5500 m ) los, und zwar nach dem Mittagessen, da regelmässig um diese Zeit Bewölkung auftrat und eine leichte Abkühlung brachte. Zunächst stapften sie über einen sanft geneigten Gletscher, mussten allerdings etwa hundert Schritte durch Lawinentrümmer hindurch, die von einer Eiswand 150 m oberhalb der Route stammten. Wenn es auch keine der grossen Eiswände war, so war dieses Stück des Itinerars doch unangenehm, da man das Risiko hier nicht genau berechnen konnte. In dem allmählich steiler werdenden Hang war der Schnee meist sehr weich. So gelangte man nach gut zwei Stunden mühevollen Aufstieges, vom Basislager aus gerechnet, zu einem Absatz des Westbollwerkes, wo Lager 1 ( ca. 6000 m ) stand. Hier befanden sich drei Zelte und eine Eishöhle.

Von Lager 1 musste man schon um 7 Uhr früh losgehen, solange der Schnee hart war. Eine 6 m breite Kluft, von einer sehr verdächtigen Schneebrücke überspannt, musste mit Hilfe einer Aluminiumleiter überwunden werden. In der jenseitigen Eiswand war eine fussbreite Leiste ausgehackt worden, bis man in Trittlöchern hochsteigen konnte, gesichert durch 60 m Seilgeländer. Dann war der Weg bis auf den « Buckel » des westlichen Felsbollwerks offen, nur 150 Höhenmeter, die aber je nach dem Zustand des Schnees eine halbe bis zu vier Stunden kosteten. Mit bunten Fähnchen markiert sah diese Strecke bei schönem Wetter wie ein Slalomhang aus, aber bei Nebel und Schneetreiben war die Orientierungshilfe recht wichtig.

Der Sattel oben auf dem Kamm des Westbollwerks ( 6250 m ) ist breit und zerschründet; wieder musste eine Aluminiumleiter eingesetzt werden. Durch eine steile, breite Schneerinne gelangte man dann in wenigen Minuten auf den Gletscher hinunter, zur Oberkante des Unteren Eisfalles. Die nächste halbe Stunde war besonders gefürchtet: eine Mulde mit unerträglicher Sonnenstrahlung, wie in einem Brennspiegel, tiefer Schnee, durch den man sich zwischen Eisblöcken wühlen musste, dazu feuchte, stickige Luft, also alle Vorbedingungen für die berüchtigte « Gletschermüdigkeit ». Den Schluss bildete eine kleine Eiswand, die mit Hilfe einer 6 m hohen Leiter gebändigt wurde. Trotzdem war diese Stelle für die schwer beladenen Sherpas immer eine letzte grosse Anstrengung, bis sie sich atemlos in den Schnee beim Lager 2 ( etwa 6300 m ) warfen.

Zwei Mannschaften arbeiteten auf der Strecke Basislager-Lager 1-Lager 2; eine dritte Gruppe war in Lager 2 stationiert und machte den täglichen Pendeldienst nach Lager 3 ( 6675 m ). Am 4. Mai war der Platz dafür in halber Höhe des Oberen Eisfalles bestimmt worden, und nun wurde acht Tage lang dieses Camp so ausgestattet, dass es als Basis für den Vorstoss zur « Grossen Terrasse » dienen konnte. Als es so weit war, zogen Evans und Hardie hinauf. Lager 3 befand sich am Fuss einer grossen stabilen Eiswand auf einer 5 m breiten Plattform. Der Steilhang darunter war mit fixen Seilen und Strickleitern gesichert worden. In der Rückwand der Plattform befand sich der Eingang in eine Eishöhle, die für sechs Mann Platz bot und gelegentlich immer noch vergrössert wurde.

Als Evans und Hardie am 12. Mai von dort aufbrachen, benutzten sie Sauerstoffgeräte, um den Vorstoss in Neuland möglichst ausgiebig zu gestalten. Zusammen mit zwei der stärksten Sherpas gelangten sie bis etwa 7160 m, in gleiche Höhe wie die Grosse Terrasse, aber von ihr noch durch eine Séracs-Zone getrennt, und schlugen hier Lager 4 auf, vorläufig nur ein Zelt mit dem Notwendigsten für zwei Mann. Darum stiegen die Sherpas wieder ab.

Die ganze Nacht über wehte es stark. Obwohl Evans und Hardie auch in der Ruhe etwas Sauerstoff atmeten, fühlten sie sich beim Erwachen nicht sehr wohl. Aber um 9 Uhr entschlossen sie sich doch zu einem Versuch. Sie fanden auch - leichter, als sie erwartet hatten - einen Zugang zur Grossen Terrasse. Nun zogen glatte spaltenlose Schneehänge bis zum Fusse der Steilrampe, rechts von dem markanten « Hufeisen », das man schon von Darjiling aus sehen kann. In knapp drei Stunden waren sie auf einem Absatz bei etwa 7700 m, gerade recht für ein Lager 5. Damit war die Erkundung erfolgreich abgeschlossen. Sie stiegen nun zum Basislager ab, um die endgültigen Pläne festzulegen und die Vorbereitungen für den Schlussangriff zu treffen.

Es begann am 18. Mai, als zehn Sherpas Lager 3 ( 6675 m ) verliessen. Die Sahibs bei diesem grossen Transport waren Jackson und Mackinnon. Dabei gab es einen Zwischenfall: Pemba Dorje, einer der besten jungen Sherpas, brach in eine Gletscherspalte ein, wurde bald wieder herausgezogen, musste aber nach Lager 3 zurückkehren. Nach drei Rasttagen schien er sich gut erholt zu haben, aber plötzlich entdeckte Dr. Clegg bei ihm die Symptome einer Gehirnembolie, an der er trotz aller Pflege starb. In der Nähe von Paches Grab wurde er beigesetzt. In den Stein zu seinen Häupten meisselten seine Kameraden den Namen und den heiligen Spruch « Om Mani Padme Hum ». Ein tapferer Mann mehr, der unter dem Kangchendzönga ruht aber der Angriff ging weiter.

Die Nacht vom 18. zum 19. Mai in Lager 4 ( 7160 m ) war sehr stürmisch, am Morgen hatten die Sherpas keine Lust, ihre Lasten höher hinaufzutragen, und zu allem Unglück war Jackson schneeblind. Um 10.30 Uhr brach aber doch alles auf, Jackson in der Mitte übernahm sogar noch eine Last Sauerstoffflaschen. So erreichten sie die Grosse Terrasse. Es war ein sehr harter, aber für den Endsieg entscheidender Tag. Mit schweren Lasten -zwischen 18 und 22 kg - kam man nur langsam vorwärts. Um 16 Uhr erreichten fünf Sherpas den Platz für Lager 5 ( etwa 7700 m ) und stellten unter Mackinnons Leitung ein Zelt auf. Vier Hochträger waren noch ein Stück weit zurück und schon sehr erschöpft. Sie mussten ihr Zeug im Steilhang ablegen und absteigen, wenn sie nicht in die Nacht geraten sollten.

Ein Sherpa hatte schon am Morgen bei einer ungeschickten Bewegung seine Last in eine Spalte fallen lassen. Er schämte sich sehr und blieb allein zurück, um den Sack zu bergen. Das gelang dem treuen Burschen auch tatsächlich, aber nun war er weit rückwärts und plagte sich ganz allein in der Spur der anderen, bis die zurückkehrenden Träger ihm begegneten und ihn veranlassten, seine Last niederzulegen und mit ihnen abzusteigen.

In Lager 4 ( 7160 m ) war inzwischen die erste Gipfelmannschaft eingetroffen - Band und Brown, mit Evans und Mather als Helfergruppe, dazu vier Sherpas. So wurde es diese Nacht in Lager 4 recht voll, aber man rückte gern eng zusammen. Am nächsten Tage sollten dann die abgekämpften Sahibs und Sherpas, die in Lager 5 gewesen waren, absteigen, die erste Gipfel-Seilschaft hatte nach Camp 5 vorzurücken, und die zweite Gipfel-Mannschaft -Hardie und Streather - sollte bis Camp 4 heraufkommen. So war das sorgfältig ausgearbeitete Programm.

Gerade in dieser Nacht vom 19. zum 20. Mai trat ein bedenklicher Wetterumschlag ein. Der Wind wehte mit 70 bis 90 Stundenkilometern, und zwar nicht mehr, wie sonst, von NW, sondern von SW und entwickelte sich zu einem heftigen Schneesturm, der 60 Stunden anhielt und jede Verschiebung zwischen den Lagern unmöglich machte. Alle mussten warten, wo sie gerade waren. Erst am zweiten Nachmittag liess das Unwetter nach, so dass die Gruppe Mackinnon absteigen konnte. Evans war sehr froh, als das Radio meldete, dass sie glücklich unten angekommen seien. Bei dem tiefen Neuschnee gingen viele kleine Lawinen ab; es war also nicht ungefährlich gewesen.

Am Morgen des 22. Mai war von Darjiling bis zum Everest alles klar. Es wehte immer noch stark, aber der Wind drehte allmählich gegen NW; in Lager 4 machte man sich fertig. Es wurde aber 10 Uhr, bis sie aufbrechen konnten, und sie kamen noch langsamer vorwärts als die Gruppe Mackinnon vor ein paar Tagen. Es war schon fast 16 Uhr, bis die erste Seilschaft die Hänge unter Lager 5 betrat. Evans und Brown hatten zwei Sherpas zwischen sich und lösten sich im Spuren ab. Sie sanken meist bis zu den Knien ein. Plötzlich merkten sie, dass sie die zusammengepressten Schneemassen einer frischen Lawine unter sich hatten, und da... ragte etwas aus dem Schnee, was wie ein Primuskocher aussah. Sie waren viel zu müde, als dass sie sich wirklich klar gemacht hätten, wie knapp sie der Katastrophe entkommen waren. Wenn Lager 5 in den Schneesturmtagen besetzt gewesen wäre, dann... hätte der Kangchendzönga seinen Ruf als einer der gefährlichsten Weltberge wieder einmal schrecklich bewahrheitet.

Auch so war die Lage schlimm genug. Wo das Depot gewesen war, hatte die Lawine alles bis auf das Eis blankgefegt. Aus den Schneebrocken schauten hie und da Sauerstoffflaschen, eine Kiste, ein Zelt heraus. Brown sammelte ein, was nur möglich war, und packte alles zu seiner Last noch hinzu; die andern folgten seinem Beispiel. Was man fand, musste man zum Lagerplatz hinaufschleppen oder... den Berg überhaupt aufgeben! Das war allen klar.

Um 16.15 Uhr erreichten sie den Platz, wo Camp 5 ( 7700 m ) gestanden hatte. Auch hier hatte die Lawine gehaust. Die Sonne war verschwunden, und es war entsetzlich kalt. Also rasch an die Arbeit! Das Graben und Zerren brachte sie völlig ausser Atem. Zwei Stunden suchten sie nach der verschütteten Ausrüstung und schafften die Zelte an einen etwas geschützteren Platz, während der eisige Wind ihnen den Schneestaub in die Augen peitschte. Inzwischen waren Band und Mather angekommen, auch sie tief gebeugt unter der Last des mühsam geborgenen Gutes. Alle sahen aus wie der Tod, grosse Eiszapfen hingen von Brauen und Barten. Mit letzter Kraft stellten sie die Zelte auf und krochen in die gefrorenen Schlafsäcke. Die unverwüstlichen Sherpas brachten sogar noch Tee zustande. Dann drehten sie die Sauerstoffgeräte zum Schlafen an und... schliefen.

Am 23. Mai hatte man eigentlich Lager 6 errichten wollen, aber als Evans am Morgen die Verwüstungen übersah, wurde ihm klar, dass man zuerst einmal hier Ordnung schaffen und den Start um einen Tag verschieben müsse. Es war ein grosses Glück, dass der Nachmittag sonnig und windstill war; das bisher so grimmige Camp 5 wurde ihnen zum ersten Male geradezu sympathisch. Der breite Kabru ( 7338 m ), bereits überhöht, stand wie ein grosser Tisch da; die gedrehte Spitze des Jannu ( 7710 m ) im Westen war ebenso hoch wie Lager 5, und im Hintergrund wogte über der indischen Ebene ein unübersehbares Wolkenmeer, das am Abend anstieg und die Flanken des grossen Berges umflutete.

Am 24. Mai kamen sie bald nach 9 Uhr morgens fort. Das war schon schwer genug, denn in Lager 5 erschien die Sonne erst gegen 10 Uhr. Evans und Mather mit Da Tensing und Ang Norbu in der Mitte bildeten die erste Seilschaft, um die Gipfelmannschaft für morgen zu schonen. Diese, Band und Brown, hatten Tashi und Ang Temba zwischen sich. Alle brauchten Sauerstoff, einige Sherpas zum ersten Male; nur Tashi drehte seinen Höhenatmer nicht auf, ohne zu merken, dass er kein Gas bekam.

Langsam und voller Spannung spurten sie zum Fuss der Rampe, die schon so viele Bergsteiger von Darjiling aus sehnsüchtig mit dem Fernrohr betrachtet haben. Sie zieht steil zum « Westsattel » ( zwischen West- und Hauptgipfel ) hinauf und ist ausserdem schräg, indem sie ein Quergefälle gegen das berühmte « Hufeisen » hin aufweist. Aber der Schnee war tadellos, drei Pickelschläge für jede Stufe, und sie kamen gleichmässig vorwärts. Als Evans langsamer wurde, bat Da Tensing, ihn im Vortritt ablösen zu dürfen, und trotz seiner Last steigerte sich das Tempo.

Um 13.30 Uhr waren sie bei etwa 8000 m, wo die Rampe sich verengt und zu einer ausgeprägten Rinne wird. Einer nach dem andern verbrauchte hier seinen letzten Sauerstoff, das oberste Lager sollte so hoch wie nur irgendmöglich angelegt werden. Um 14 Uhr gelangten sie im Couloir zu schiefrigen Felsen und begannen, im Hartschnee daneben eine Plattform für das eine Zelt auszuhacken. Die Sherpas konnten dabei nicht mehr viel helfen. Da rettete Band die Situation, denn er entdeckte plötzlich, dass Tashi seinen Sauerstoff nicht verbraucht hatte. Band übernahm nun das Gerät, drehte das Ventil auf und setzte alle andern, die wie Fische auf dem Trocknen nach Luft schnappten, durch seinen plötzlichen Energieausbruch in Erstaunen. Um 16 Uhr stand das Zelt von Lager 6 ( ca. 8200 m ). Evans und Mather verabschiedeten sich eilig, aber mit den allerherzlichsten Wünschen von der Gipfelmannschaft und kehrten mit den vier Sherpas nach Lager 5 zurück.

Der 25. Mai: Das Wetter war gut. Um 8.15 Uhr brachen Band und Brown auf und stiegen durch das Couloir gerade empor. Nach einiger Zeit versuchten sie, ostwärts auszubrechen, aber es war dafür noch zu früh, sie mussten in die Rinne zurückkehren und verloren bei diesem Manöver wertvolle Zeit. Etwa 90 m unter dem Westsattel verliessen sie das Couloir endgültig, und zwar bei einem charakteristischen Schneefeld, das gegen den Hauptgipfel hinzieht. Nun gingen sie schräg aufwärts durch die Südflanke. Östlich eines markanten Felszackens, etwa halbwegs zwischen Westsattel und Hauptgipfel, gelangten sie auf die Höhe des Westgrates und konnten auf den Ostsporn hinabschauen, wo die bayerischen Expeditionen 1929 und 1931 so hart gekämpft hatten.

Es gab etwas Stufenarbeit, und wiederholt mussten Felsnasen erklettert werden, doch war das Gestein gut gebankt. Nicht die technische Schwierigkeit war hier der Hauptgegner, sondern die grosse Höhe. Dem Hauptgrat ostwärts folgend hielten sie sich meist auf der Südseite, bis eine auffällige Wandstufe den Weg zu sperren schien; doch zur Rechten wies der Fels mehrere etwa 6 m hohe Risse auf. Einen von diesen erkletterten sie - das schwerste Stück der Route, aber nur kurz. Gleich darauf waren sie so weit, wie sie gehen durften:

Vor ihnen, nur noch wenige Schritte entfernt und eineinhalb Meter höher als ihr Standpunkt, eine sanfte Schneekuppe, der höchste Punkt des ganzen ungeheuren Massivs, der Hauptgipfel des Kangchendzönga ( 8585 m ), der Traum so vieler Bergsteiger seit hundert Jahren! Eine grosse Aufgabe ist erfüllt, nicht kleiner als einst Nord- oder Südpol und dann der Mount Everest. Ein Menschheitsziel ist erreicht.

Wirklich erreicht? Gemäss dem in Gangtok abgegebenen Versprechen haben die Briten ja darauf verzichtet, den höchsten Punkt des heiligen Berges zu betreten, um die religiösen Gefühle der Lamaisten nicht zu verletzen. Diese « fünf Fuss-Vertikal » oder eineinhalb Höhenmeter sind für uns « westliche Menschen » belanglos... oder sie sollten es wenigstens sein. Aber in den letzten Jahren ist es Mode geworden, die Erstbesteigung von Weltbergen anzuzweifeln. Wir haben das 1950 bei der Annapurna erlebt, dann 1953 für Everest und Nanga Parbat, 1954 für den K 2 - auch wenn die photographischen Dokumente noch so eindeutig sind. Dieses krankhafte Misstrauen gegenüber jeder grossen Leistung möchte am liebsten fordern, dass auf jedem Achttausender eine photogrammetrische Vermessungsstation errichtet werde, mit obligatorischer Panorama-Aufnahme rundherum. So werden jetzt einige Neunmalkluge vielleicht behaupten, der Kangchendzönga sei nicht bestiegen, da ja der höchste Punkt nicht betreten wurde. Lassen wir derartigen Querulanten ihr Vergnügen! Die wohlgelungenen Gipfelaufnahmen - gegen den mächtigen, bereits stark überhöhten Südgipfel ( 8476 m ) und über den Westgipfel ( ca. 8480 m ) hinweg gegen Makalu-Lhotse-Everest in der Ferne - beweisen eindeutig, dass die Briten unmittelbar neben dem höchsten Punkt des Hauptgipfels gestanden und photographiert haben.

Damit gaben sie sich noch nicht zufrieden. Mit einem Tag Abstand rückte ja das Paar Hardie-Streather nach. Warum sollte diese starke Mannschaft nach dem Erfolg der ersten Gruppe die Besteigung nicht wiederholen? Tatsächlich hatte man schon von Anfang an damit geliebäugelt, mehr als eine Seilschaft zum Gipfel zu schicken.

In der Nacht vom 25. zum 26. Mai teilten sie das kleine Zelt in Lager 6 mit Band und Brown, die zu müde waren und auch zu spät kamen, um noch nach Camp 5 abzusteigen. Eine Nacht in derartiger Enge ist keine richtige Erholung. Überdies hatte Hardie beim Aufstieg das Pech, dass sein grosser gelber SauerstoffzyUnder mit 1600 Litern Inhalt aus den Gurten des Traggestells glitt und mit aufgeschlagenem Ventil zischend in der Tiefe verschwand. Als Erster am Seil übernahm Hardie nun den gelben Zylinder von Streather; dieser musste mit zwei kleinen Sauerstoffflaschen auskommen, die nur einen Liter Gas pro Minute lieferten. Trotzdem wiederholten sie die Besteigung. Die letzte Wandstufe rechts umgehend gelangten sie auf einer leichteren Variante bereits um 12.15 Uhr auf die Gipfelkuppe, wo sie eine Stunde verbrachten! Beim Abstieg musste Streather ohne Sauerstoff gehen. Darum blieben auch sie die Nacht nach der Besteigung in Lager 6.

Am 27. Mai morgens wartete Evans in Lager 5 sehnsüchtig auf sie. Als sie endlich er- schienen, schrie er ihnen entgegen: « Seid Ihr oben gewesen? » Dumme Frage! Wo sollten sie denn sonst so lange gewesen sein? Statt einer Antwort rief Hardie also zurück: « Wer hat bei der Wahl gesiegt? » ( Gerade in diesen Tagen hatten ja die Parlamentswahlen in England stattgefunden. ) Das schien im Augenblick dem Expeditionsleiter nicht so wichtig.

Ein paar Tage später lagerte die ganze Expedition - abgekämpft, aber glücklich und zufrieden - in der grünen Talmulde oberhalb Tseram und schaute noch einmal rückwärts auf die ungeheure Yalungfront des Kangchendzönga, dem sie einen sechswöchigen grossartigen Kampf geliefert hatte. Beim Anmarsch hatte man dreihundert Kulis gebraucht, für den Abtransport genügten sechzig Khunza-Leute. Mather machte eine kleine Privatexkursion nach Kangbachen, um noch etwas mehr von Land und Leuten zu sehen, und auch Hardie trennte sich vom Gros und wanderte westwärts nach Solo Khumbu, wo er die Internationale Himalaya-Expedition besuchte. Die Hauptgruppe kehrte bei strömendem Monsunregen über den Singalila-Kamm nach Darjiling zurück.

Wie Dr. Charles Evans in seinem Rückblick feststellt, hat der Sauerstoff sehr wesentlich dazu beigetragen, dass die Bergsteiger in den allergrössten Höhen heute mehr Erfolg haben als früher. Die englischen und auch die französischen Geräte sind in den letzten Jahren sehr verbessert worden: sie sind jetzt leistungsfähiger und dabei etwas leichter als früher. Trotzdem stellt ihr Gewicht noch immer ein Problem dar; etwa drei Fünftel der Lasten zu den Hochlagern bestanden aus den Sauerstoffapparaten und -flaschen, aber - es zahlte sich aus. Oberhalb 6700 m wurden nicht nur beim Steigen offene Geräte verwendet, sondern auch in der Nacht atmete man Sauerstoff - einen auf schwach eingestellten Gasstrom - aus einfachen leichten Masken. Infolgedessen schlief man gut, war am Morgen frisch und konnte stattliche Tagesetappen erzielen, 500 bis 550 Höhenmeter von einem Lager zum andern. Insgesamt haben zwölf Mann die Höhe von Lager 6 ( 8200 m ) erreicht.

Nachdem die richtige Route einmal gefunden war, erwies sie sich als relativ leicht, jedenfalls bei weitem nicht so schwer, wie man erwartet hatte. Die grösste Überraschung aber war, dass es bei günstigen Schneeverhältnissen nur zwei Stellen gibt, wo eine gewisse objektive Gefahr nicht zu vermeiden ist: erstens unter der Eiswand auf dem Wege zum Lager 1, zweitens unter Lager 2, also im allerobersten Stück des Unteren Eisfalles.

Diese Route auf den bisher so gefürchteten Kangchendzönga ist « das Ei des Kolumbus »: von Darjiling in kurzem Anmarsch zu erreichen, ganz direkt zum Hauptgipfel führend... ein klassischer Weg auf einen der stolzesten Weltberge!

Literatur Charles Evans: Die Originalberichte in « The Times », London, und « Neue Zürcher Zeitung » von März bis August 1955.

George C. Band: Kangchenjunga Climbed. Alpine Journal, No. 291 ( November 1955 ), p. 207-226.

O. Dyhrenfurth: Das Buch vom Kantsch. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1955. 190 S., 18 Abb., 2 Kartenskizzen, Bibliographie.

2. Am Makalu ( 8470 m ) hatte eine sehr kampfkräftige französische Expedition unter Leitung von Jean Franco im Herbst 1954 wichtige Erfolge erzielt. Zur Erkundung und Akklimatisation waren neun z.T. grosse Sechstausender in der Umrahmung des Barun-Tales bestiegen worden; dann begann man die Hochlager vorzuschieben, Lager 5 ( 7410 m ) in den zum ersten Male erreichten Makalu-Sattel zwischen Makalu II ( 7656 m ) und Makalu I. Es wurden sogar bereits zwei grosse Siebentausender erobert, Makalu II, der nordwestliche Vorgipfel, und Chomo Lönzo ( 7815 m ), dessen Besteigung erst im Sommer 1955 -ohne nähere Einzelheiten - bekannt geworden ist. Am Makalu I gelangten Terray und Couzy am 30. Oktober 1954 bis etwa 7800 m, aber gewaltige Herbststürme verhinderten die Errichtung eines Lagers 6. Sonst hätte möglicherweise schon diese - von Anfang an nur als Kundfahrt gedachte - Expedition in raschem Zugriff den fünfthöchsten Gipfel der Erde bezwungen. Der Hauptangriff wurde nunmehr auf Frühjahr 1955 verschoben, und da ging auch alles tatsächlich ganz programmgemäss:

Der Aufstieg aus dem Barun-Tal zum Makalu-Sattel ( 7410 m ) war diesmal allerdings infolge starker Ausaperung etwas schwieriger und musste durch zahlreiche fixe Seile gesichert werden, aber am 9. Mai 1955 konnte dort wieder Lager 5 errichtet werden. Dann folgte eine längere, fast horizontale Querung in der Nordflanke, leicht, aber streckenweise dem Eisschlag ausgesetzt. Bei etwa 7650 m fand sich ein bequemer Durchstieg durch die Sérac-Zone zur oberen Gletscherterrasse, wo Lager 6 ( 7800 m ) erstellt wurde, an einem geradezu idealen Platz - geschützt, auf einer ebenen Plattform, mit prachtvollem Ausblick. Bei etwa 8000 m wendet sich die Route nach links und erreicht durch ein breites, 45 bis 50° steiles Couloir den Grat, der anfangs leicht, zuletzt scharf und verwächtet zur luftigen Spitze führt.

Zum ersten Male in der Geschichte der Himalaya-Erschliessung erreichte die gesamte Bergsteigergruppe den Gipfel: am 15. Mai 1955 Lionel Terray und Jean Couzy, am 16. Mai Jean Franco, der Expeditionsleiter, Guido Mognone und der Sirdar Gyalgen Norbu, am 17. Mai Jean Bouvier, Serge Coupé, Pierre Leroux und André Vialatte. Wetter und Schneeverhältnisse konnten gar nicht besser sein, alle Seilschaften waren gegen Mittag oben, es war so warm und windstill, dass man stundenlang Gipfelrast halten und am Nachmittag bis Lager 3 ( 6400 m ) absteigen konnte. Es war fast ein wenig enttäuschend, dass der gewaltige Makalu, den man für einen der schlimmsten Achttausender gehalten hatte, so gnädig gewesen war. Man mag die Organisation und Leitung des ganzen Unternehmens, die Kampf-kraft der französischen Spitzenklasse und die Güte ihrer Ausrüstung noch so hoch bewerten - entscheidend waren zwei Faktoren: die ausgezeichneten französischen Sauerstoffgeräte, die anscheinend noch besser sind als die englischen von den unzulänglichen deutschen Dräger-Geräten gar nicht zu reden! Ausserdem ein Glück, wie es noch keine Himalaya-Expedition je gehabt hat. Im Herbst 1954 hatten die gleichen Männer, nach härtestem Ringen, verzichten müssen, die im Mai 1955, ohne sich auszugeben, einen vollständigen Sieg errangen. Für Achttausender ist eben doch die Vormonsunzeit die beste Jahreszeit. Cho Oyu ist die eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt, und auch da sei an die Sturmkatastrophe vom 6. Oktober 1954 erinnert, bei der Herbert Tichy sich die Hände erfror. Überdies ist der Cho Oyu, ohne das Verdienst der tapferen kleinen Tichy-Expedition irgendwie schmälern zu wollen, einer der neun « kleinen » Achttausender, während der Makalu zu den fünf grossen Achttausendern gehört. Guido Magnone hat beim Besuch der I.H.E. 1955 in Solo Khumbu selbst geäussert, es hätte ihnen fast leid getan, dass der Makalu nicht noch ein paar hundert Meter höher sei. Mit diesen guten Sauerstoffgeräten und bei Prachtwetter sei die Anstrengung kaum grösser gewesen als eine normale Mont-Blanc-Besteigung! Makalu war wirklich für die Franzosen « montagne heureuse », ein starker Gegensatz zu dem tragischen Ringen um Annapurna 1950.

Auch wissenschaftlich wurde gute Arbeit geleistet, vor allem durch die beiden Geologen Pierre Bordet und Michel Latreille und auch durch die Expeditionsärzte André Lapras und Jean Rivolier.

Literatur:

La montagne et aipinisme 1955: février p. 4-19, avril p. 64/65, juin p. 72/73, octobre p. 102-125. Jean Franco: Makalu. Paris et Grenoble. Arthaud 1955.

Lamas von Thangboché gegen Kangtega / Lamas de Thangboché; vue sur le Kangtega 3. Über die « I.H.E. » unter der Leitung von Norman G. Dyhrenfurth, die von April bis November 1955 in Solo Khumbu und Mahalangur Himal arbeitete, wird auf S. 86 berichtet.

4. Nach Westen schliesst sich der Rolwaling Himal an, bekannter unter dem Namen seiner beiden Hauptberge, Gaurisankar ( 7145 m ) und Menlungtse ( 7181 m ). In dieser Region war eine britische Gruppe tätig, die « Merseyside Himalayan Expedition » unter Leitung von Alfred Gregory. Sie bestiegen insgesamt 19 Gipfel zwischen 5000 und 6400 m, entdeckten mehrere neue Übergänge und kartierten den Tolam Bau-Gletscher und das Menlung-Tal. Eine sehr verdienstliche Arbeit, denn obwohl seit 1951 schon mehrere Expeditionen in diesem Gebiet gewesen sind, wissen wir von der Topographie noch herzlich wenig. Die Besteigungsmöglichkeiten von Menlungtse und Gaurisankar beurteilt Gregory ebenso ungünstig wie Lambert.

5. Eine kleine Sensation für Tagespresse und Rundfunk war die schottische Frauen-Expedition, die sich im Frühjahr 1955 dem Jugal Himal nordöstlich von Kathmandu zuwandte. Mrs. Monica Jackson, der unternehmungslustigen Leiterin, und Mrs. Betty Clarck gelang die Erstbesteigung eines namenlosen Gipfels von etwa 22 000 ft6700 m ). Manche Zeitungen schrieben sogar von der Eroberung eines Siebentausenders ( 7260 m ), doch scheint es sich da bloss um eine falsche Umrechnung von Fuss in Meter zu handeln. Auch aus den Spuren eines « Schneemenschen-Kindes»war publizistisch nicht viel zu machen. Es wurcis bald wieder still davon.

6. An den Jugal Himal schliesst sich gegen Nordwesten der ebenfalls an der tibetischen Grenze gelegene Langtang Himal an. Eine Kleinexpedition, die aus dem Genfer Raymond Lambert, dem Domherrn Jules Detry ( vom Grossen St. Bernhard ) und mehreren Sherpas bestand, war dort in der Vormonsunzeit 1955 tätig. Der höchste Gipfel dieser Berggruppe, der Lining ( 7245 m ), ist von der nepalischen Seite aus nicht zugänglich. Man begnügte sich deshalb mit einem hübschen Sechstausender, dem « Weissen Dom » ( ca. 6700 m ), dessen Besteigung trotz ernsthafter Lawinengefahr gelang. Ausserdem wird von ethnologischen Studien im Langtang-Tal berichtet.

7. Ein Vierteljahr später war der unermüdliche Lambert schon wieder in Nepal, diesmal als Leiter einer französisch-schweizerischen Expedition in den Ganesh Himal. Dieses Massiv liegt ebenfalls an der tibetischen Grenze, im NNW von Kathmandu, nur etwa 80 km von der Hauptstadt entfernt, ist also ziemlich schnell erreichbar. Der höchste Gipfel misst 24 299 Fuss = 7406 Meter, nicht « etwa 8000 m », wie immer wieder behauptet wurde. Diese « grosszügige » Umrechnung ist eine weit verbreitete Nachlässigkeit. Wieder einmal sei gesagt: 1 Fuss = 0,304797 Meter; 1 Meter = 3,28087 Fuss. Um die Meterzahl zu erhalten, muss man also bei der Umrechnung die Fusszahl mit 0,3048 ( oder, wenn man es sehr eilig hat und sich mit einem Annäherungswert begnügt, mit 0,3 ) multiplizieren. Wer die Fusszahl statt dessen durch 3 dividiert, wie es meistens gemacht wird, bekommt eine ganz falsche und viel zu grosse Meterzahl.

Wetter- und Schneeverhältnisse waren im Herbst 1955 ganz ungewöhnlich schlecht. Pierre Vittoz, Missionar in Leh, dieser zähe, erprobte Himalaya-Mann, erkrankte an einem schweren Paratyphus. Da kein Arzt bei der Expedition war, musste er sich schweren Herzens von seinen Kameraden, dem Franzosen Robert Guinod und dem Schweizer Claude Mörel, ins Spital von Kathmandu bringen lassen, wo er sich glücklicherweise bald erholte. An der Front waren also nur noch vier Bergsteiger: Lambert und Eric Gauchat ( Schweiz ), Mme Claude Kogan und Paul Gendre ( Frankreich ).

Drei Hochlager genügten, bei 5000 m, 5700 m und 6300 m. Gendre, der an Halsentzündung litt, musste in Camp 3 zurückbleiben, als die anderen drei am 24. Oktober um 5.20 Uhr aufbrachen und um 12.30 Uhr den Gipfel ( 7406 m ) erreichten. Diese Erstbesteigung des. Kulminationspunktes der Ganesh-Gruppe ist ein sehr beachtenswerter Erfolg, der aber leider durch ein schweres Unglück beim Abstieg überschattet wurde: Man näherte sich bereits dem Lager 3 und war nicht mehr angeseilt, Gauchat eilte voraus; es war neblig und stürmisch, der Schnee war hart, der Hang 35-40° steil. Wieso Gauchat ausglitt und die Fahrt in die Tiefe nicht mehr aufzuhalten vermochte, konnten Lambert und Mme Kogan nicht sehen. Die Leiche wurde erst am nächsten Morgen entdeckt und am 28. Oktober beim Basislager beigesetzt.

Eric Gauchat ist nur 22 Jahre alt geworden. Er galt als einer der besten Genfer Kletterer.

8. Westlich des Ganesh Himal, auf der anderen Seite des grossen Quertales, das der Buri Gandaki-Fluss eingeschnitten hat, liegt die mächtige Manaslu-Gruppe, deren Südpfeiler der stolze Himal Chuli ( 7864 m ) ist. Ihn zu erkunden, hatte sich die « Kenya-Expedi-tion » unter Leitung von /. W. Howard zur Aufgabe gemacht. In der Nähe des Basislagers tat A.H. Firmin, der als bester Bergsteiger, Lichtbildner und Filmmann von Ostafrika galt, auf Blockgeröll einen Fehltritt und brach sich den linken Oberschenkel. Nach einem langen und schwierigen Transport auf der SW-Seite des Himal Chuli starb er an Herzschwäche, nur noch einen Tagesmarsch von Pokhara und dem dortigen Missions-Spital entfernt.

9. Während sich am Manaslu ( 8125 m ), dem japanischen « Hausberg », 1955 nichts abspielte, arbeitete eine kleine deutsche Gruppe sehr erfolgreich im Gebiet des oberen Mar-syandi-Tales. Die « Deutsche Nepal-Expedition 1955 », die im wesentlichen von der « Deutschen Himalaya-Stiftung », mit Unterstützung des Deutschen Alpen Vereins, finanziert worden war, bestand aus: Heinz Steinmetz, dem Expeditionsleiter, Jürgen Wellenkamp, Fritz Lobbichler und Harald Biller. Ihr schönster Sieg war Annapurna /F(7524 m ), um die schon eine britische Expedition 1950 ( Leitung W. Tilman ) und eine japanische Expedition 1952 ( Leitung K. Imanishi ) vergeblich gerungen hatten. Wieder, wie bei den früheren Versuchen, war Manangbot der Ausgangspunkt; in Hochlager 2 musste Lobbichler krankheitshalber zurückbleiben, während seine drei Kameraden am 30. Mai zum Gipfel vorstiessen. Es war ein sechzehntägiger harter Kampf, anscheinend schwerer, als man erwartet hatte.

Dann ging es nach Naurgaon, und trotz Monsun bezwangen sie in einem Blitzangriff den Kang Guru ( 7009 m ), an dem ebenfalls die Tilman-Expedition 1950 hatte aufgeben müssen. Diesmal war Biller unpässlich und musste verzichten; Lobbichler, jetzt wieder in Form, war überglücklich, doch noch zu einem Siebentausender zu kommen. Nach der Umwanderung der ganzen Annapurna-Gruppe gelang der Expedition zuletzt im Lamjung Himal ( nordöstlich von Pokhara ) noch die Ersteigung der Westlichen Lamjung-Spitze unter schwierigen Verhältnissen. Insgesamt weist ihr Gipfelverzeichnis 2 Siebentausender, 5 Sechstausender und 4 Fünftausender auf. Die Bereicherung des topographischen Bildes ist sehr zu begrüssen, die photographische Ausbeute ist offenbar recht gut. Da die vier jungen Deutschen bis in den Herbst im Lande blieben und erst im Dezember heimwärts reisten, fand sich auch zu volkskundlichen und zoologischen Beobachtungen und Sammlungen genügend Zeit.

10. Der Dhaulagiri ( 8167 m ) ist 1953, wie bekannt, von einer Expedition des AACZ angegriffen worden, wobei Ruedi Schatz und Peter Braun bis etwa 7700 m kamen. Die argentinische Expedition 1954 gelangte mit zwei Seilschaften ( G. Watzl-Pasang Dawa Lama und A. C. Magnani-Ang Nyima II ) auf dem Hauptgrat bis etwa 7950 m und wurde nur durch Wetterumschlag und Schneesturm um den Gipfelsieg gebracht. 1955 folgte die von Martin Meier ( München ) geleitete, aus sechs Deutschen und vier Schweizern ( Werner Christen, Davos; Werner Stäuble, Zürich; Fritz Villiger, Rickenbach/Schwyz; Hansjörg Wyss, Zürich ) bestehende « Vegetarische Himalaya-Expedition », die neben alpinistischen und kartographischen Zielen ernährungswissenschaftliche Forschungen auf dem Programm hatte: die Leistungsfähigkeit des Menschen sollte in grossen Höhen bei vegetarischer Ernährung gemäss den modernen Reformernährungslehren erprobt werden.

Nach anfangs grosser Publizität wurde es um dieses Unternehmen ziemlich still. Obwohl der berühmte Pasang Dawa Lama, einer der allerbesten Sherpas und genauer Kenner des Dhaulagiri, als Bergsteiger und Sirdar mitmachte, kam die Spitzengruppe Ende Mai/An-fang Juni nur bis etwa 7600 oder höchstens 7700 m und wurde durch schwere Schneestürme zum Rückzug gezwungen. Es müssen ganz lokale atmosphärische Störungen gewesen sein, denn im Kangchendzönga-, Makalu- und Everest-Gebiet herrschten ja in der Vormonsunzeit 1955 ausgezeichnete Wetter- und Schneeverhältnisse. Zum Schluss soll der Expeditionsleitung das Geld ausgegangen sein, was die deutschen Behörden und den Deutschen Alpenverein in eine unangenehme Zwangslage brachte.Vor allzu optimistischen Voranschlägen und ungenügend fundierten Expeditionen kann nicht eindringlich genug gewarnt werden.

Für 1956 ist eine neue argentinische'Dhaulagiri-Expedition unter der Leitung von E. Huerta angemeldet. Die Vorhut ist bereits im Herbst 1955 nach Indien gereist. Allerdings ist inzwischen das Regime des Protektors Perón gestürzt!

11. An den Dhaulagiri selbst ( auch Dhaulagiri I genannt ) schliesst sich westwärts der Dhaulagiri Himal an, noch vor kurzem eine wenig bekannte Gruppe, obwohl in diesem mächtigen Kamm sechs kotierte Siebentausender stehen, von Ost nach West: Dhaulagiri H ( 25 429 ft = 7751 m ), III ( 25 271 ft = 7702 m ), IV ( 25 064 ft = 7640 m ), V ( 24 885 ft = 7584 m ), VI oder Churen Himal ( 24 158 ft - 7363 m ), VII oder Putha Hiunchuli ( 23 750 ft = 7239 m )... von den Sechstausendern gar nicht zu reden! Der erste, der an der Nordseite dieser Riesenmauer entlang zog, war Dr. Herbert Tichy mit Pasang Dawa Lama im Herbst 1953. Dann arbeitete der Schweizer Geologe Dr. Toni Hagen, der schon 1952 Flugaufnahmen der ganzen Kette von Süden gemacht hatte, von März bis Juli 1954 auf der Nordseite des Dhaulagiri Himal, eine wissenschaftliche Kleinexpedition, die sehr wichtige Ergebnisse lieferte, obwohl das Versagen des Nachschubdienstes, schwere Krankheit und katastrophaler Monsun eine zeitweise fast verzweifelte Situation schufen. Der Rückzug durch die Schluchten der Kali Gandaki nach Pokhara gelang dem einsamen Forscher und seiner kleinen Trägerschar nur mit letztem Willenseinsatz.

Im Herbst 1954 machten M. Roberts und G. Lorimer eine sehr interessante Kundfahrt, über die erst im November 1955 ( Alpine Journal No. 291, p. 248-256 ) berichtet wurde. Darum sei dieser kleine Nachtrag aus 1954 hier in die Chronik 1955 eingefügt. Von Lehra in Indien bis Butwal in Nepal wurde alles in zwei kleinen Lastautos befördert. Dann machten sie den Anmarsch über den Jangla Bhanjyang ( 4730 m ), westlich des Dhaulagiri Himal, nach der Barbung Khola, dem grossen Längstal am Nordfuss dieser Kette. Insgesamt brauchten sie 28 Tage bis Mukut, das sie zu ihrer Basis wählten. Sie erstiegen von dort aus zwei kleine Sechstausender, rekognoszierten das Neuland und wandten sich dann einer grösseren Aufgabe zu, dem Putha Hiunchuli ( 7239 m ), dem westlichen Eckpfeiler des Dhaulagiri Himal. Von einem Hochlager 3 ( ca. 6480 m ) gelang Roberts mit Ang Nyima die technisch unschwierige, aber schöne Erstersteigung. Bei der Rückreise gingen sie von Mukut mit Yaks nach Tukucha hinüber, was eine Woche erforderte, und dann auf dem bekannten Handelsweg nach Pokhara. Bei dem schönen Novemberwetter war das eine harmlose Wanderung. Das herrlich gelegene Pokhara hat bekanntlich schon seit einigen Jahren einen Flugplatz.

Für 1955 hatte die « Vegetarische Expedition » die Absicht gehabt, nach dem Dhaulagiri selbst wenn möglich noch den Dhaulagiri Himal II in Angriff zu nehmen. Nach dem Fehlschlag des Hauptunternehmens kam es dazu natürlich nicht mehr.

12. In der Nordwestecke von Nepal liegen die Massive des Saipal ( 7034 m ), den eine österreichische Expedition - unter Verlust eines Teilnehmers - erkundete, und der Api ( 7132 m ), die durch den unglücklichen Verlauf einer italienischen Expedition - drei Tote -zu trauriger Berühmtheit gelangte. Im Herbst 1955 ging eine sechsköpfige britische Expedition in diese Region, und wieder kam unerfreuliche Kunde: Zwei Engländer, S. Wignell und J. Harrop, und der nepalische Verbindungs-Offizier wurden von chinesischen Soldaten verhaftet. Ob sie versehentlich die tibetische Grenze überschritten haben oder ob die Rotchinesen auf nepalischen Boden vorgestossen sind, ist in diesem kaum kartierten und wenig bekannten Niemandsland schwer festzustellen. Nach sieben Wochen im Gefängnis bekamen sie je 30 Pfund Mehl und 10 Pfund Zucker, wurden auf freien Fuss gesetzt und durften nach Indien zurückwandern. Sie sind also noch glimpflich davongekommen. Immerhin ist der « Eiserne Vorhang » auch im Himalaya wohl zu beachten.

13. Aus diesem Grunde sind auch grosse Teile von Garhwal für « westliche Menschen » gesperrt. Peter Aufschnaiter und George Hampson begnügten sich mit einer Exkursion in die Ronti-Gruppe südlich der Rishi Ganga-Schlucht.

14. Major D. Jayal, Direktor des « Himalayan Mountaineering Institute » in Darjiling, leitete eine grosse und sehr erfolgreiche Expedition in das Kamet-Gebiet. Am 6. Juli 1955 erreichte Jayal selbst mit vier Sherpa-Instruktoren die Spitze des Kämet ( 7756 m ), was seit 1931 wiederholt vergeblich versucht worden war. Der Kämet ist seinerzeit von der Expedition Smythe erobert worden. Die erste Seilschaft ( am 21. 6. 1931 ) bestand aus S. Smythe, L. Holdsworth, E. Shipton und Sirdar Lewa, die zweite Seilschaft ( am 23.6.1931 ) aus J. Birnie, R. Greene und Kesar Singh. Nach 24 Jahren ist nun einer indisch-nepalischen Mannschaft die dritte Ersteigung gelungen. Es war ein Doppelsieg, denn am gleichen Tage, dem 6. Juli 1955, wiederholten fünf andere Teilnehmer der Jayal-Expedition die Besteigung der Abi Gamin ( 7355 m ), deren Erstersteigung R. Dittert, G. Chevalley und A. Tissières am 22. August 1950 gemacht hatten.

15. Der Bandar Punch ( « Affenschwanz » ) im westlichen Teil von Tehri Garhwal hat zwei Gipfel. Der niedrigere White Peak ( 6316 m ) wurde 1950 unter Führung des berühmten Tensing erstiegen, der höhere Black Peak ( 6388 m ) aber trotzte mehreren Angriffen. 1955 M. Gibson, Lehrer der « Doon School » in Dehra Dun, eine Schüler-Exkursion in sein altes Lieblingsgebiet, und nun wurde auch der Hauptgipfel des Bandar Punch betreten.

16. Einer der bekanntesten Berge im Panjab-Himalaya ist die Deo Tibba ( 6001 m ), auf der Grenze zwischen den Provinzen Kulu und Lahul. Die Erstersteigung gelang 1952 der Expedition Jan de V. Graaf, unter Führung von Pasang Dawa Lama. Anfang Juni 1955 machte Rudi Rott aus Augsburg die zweite Ersteigung dieses nicht schwierigen, aber hübschen Gipfels, als einziger Sahib, nur von zwei Trägern begleitet. Laut brieflicher Mitteilung führte seine Route aus dem Malana-Tal über den Deo Tibba-Gletscher, wobei drei Lager erstellt werden mussten. Ausserdem bestieg er noch einen Fünftausender, den Malana Peak.

17. Eine Expedition der Royal Air Force Mountaineering Association unter Leitung von M. Smyth wollte das Gletschersystem der Kulu-Lahul-Wasserscheide genauer erforschen, musste sich aber wegen starker Schneefälle auf das wenig bekannte Kulti-Gletscher-becken beschränken, in dessen Umrahmung acht kleinere Gipfel bestiegen wurden.

18. Eine amerikanische Karakorum-Expedition der Harvard-Universität unter Leitung von S. Francis ging von Skardu durch das Shayok- und Hushe-Tal in die wenig bekannte Gletscher-Region auf der Südwestseite der Chogolisa-Gruppe ( 7654 m, früher Bride Peak genannt ). Von grösseren bergsteigerischen Erfolgen ist nichts bekannt geworden, doch kann man auf interessante topographische und botanische Ergebnisse hoffen.

19. Die « Neuseeländische Masherbrum-Expedition » unter Leitung von Stanley Conway ging ebenfalls vom Hushe-Tal aus und benützte offenbar die Route, auf der eine britische Expedition 1938 einen entschlossenen Angriff ausgeführt hatte. Leider waren Wetter- und Schneeverhältnisse sehr schlecht, mehrere Hochträger wurden krank, einer starb trotz ärztlicher Betreuung an Lungenentzündung, die ja in grosser Höhe - trotz Penicillin - äusserst gefährlich ist. Wie viele tapfere Himalaya-Kämpfer sind schon einer Lungenentzündung erlegen! Während die Spitzengruppe 1938 bis etwa 7600 m vorgedrungen war, musste man diesmal bei etwa 7000 m aufgeben. Trotzdem! Der Masherbrum ( 7821 m ) ist ein prachtvoller Berg, und man weiss, wo ihm beizukommen ist. Neue Angriffe werden folgen.

20. Der 43,5 km lange Chogo Lungma-Gletscher zwischen Arandu und dem Hunzaland war das Feld der ( von G. O. Dyhrenfurth beratenen ) « Frankfurter Himalaya-Expedition ». Organisation und Gesamtleitung lagen in den Händen von Reinhard Sander, die bergsteigerische Leitung hatte Karl Krämer. Die anderen Teilnehmer waren: Reiner Diepen, Eduard Reinhardt und Joachim Tietze. Die Wissenschaftler waren der Physiologe Dr. Walter Brendel, zugleich Expeditionsarzt, und der Wiener Glaziologe Dr. Norbert Untersteiner.

Das ungewöhnlich schlechte Wetter im Sommer 1955 machte auch dieser Expedition schwer zu schaffen, aber die Deutschen hielten durch und erreichten ihr bergsteigerisches Hauptziel, die Erstersteigung des « Pyramid Peak », durch die Seilschaft Tietze-Reinhardt-Diepen am 5. Juli 1955. Allerdings stellte sich heraus, dass dieser Gipfel, den das Ehepaar Workman 1903 so benannt und mit mindestens 24 500 ft7467 m ) angegeben hatte, in Wirklichkeit nur 7027 m hoch ist. Dipl.Ing. Wilhelm Kick, der 1954 im Chogo Lungma-Gebiet kartierte, hat sich sehr bemüht, das Durcheinander aufzuklären: Ein und derselbe Berg wurde 1892 von W.M. Conway Golden Parri or Ghenish Chish genannt, 1903 von den Workmans Pyramid Peak, 1939 von E. Shipton und P. Mott Yengutz Har. Gelegentlich wurde er auch mit dem Malubiting ( 7459 m ) verwechselt, und bei den Bewohnern des Dorfes Arandu heisst er Spantik. Als Höhenzahl ist offenbar 7027 m einzusetzen.

In 6000 m Höhe erkrankte Dr. Brendel, der Arzt, selbst an einer Lungenentzündung, die er jedoch ohne Schaden überstand. Schlimmer war ein Unfall des Expeditionsleiters Sander: seine Knieverletzung war so schwer, dass er nach Skardu gebracht werden musste und auf dem Luftwege nach Frankfurt zurückkehrte. Trotz alledem wurde auch das wissenschaftliche Programm sorgfältig durchgeführt, so vor allem neue höhenphysiologische Untersuchungen, Studien über den grossen Feind des Himalaya-Bergsteigers, die Höhen-Pneumonie, und gletscherkundliche Beobachtungen und Messungen.

21. Eine Klein-Expedition der Princeton University ging von Chitral in den Hindukusch. Die Teilnehmer waren T. A. Mutch und /. E. Murphy. Eine zweite Ersteigung des Tirich Mir ( 7700 m ), der von der Norwegischen Expedition 1950 erobert worden war, misslang, und schon wurde gemeldet, dass die Amerikaner Frostschäden erlitten hätten und auf dem Rückmarsch seien. Offenbar war es aber damit nicht so schlimm, denn sie entschlossen sich zu einem neuen Vorstoss, und vor kurzem erfuhr ich, dass sie sich einen prächtigen « Trostpreis » holen konnten, die Erstersteigung des Istor-o-nal ( 7397 m ), der 1935 vergeblich angegriffen worden war. Er ist technisch unschwierig, immerhin einer der Hauptgipfel des Hindukusch, dessen Erschliessung damit einen guten Schritt vorwärts gemacht hat.

22. Ebenfalls in Chitral arbeitete eine kleine deutsche Expedition unter Leitung von Prof. Dr. A. Friedrich mit rein wissenschaftlicher Zielsetzung: Ethnologische und linguistische Forschungen.

Alles in allem - auch die « Himalaya-Saison 1955 » zeigt uns eindringlich, welchen Umfang die bergsteigerische und wissenschaftliche Tätigkeit in diesem gewaltigsten Hoch-gebirgssystem der Erde erreicht hat.

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