II. Die Dent Blanche
( 4364 Meter. )
Die Dent Blanche entgipfelt dem Gebirgsstocke, der sich zwischen den obersten Thalgründen von Zmutt, Hérens und Anniviers aufbaut und ragt dort in weltentrückter Abgeschiedenheit, in einsamer, stiller Majestät empor. Dieser Gebirgsstock, eine nördliche Ablösung vom Hauptkamme der Walliser Alpen, bildet in der Dent Blanche einen mächtigen Knotenpunkt, von dem bedeutende Gebirgsäste ausstrahlen.
In felsiger Wildheit, von Firn und Eis umgürtet, erhebt sich- die Dent Blanche als riesige Pyramide zur Höhe von 4364 m. Von welchem Standpunkte immer gesehen, bringt sie, stolz ihre Umgebung beherrschend den Eindruck machtvoller Grosse hervor und mit dem Zauber ihrer herrlichen Gliederung und Architektur nimmt sie den Schauenden gefangen; im Norden erscheinen ihre kühnen Formen, geschmückt mit blinkendem Firntalare; von anderen Seiten starren schroffe Granitwände mit hohen Felspfeilern auf, ziehen scharfe Gräte in zackiger Wildheit, kurze eisige Schneiden zur Spitze empor. Durch die Schönheit ihrer Formen, durch ihren hohen Aufschwung ist die Dent Blanche die Zierde der Thäler, die an ihren Fuss reichen.
Erst spät wurde der Dent Blanche der Ruf der Unzugänglichkeit geraubt. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die von den besten Bergsteigern unternommen wurden, waren die Herren S. Kennedy und W. Wigram ( vom A. C. ) mit dem Führer J. B. Croz und einem der Kronig von Zermatt als Träger, die Ersten, welche nach hartem Kampfe am 18. Juli 1862 den Gipfel erreichten 1 ).
Die Ersteigung wurde von den Hütten der Alp Bricolla unternommen, die zur Spitze ziehende Südkante benützt und erforderte vom Ausgangspunkte und dahin zurück 16 Stunden. Eine zweite Ersteigung fand zwei Jahre später durch Herrn John Finlaison mit Führern Christian Lauener und Franz Zurflüh statt 2 ). Der Ausgangspunkt war wieder Alp Bricolla, wohin die Reisenden auch rück- kehrten. Die Expedition stieg theilweise an der Breitseite des Berges an; die Schwierigkeiten werden als sehr bedeutende geschildert. Eine dritte Ersteigung ( von Bricolla und zurück ) führte Herr Ed. Whymper 1865 mit den Führern Michel Croz, Christian Almer und Weisshorn-Biner aus 3 ). Herr Whymper hält die Ersteigung für die anstrengendste, die er jemals gemacht; Auf- und Abstieg der letzten 2400 Fuss kosteten zehn Stunden und er führt dies als Beweis an, dass die Dent Blanche ein Berg von ausserordentlicher Schwierigkeit sei. Dieses Urtheil bestätigte die Berichte über die beiden vorhergehenden Besteigungen und die Bezwingung der Dent Blanche galt und gilt als ein äusserst schwieriges und gefahrvolles Unter-
: ' ) Alpine Journal, Vol. I. Seite 33 u. ff. lieber diese und die folgende Ersteigung siehe auch Gr. Studer's ausgezeichnetes Werk: „ lieber Eis und Schnee ". Band II. Seite 127 u. ff.
2Alpine Journal. Vol. II. Seite 292 u. ff.
3Whymper, „ Scrambles amongst the Alps ". Kap. XIV. Seite 274 u. ff.
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nehmen, so dass trotz der anerkannten hohen Schönheit des Berges nur wenige Ersteigungen in den zehn Jahren, die seit der ersten verstrichen waren, ausgeführt wurden.
Verschiedene Pläne, unter welchen das Matterhorn die erste Stelle einnahm, die Entscheidung für den zweiten Platz aber zwischen der Dent Blanche und einem anderen Berge noch schwankte, führten mich 1873 nach den Walliser Alpen. Für den Fall der Ersteigung der Dent Blanche hatte ich mir den Versuch vorgenommen, von Zermatt ausgehend den Gipfel zu erklimmen und nach -Evolena, in das Val d' Hérens abzusteigen, eine Expedition, die in dieser Verbindungwie ich glaube — noch nie ausgeführt wurde.
Nachdem ich am 30. Juli das Matterhorn erstiegen hatte, verbrachte ich einige Tage in Zermatt. Die Unternehmung der Expedition auf die Dent Blanche errang jetzt entschieden den Vorrang unter meinen anderen Projekten; sie hatte gegen diese noch den Eeiz für sich, das die Ersteigung auch die erste in diesem Jahr wurde. Das Wetter jedoch, obgleich nicht ganz schlecht, war zur Unternehmung grösserer Touren nicht geeignet; ein wolkenbringender Südwind strich durch die höheren Luftschichten und an den westlichen Flanken des Matterhorns, tief im Zermatt steckten dichte Nebel.
Peter Taugwalder, der mit mir auf dem Matterhorn gewesen, sollte mich begleiten und Herr F. A. Wallroth vom Alpine Club hatte die Güte mir für die Dent Blanche seinen Führer Nikolaus Knubel zur Verfügung zu stellen.
Am 2. August Abends sassen wir auf dem bekannten Steinwall vor dem Hotel Monte Rosa und besprachen die Eventualitäten des Aufbruches; allein das Wetter hatte sich schlechter gestaltet, als selbst an den vorhergehenden Tagen, der Himmel war bewölkt und finster und die Meinung, dass wir am nächsten Tage, einem Sonntage, der Ruhe geniessen würden, gewann die Oberhand. Seit meiner Matterhornexpedition, bei der ich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen vom Sturm und Regen je nach Zermatt und dem Riffel zurückgetrieben wurde und erst am dritten Tage vom Riffel zur Schirmhütte gelangen konnte, war mein drängendes Anstürmen besänftigt und infolge der am Abend ausgesprochenen Voraussetzung schlief ich recht lange und trat erst spät am Vormittage vor die Hausthüre. Ein glänzender blauer Himmel und Nikolaus Knubel im funkelnden Sonntagsstaate, seine Feiertagspfeife schmauchend, strahlten mir entgegen; Peter Taugwalder aber kam später mit seinem ältesten Sprössling sich ganz dem idyllischen Genusse der Freuden der Familie und des Vaters hingebend, aus der Kirche. Angesichts solcher Umstände hielt ich die Frage: warum ich nicht von dem schönen Wetter in Kenntniss gesetzt wurde, insbesondere da zur Erreichung des ersten Tageszieles kein sehr früher Aufbruch nöthig gewesen wäre, für überflüssig und ergab mich der so oft trügerischen Hoffnung, dass wohl auch morgen ein schöner Tag kommen könne.
Und es war so; ein herrlicher blauer Himmel wölbte sich über Berg und Thal als ich um 7 Uhr 25 Min. am Morgen des 4. August aus Zermatt ( 1620 m )
wanderte. Bei der Brücke über den Zmuttbach vereinigte sich die Reisegesellschaft: vier an der Zahl, da noch ein jüngerer Bruder Taugwalder's als Träger des Zeltes, das ich für unser Bivouac mitnahm, sich anschloss.
Nie schien mir der " Weg durch das Thälchen von Zmutt so schön, als an diesem Tage. Herrlicher Wald nahm uns in seine stille Einsamkeit auf; in tiefer pittoresker Schlucht wallte und rauschte der Gletscherbach. Das zackige Geäste riesiger Tannen theilte die Rückblicke nach dem Thale von Zermatt in viele kleine Bilder und darüber thronte — in unsere Ge-sichtsaxe tretend — das prächtige Rympfischhorn, im Sonnenlichte funkelnd. In friedlicher Ruhe grünte der ebene Thalgrund von Zmutt, von braunen Holzhütten bedeckt und oben vom eisigen Bord des Zmuttgletschers geschlossen. Mächtig thürmte sich das Matterhorn auf; der Hörnligrat zieht wild und zerrissen empor und mit finsterer Wandung steigt es aus dem Zmuttgrunde auf. Eine herrliche Nebelfahne flatterte von demselben nach Osten und erhöhte den fesselnden Anblick.
Bei einer der Hütten hielten wir eine Viertelstunde und tranken Milch.
Langsam stiegen wir den Riegel an, welcher das Thal vom eisigen Hintergrunde abschliesst. Nach einer halben Stunde, oberhalb der mächtigen Moräne, bei den letzten Anzeichen einer zwerghaften Gesträuchsvegetation suchten wir etwas Holz als Brennmaterial für unser Bivouac zusammen.
Die Ansicht des Zmuttgletschers, oben von der Felsmasse des Stockje getheilt, hat sich uns eröffnet: weite Eismassen, die zu den hintersten Gräten des langgestreckten Thalbeckens von Zmutt ansteigen.
Aus dem nördlichen Umfassungsbogen ragt die schneelose Felsspitze des Gabelhorns empor, unter welchem der steil- hängende Arbengletscher hoch oben an den Felsflühen endet. Durch die Mauern der Hohwänge von diesem gei- schieden, zieht das schneebedeckte sanftere Ende des Hohwänggletschers herab.
Um 9 Uhr hatten wir einen kleinen Vorrath Holz gesammelt und setzen unseren Weg fort. Mächtige Seitenmoränen, festgefrorene eisige Schutthügel wurden überstiegen. Die Monotonie des Marsches über die trümmerbedeckte Gletscherfläche unterbrach der Anblick des Matterhorns, welcher immer mit der Verrückung unseres Standpunktes wechselte; jetzt zeigte es uns das in herrlichen Séracs abbrechende Gebilde des Matterhorngletschers und jene trotzige Wendung mit der es gegen Osten ausbiegt. Die imposante Dent d' Hérens war erschienen und zum ersten Male erblicken wir über dem zwischen Steilhängen herabziehenden Schönbühlgletscher, die Pyramide der Dent Blanche, ein herrlicher Bau aus dunkeln, mit glitzerndem Schnee bestreuten Felsen.
Am Abhänge des Stockje rieselte durch eine Runse köstliches Wasser, vielleicht das letzte — und wir entschlossen uns Mittagsruhe zu halten. Da wir nicht zu eilen hatten, verbrachten wir dort 50 Minuten und stiegen dann an den Stockjehängen aufwärts. Um 12 Uhr 45 Min. waren wir oben.
Ein majestätisches Hochgebirgsrund umfängt uns. Vom Matterhorn zackt ein zerrissener Grat, der am schwierigen Col Tournanche tiberschritten wurde, hinüber zur Dent d' Hérens.
In herrlicher Windung strebt der Kamm zur Zinne empor; an ihren eisgepanzerten Wänden zeigen sich die wildesten Gletscherbrüche; zu ihren Fussen ruhen die zerrissenen Firne des Tiefenmattengletschers. Westlich von der Dent d' Hérens setzt der Kamm mit klippigen, eisbehangenen Wänden fort. über welche ein Uebergang nach dem Valpelline erzwungen wurde a ).
An die nördlichen Hänge des Stockje lehnt sich der Stockgletscher, der vom breiten Schneesattel des Col de Valpelline herabfliesst. Im Jahre 1871 stieg ich die schneereichen Firnhänge zu diesem Sattel hinan, überschritt denselben und gelangte über eine Reihe von Pässen, die in rascher Folge einen unaufhörlichen Wechsel der grossartigsten Scenerieen erschlossen, in einem Tage von Zmutt nach Grande Chermontane im Hintergrunde des Val de Bagne. Tief prägte sich mir damals das wunderbar schöne Bild ein, welches die Dent Blanche vom Col de Valpelline gesehen, darbot. Sowohl von der Höhe des Stockje als vom Col hatte ich die Contouren derselben skizzirt, oft zur genussreichen Erinnerung dieselben betrachtet. In gleicher Schönheit stellt sich die Dent Blanche heute meinen Blicken dar. Leichte Nebel spielen um dieselbe, welche bald diese, bald jene Partie verhüllen, durch unerwartete Lüftung aber dem Geschauten doppelten Zauber
. ' ) Das „ Tiefenmattenjoch " durch A. W. Moore und ( f. E. Foster, siehe „ Variations on the high level route " by A. W. Moore. Alpine Journal. Vol. V. Seite 309 u. ff. Dent Blanche.
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Dent Blanche vom Col d' Hérens aus.
( Nach G. Studer. )
leihend. Vom Einschnitte des Col d' Hérens streicht eine lange, an Höhe wechselnde Felswand, die Wandfluh * ), mit einem Schneegrat gekrönt bis zum Wandfluhkopf und umstarrt den Stockgletscher im Nordwesten. Mit dem Wandfluhkopfe wendet der Grat sich
) Auf der Dufourkarte, Blatt XXII und auf der Excursionskarte vom Süd-Wallis des S. A. €. trägt nur der Felszug, der vom Punkte 3595 m zur Dent Blanche emporzieht,die Bezeichnung „ Wandfluh ". Es erscheint aber die südwestliche Fortsetzung dieses Zuges bis zu seinem Auslaufen unter der Schneekuppe der Tête Blanche als integrirender Bestandtheil desselben und dürfte sich somit die angeführte Bezeichnung auch auf den südwestlichen Theil des Grates erstrecken. Ich erlaube mir im Nachfolgenden den ganzen Felszug von der Tête Blanche, an welcher er sich vom Hauptkamme ablöst bis zu seiner Erhebung zum Gipfel der Dent Blanche mit dem Namen „ Wandfluh " zu bezeichnen und zur leichteren Unterscheidung den vortretenden Punkt 3595 m, eine Felsspitze „ Wandfluhkopf " zu nennen.
streng nördlich und zieht, in dunkeln Felswänden,, mit äusserster Steile auf den Schönbühlgletscher abstürzend, hinan zur Riesengestalt der Dent Blanche.. Nahe und westlich vom Wandfluhkopfe beabsichtigten wir den Felszug der Wandfluh zu übersteigen, um jenseits einige Felsen am Fusse der Dent Blanche, die wir als Ort unseres Nachtlagers bestimmt hatten, zu erreichen.
Um 1 Uhr 15 Min. Nachmittags verliessen wir die Höhe des Stockje. In grossen Massen lag der Schnee auf dem Stockgletscher, über den wir jetzt gingen und die Mittagssonne hatte denselben tüchtig durchweicht. Um 2 Uhr 10 Min. waren wir unter den Felswänden T mit welchen die Wandfluh auf den Stockgletscher absetzt. Eine kleine Vertiefung war an der Felswand gebildet, zog eine kurze Strecke weit hinan und setzte in einem über unseren Köpfen hängenden, steil abbrechenden Schneefelde fort, von dem ein tüchtiger Wasserfall gerade auf uns herabstürzte. Wir wandten uns rechts einer Runse zu, nach deren Erkletterung ein an der Wand vorspringender Felskopf zu ersteigen oder zu umgehen war, um auf die obere Partie der Felsmauer zu gelangen. Der Träger blieb mit dem Gepäcke und einem Seile unten, indess wir durch die glatte Felskehle emporstiegen. Zu dem Felskopfe führte ein schmales Gesimse, welches sich um die Hälfte desselben wand; der an der Wand hinausragende Felskopf liess nicht genügenden Raum um an diesem Gesimse aufrecht gehen zu können.
Taugwalder sollte mit dem Träger zurückbleiben,, um das Gepäck herauf zu befördern und dann nach- kommen;
ich knüpfte mich mit Knubel an ein Seil. Knubel kroch an dem Gesimse hin, während ich mich fest an die Felsen stemmte. Als er sich aufrichtete um an dem überhängenden Felsblock empor zu klettern, sah seine Lage so schlecht aus, dass ich Taugwalder rief: nachzufolgen und ihm vielleicht eine helfende Hand zu leihen. Allein bis Taugwalder sich näherte, hatte sich Knubel mit grösster Bravour schon hinaufgearbeitet und rief mir zu, zu folgen. Taugwalder war wieder abwärts gestiegen, um das Gepäck am Seile heraufzuziehen. Vorsichtig kroch ich an dem schmalen Bande, da bemerkte ich, dass das Seil, welches uns verknüpfte, das schwächere von den beiden sei, die wir mithatten, nur zum Befördern des Gepäckes bestimmt. Es war ein Seil der schlechtesten Sorte, und flösste nur sehr wenig Vertrauen ein. Dennoch machte ich jetzt keine Erwähnung davon. Ich richtete mich auf und klomm an dem überhängenden Bollwerke empor. Knubel war mir unsichtbar und ich rief ihm zu, am Seile nicht zu ziehen, weil ich mich auf dasselbe nicht verlassen wollte. Ich hing über der grausen Tiefe, die sich unter meinen Füssen öffnete, als ich nahe der Höhe des Felskopfes für meine Hände keinen Stützpunkt mehr fand um mich empor zu ziehen. Ich hielt den Fels umklammert, ohne mir die nächste Fortbewegung ermöglichen zu können. Lange konnte ich so nicht bleiben, da meine Kräfte schon zu erlahmen begannen. So griff ich denn, mit verzweifelter Anstrengung mich emporwerfend in die rauhen Unebenheiten der Felsen und im nächsten Schwünge war ich auf den Knieen oben. Das scharfe Gestein hatte mein linkes Handgelenk blutig geschnitten.
Noch eine kleine Strecke mussten wir an steilen Felsen emporklettern, dann wurde das Begehen derselben bis zum Rande des zur Höhe führenden Schneehanges leicht.
Was vom Stockje gesehen nur als schmale Schneegwächte erschien, zeigte sich als bedeutender Schneehang. Ein etwa 30 Fuss hoher, senkrechter Schneewall bildete die oberste Zinne. Wir unterschätzten nicht die Schwierigkeit der Ueberwindung derselben, wenn wir auch vielleicht nicht darauf rechneten, dass das Hinderniss ein so bedeutendes sei, wie es uns wirklich wurde und hätten den Aufstieg an diesem Schneewalle gerne vermieden. Allein bis zum Wandfluhkopf zog in der Höhe eine gleiche, an manchen Orten noch mächtigere Schneemauer und zwischen dem Ende derselben und dem Wandfluhkopfe schien ein Abgrund zu liegen, der einen Durchpass unmöglich machte.
Wir stiegen also an der Schneehalde empor und suchten nach einer Stelle, wo die Erklimmung des Walles am leichtesten schien. Wir waren am Seile; Taugwalder führte, dann folgten ich, Knubel und der Träger. Der Wall stieg vollkommen lothrecht auf und bestand aus lockerem Hochgebirgsschiiee. Taugwalder musste zuerst eine tiefe Rinne für sich aushacken, um nur die ersten Tritte schlagen zu können. .'Unzählige Male verlor er dieselben und damit die gewonnene Höhe. Es erforderte neue Mühe, um diese wieder zu erreichen. Die Arbeit schien kein Ende nehmen zu wollen und es sah aus, als würde die Ueberwindung überhaupt unmöglich sein.
Wir leisteten Taugwalder die möglichste Hülfe. Mit der linken Hand bohrte er einen Stock tief in den Schnee, der ihm Stütze gewährte bis er mit dem Pickel seinem Körper Raum verschafft hatte, um wieder in eine höhere Stufe treten zu können. Unterdess war ich schutzlos dem Hagel gefrorner Schneestücke ausgesetzt, die seine Axt auf mich herabsandte. Es dauerte lange, bis er endlich mit wuchtigen Hieben die oberste Gewächte durchschlug und auf die Höhe gelangte.
Während dieser Zeit hatte sich das Wetter plötzlich verändert. Ein kalter Südwind stürmte und trieb dichtes Gewölke vor sich her und schon wogte unter uns im Zmutt ein graues Nebelmeer. Taugwalder rief uns zu, dass auf der anderen Seite, im Gebiete des Ferpèclegletschers der Nebel dicht und es so dunkel sei, dass man nicht zehn Schritte weit sehen könne. Das waren schlimme Nachrichten.
Es kostete mich ein hartes Stück Arbeit bis ich an der Seite Taugwalder's stand. Die Stufen, die er geschlagen hatte, brachen durch und der Schnee war jetzt vollkommen gelockert. Gute Dienste leistete auch mir der zweite, tief in den Schnee getriebene Stock, sowie mein starker Pickel, an denen ich mich oft emporzog und ohne festen Stand zu haben hielt, bis die Fusse sich einen neuen Tritt in den Schnee gebohrt hatten. Es war 4 Uhr 20 Min. Nach- mittags, als ich die Höhe der Wandfluh erreichte, von welcher sich ein, von einem halb verdeckten Schrunde durchzogenes Firnfeld zum Ferpèclegletscher senkte. Mein Aneroid ergab die Höhe 3480 ra.
Nach mir kam Knubel, dann wurde das Gepäck heraufgezogen und zuletzt folgte der Träger. Trotzdem das schlechte Wetter mich nicht in die beste Stimmung versetzte, musste ich herzlich lachen, als nach längerer Zeit das durch die Kälte geröthete Gesicht des Trägers, den Hut mittelst eines um den Kopf gebundenen rothen Taschentuches festgehalten, in der Lücke, die durch die Gwächte gebrochen war, erschien. Das sonst nicht vielsagende Gesicht des übrigens in seiner Verwendung unverdrossenen Burschen zeigte einen unverhohlenen Ausdruck der Freude über die endliche Erlösung aus dieser gymnastischen Schule, dabei aber auch unverkennbar einen hohen Grad von Selbstzufriedenheit über die geschehene Leistung, die gleichsam eine Beifalls-äusserung von unserer Seite herausforderte.
Das Wetter war ganz schlecht geworden, der Nebel so dicht, dass es unter solchen Umständen unmöglich schien die Felspartieen zu entdecken, auf welchen wir beabsichtigt hatten, unser Lager aufzuschlagen. Dennoch gingen wir längs der Grathöhe hin. Als wir zur Stelle kamen, wo die Schneekrone der Wandfluh nahe dem Wandfluhkopfe endete, bemerkten wir dass dort kein Abgrund bestehe und wir mit Umgehung des Schneehanges an den Felsen in schiefer Richtung aufsteigen und dort ohne Mühe auf das jenseitige Firnfeld — auf dem wir jetzt waren — hätten übergehen können.
Um uns vor dem schneidend kalten, heftigen Winde zu schützen, stiegen wir einige Fuss an der Zmuttseite der Wandfluhfelsen, hinab, um dort zu warten, ob das Wetter uns- ermöglichen würde nach dem für unser Nachtlager bestimmten Orte zu gehen oder ob wir genöthigt sein würden an den Felsen der Wandfluh zu bivouaciren.
Eine Stunde standen, lagen wir an der steilen Wand; unterdess wurde das Wetter immer schlechter; ein Schneesturm hatte sich erhoben. Beinahe hätte mich die Ungunst des Wetters am Matterhorn zurückgeschlagen, zweimal hatte es mich in die Tiefe getrieben, es schien, als sollte mir schon am nächsten Berge wieder ein gleiches oder noch schlimmeres Schicksal zugedacht sein. Jede Hoffnung auf die Aenderung des Wetters aufgebend, stiegen wir um 5 Uhr 30 Min. abwärts, um in den Felsen, an einem Platze, den wir schon früher bemerkt hatten und der uns dazu geeignet schien, unser Zelt aufzuschlagen. Es war eine kleine Fläche, an der breitesten Stelle etwa 6 Fuss messend und vielleicht 20 Fuss lang, von der die Felsen steil abstürzten und zu der wir von oben nur kletternd gelangen konnten. Die Ablesung meines Aneroides ergab in Benützung der Angaben zur Ermittlung relativer Höhendifferenzen, für unseren Bivouacplatz eine Höhe von 3400 m.
Knubel und ich schlugen das Zelt auf und banden es mit dem Seile an die Felswand. Dasselbe fand kaum Platz und die Spitze der einen Zeltstange reichte in den Abgrund hinaus. Taugwalder und der Träger bauten einen Feuerherd und sahen nach dem Abendessen.
Leben und Fröhlichkeit war in unsere kleine Gesellschaft gekommen, als mit dem Neigen der Sonne das Wetter sich rasch zur Besserung wandte.
Eine köstliche Suppe wurde gekocht und dazu die Vorräthe des Proviantsackes geplündert.
Die Nebel verzogen und lösten sich in langen Streifen auf, die an den Bergwänden hin und her flatterten. Die untergehende Sonne sandte ihre letzten Strahlen, welche die Wolken durchschossen und vergoldend auf die Umgebung fielen. Es lag jener Ton des Erwachens und Neubelebtseins in der Natur, den man an schönen Sommerabenden nach einem Wolkenbruche in der Ebene und den tieferen Thälern so oft beobachtet.
Auch meine geschwundene Hoffnung erwachte von Neuem. Wenn uns auch für morgen von unserer jetzigen Lagerstätte ein längerer Weg bevorstand, besass sie doch einen hohen Reiz an der Hochgebirgslandschaft, die uns in ihrer ganzen Grosse umgab. Der Anblick des Matterhorns und der Dent d' Hérens von unserem Bivouacplatze steht vielleicht unerreicht in den gesammten Alpen da. Wie flüssiges Gold schwomm es an der eisigen Zinne der Dent d' Hérens, höher und höher reichend und rasch sich verflüchtigend, während die wilden Felsklippen des Matterhorns in dunklem Roth glühten. Die gebrochene Kammlinie mit ihren Zacken und Nadeln grenzte sich scharf vom tief violetten Himmel ab. Auf die gewaltigen Firnflächen die zu unseren Fussen sich ausdehnten, senkte sich ein grauer Schleier der sich rasch ausbreitete, die blaue Ferne umhüllte und die Tiefe verdunkelte. Langsam kletterte die kalte Nacht an den Bergwänden empor, das Licht in seinen letzten lebhaften Zuckungen löschend. Durch das fahle Dunkel drangen Sterne mit frostigem Scheine.
Wir krochen in das Zelt, dessen inneren Raum. eine kleine Laterne erhellte. Ich machte Nachttoilette, indem ich alle möglichen Dinge, die mein Tornister enthielt und die in irgend einer Weise verwendbar waren, um der Kälte den Zugang zu vermehren, anlegte und den Tornister als Kopfkissen benützte. Yon Kälte hatten wir übrigens kaum zu leiden, nur quälte mich ein spitziger Stein, der durch den doppelten Zeltboden von Segeltuch und Makintosh drang und den ich trotz aller Lagerveränderungen nicht los werden konnte. Zwischen 2 und 3 Uhr Nachts markirte mein Thermometer ausserhalb des Zeltes — 1 ° C, im Zelte war zur selben Zeit 7 ° C.
Es war noch finster als wir unseren Morgenthee kochten, das Zelt abbrachen und die Vorbereitungen zur Abreise trafen. Wir frühstückten und als der Morgen dämmerte und die nächste Umgebung ein wenig erhellte, um 3 Uhr 45 Min. des 5. August, brachen wir auf.
Im ersten schwachen Scheine des kommenden Tages erhoben sich die Berge zu unnahbarer Grosse, aus unergründlichen Tiefen. Der Richtung, die wir gestern im Absteigen von der Wandfluh einhielten, folgend, kamen wir auf die obersten Firnfelder des Ferpèclegletschers. Die Stelle unserer heutigen Ueberschreitung überragte diejenige, welche wir gestern benützt hatten, etwas an Höhe. Es dürfte für den Uebergang über die in einer Höhe von circa 3470 m bis 3490 m liegenden Gratstellen die Bezeichnung « Wandfluhjoch » passend sein. Das Wandfluhjoch bietet einen näheren Weg zwischen Zermatt und Val d' Hérens, als der Col d' Hérens und wird — wie ich glaube — wenn auch selten als solcher benützt.
In der Höhe bleibend kletterten wir theils auf dem Felsrücken der Wandfluh theils stiegen wir an den zum Ferpèclegtetscher abschiessenden Schneehängen empor. Nach zweistündigem Steigen schritten wir etwas abwärts und befanden uns um 6 Uhr 5 Min. auf einem kleinen Firnplateau, welches sich unmittelbar unter dem Gratzuge als höchste Terrasse eines Ton der Dent Blanche zum Ferpèclegletscher herabziehenden Gletscherarmes ausdehnte.
Hier hatten wir einen vollen Anblick unseres Berges und seiner wilddurchfurchten Wände, die uns auf einen harten Kampf gefasst machten. Ueber die wilden Felszähne der Dents de Bertol und des Bouquetins im Scheiderücken zwischen Arolla und Ferpècle, ragten aus dem Berggewirre der Thäler von Arolla, Héremence und Bagne das Massiv des Mont Colon, die Kuinette, der Mont Blanc de Seiion und der mächtige Combin auf. Dahinter thronte die Montblancgruppe: der Mont Blanc, die Aiguille Verte, die Grandes Jorasses und andere Nadeln. In der Ferne tauchten Grivola und Grand Paradis auf und am äussersten Rande des südlichen Horizontes, ein schwarzer Felskopf: der Monte Viso.
Den Träger und das Gepäck Messen wir hier zurück und stiegen rasch eine glänzende Schneehalde empor, um dann dem Schneegrate, bald auf der Schneide selbst, bald etwas unterhalb derselben zu folgen. Auf der Schneide mussten meist Stufen gehauen werden, an den Hängen gab der Schnee gute Tritte. Knubel war der Erste, dann folgten ich und Taugwalder, Alle am Seile.
Der Grat wurde schneelos und wir kletterten über brüchige Felsen. Nach einer Schartung erhob sich der Grat jenseits als breite steil abfallende Wand. Eine glatte Runse zog an derselben empor, die wir als unsern Weg benützten um dann auf die dem Schönbühlgletscher zugewendete Seite, die östliche Abdachung der Wandfluh zu steigen. Auf schmalem Felswände gingen wir dort. an den senkrecht abfallenden Wänden über der schwindligen Tiefe. Nach Erkletterung « eines mächtigen Felsthurmes befanden wir uns wieder auf der Höhe des Grates.
Als unregelmässig dreieckige Wandfläche erhob sich vor uns die südwestliche Façade der Dent Blanche, an deren unteren Ecke wir jetzt standen. In schiefer Richtung beabsichtigten wir an derselben aufzusteigen und auf die Höhe zu gelangen, zu welcher der felsige « rat in tiefe Scharten zersägt und mit steilen Felsnadeln gezackt aufstieg und jenseits welcher nach Norden die Spitze lag.
An der Bergseite wechselte eine Aufeinanderfolge von Felsklippen mit steilgeneigten Platten, welche enge Runsen einschlössen. Die Angriffspunkte bestanden aus losem,, brüchigem Gestein. In den Vorsprüngen lag Schnee, der jeden Standpunkt schlüpfrig und unsicher machte. Dünnes Eis, gefrorene Wasseradern überzogen die glatten Felsplatten, deren sonst schon schwierige Ueberschreitung dadurch doppelt gefährlich wurde. Wo an den Platten Risse sich zeigten, klammerten wir uns mit den Fingern in dieselben ein und zogen uns langsam hinauf. Es waren Stellen, wo man sich mit Brust, Händen
13 und Knieen emporarbeiten musste.
Bei schlechten'Partieen bewegte sich immer nur Einer von uns zur selben Zeit. Wir waren auf der Mitte der Wand, als* wir über uns eine drohende Masse von Felsblöcken und Eisfragmenten erblickten, sichtlich dazu geeignet,, bei geringster Veranlassung Beweismittel für das Gesetz der Schwere zu werden. Wir beeilten uns möglichst, aus dem Bereiche derselben zu gelangen.
Es war eine unausgesetzte Reihe von Schwierigkeiten, welchen wir auf der Façade begegneten; auch kein Schritt war an diesen Wänden leicht. Wir arbeiteten rastlos, mit Anspannung aller Kräfte, mit raschem Urtheile über die einzelnen Positionen und mit Anwendung aller Vorsicht.
Um 9 Uhr 30 Min. hatten wir die Bergseite überquert und fanden uns wieder auf dem Grate, auf dem wir fortkletterten. Eine Viertelstunde später kamen wir zu einer Einschartung unter dem letzten Aufbaue des Gipfels. Ein mächtiger Einschluss weissen Felsits,, Feldspathgestein, war dort blosgelegt. Wir hielten an,, um einen kleinen Imbiss zu nehmen.
Um 10 Uhr gingen wir an die Bewältigung der letzten Partie. Ein schneebedeckter, vom Gestein durchbrochener Steilhang wurde erklettert. Der Grat ging in einen Eisrücken über, auf welchem wir vordrangen. Angeregt strebten wir dem sichtbaren Relief des Gipfels zu. Ein sanft ansteigender schmaler Firngrat bildet die Spitze der Dent Blanche, deren höchsten nordwestlichen Punkt wir um 10 Uhr 30 Min. erreichten.
In der Freude über den erkämpften Sieg wurden helle Jauchzer in die Lüfte gesandt.
Wir waren im Aufstiege so sehr mit den Schwierigkeiten des Terrains beschäftigt, dass ich der immer reicher sich entfaltenden Aussicht keine oder nur geringe Aufmerksamkeit schenken konnte; jetzt wirkte das vor mir entrollte Naturgemälde mit der ganzen Macht der fast plötzlichen Ueberraschung.
Weit reichte der Blick; in leicht geschwungenen Linien erschien die Ferne, im lichten Dunst verschwimmend.
Mächtig zogen mich die bekannten Berghäupter der Berner Alpen an; wunderbar gestaltete sich die Partie vom Vieschergrat, Mönch und Jungfrau bis zum prächtigen Bietschhorn.
Wenn das Auge über diese Welt von Bergen und Thäler, Schneefelder und Gletscher gestreift, kehrte es zur Nähe zurück, gefesselt von der ergreifenden Schönheit der Bildungen, die vom Combin bis zu den Mischabelhörnern uns umringten. Uns gegenüber erhebt sich in grandiosen Verhältnissen die Dent d' Hérens; der Tiefenmattengletscher zieht von ihr zur ebenen Fläche des Zmuttgletschers. Ueber die Flucht des Zmuttbeckens schwingt sich die kühnste Pyramide der Alpen, das riesige Matterhorn auf. Unter den entsetzlich jähen Wänden seiner Nordseite hangen die abbrechenden Eisfelder des Matterhorngletschers. Eine blendend weisse Reihe: Breithorn, Castor und Pollux und Lyskamm schliessen an das mächtige Massiv des Monte Rosa. Im Hintergrunde des erschlossenen Grenzgletschers erheben sich Signalkuppe und Zumsteinspitze.
Im Profil sehe ich vom westlichen Sattel die schwarzen Felswände in das Firnbassin des Grenzgletschers sinken, an welchen ich vor zwei Jahren bei der ersten Ersteigung der höchsten Spitze des Monte Rosa vom Süden aus dem Val de Lys, emporkletterte. Die Ströme des Gorner- und Findelengletschers dringen zu Thale und darüber ziehen Cima di Jazzi und Strahlhorn. Rympfischhorn und Allalinhorn folgen; Nebel verhüllen die Gegend des Alphubels und als grossartiger Abschluss erscheint nun die herrliche Kette der Mischabelhörner, vom Täschhorn und Dom beherrscht.
Mit unaussprechlicher Pracht stellt sich in unerwarteter, verwirrender Verschiebung der Vordergrund dar: die riesigen Wände des Weisshorns, die wilden Formen des Rothhorns und des scharfgespitzten Gabelhorns, das interessante Profil des Grand Cornier. In ihrer Mitte bergen sie Gletscher, Thal und Dorf von Zinal. Aus der Gegend von Zermatt grüsste der Riffel herüber. Weit schauen wir in das Thal von Evolena hinab. Die warmen Sonnenstrahlen strömen Glanz und Leben aus; duftige Farbentöne der verschiedensten Abstufung lagern auf der Tiefe; helles Licht erleuchtet die dunkeln Felswände, blinkt auf Eis und Schnee, umstrahlt die Spitzen.
Es war so schön, so ruhig auf der Dent Blanche! Allein die Führer drängten zum Aufbruche. Wir befürchteten Alle, dass uns das Absteigen die doppelte Zeit wie der Aufstieg kosten würde und so musste denn nach kurzem Aufenthalte geschieden werden. In eine halbzerfallene Steinpyramide die einen kurzen Stock mit den Resten einer weissen Flagge trug, legte ich eine Flasche mit meiner Karte und dem Namen meiner Begleiter und schlug ein Stück vom Gipfelgestein ab.
Dasselbe ist ein lichtgrüner Chloritschiefer, mit schimmernden Quarzadern durchsprengt. Die Lufttemperatur betrug während unseres Aufenthaltes auf dem Gipfel im Mittel 7 ° C. im Schatten. Um 11 Uhr 5 Min. begannen wir den Abstieg. Nach 25 Minuten waren wir an der Scharte, unter dem ersten Felsthurm, welcher dem Grat entragt und hielten eine halbe Stunde Käst, ein zweites Frühstück zu nehmen.
Das Absteigen über die Bergseite ging schneller vor sich, als wir gedacht. Taugwalder war der Erste, ich folgte, Knubel schloss. An den sehr schlechten Stellen, besonders wo es über Felsplatten ging, stiegen wir mit dem Gesichte zur Wand gekehrt, ab. Mit Gepolter fiel das bröcklige Gestein in die Tiefe. Ich glaube fast, dass ich mit zu grosser hast unseren Abstieg bewerkstelligte, allein ein eigenthümliches Gefühl der Sicherheit durchströmte mich.
Mit dem Verlassen der Façade waren die grössten Schwierigkeiten vorüber. Aufmerksamkeit erforderte das Umgehen des Grates auf der Seite des Schönbühlgletschers, an den erwähnten schmalen Felsleisten. Auf der Schneehalde, die uns zu der kleinen Firnhalde brachte, wo der Träger und unsere Tornister schon längst als kleine Punkte erschienen waren, hatte die Sonne unsere Tritte verwischt. Die eisige Schneedecke krachte beim Betreten, als ginge man über ein hohles'Gewölbe.
Um 2 Uhr 10 Min. Nachmittags waren wir auf der Firnterasse, drei Stunden fünf Minuten nach dem Verlassen der Spitze, eine halbstündige Rast abgerechnet nach einem Klettern von zwei Stunden 35 Minuten.
Zum Aufsteigen hatten wir vier Stunden zehn Minuten, abzüglich eines Aufenthaltes von 15 Minuten benöthigt.
Der arme Träger sah ziemlich durchfroren aus, da er in niederer Temperatur acht Stunden auf unsere Rückkehr gewartet hatte.
Wir setzten uns in den Schnee, und verzehrten etwas von den Resten unseres Proviantes. Ich trank den letzten Schluck kalten Thee's, der geblieben war; eine Zitrone mit Zucker bildete den einzigen Luxus des höchst bescheidenen Dîners. Sodann kam es zur Trennung; Taugwalder sollte mit mir nach dem Val d' Hérens gehen, Knubel mit dem Träger nach Zermatt zurückkehren.
Nikolaus Knubel hatte sich in den zwei Tagen, die ich mit ihm reiste, als ausgezeichneter Felskletterer, ausdauernder Mann und angenehmer Gesellschafter erwiesen. So schieden wir denn mit herzlichem Händedruck um 2 Uhr 50 Min. Nachmittags.
Mittagsnebel hatten sich erhoben und der Himmel war umwölkt, als wir uns dem Ferpèclegletscher zuwandten. Wir folgten der Höhe eines unter Schnee vergrabenen Felsriffes und stiegen auf den, der Dent Blanche zunächst gelegenen Gletscherarm hinab. Durch bodenlosen Schnee rnussten wir waten. Von der Dent Blanche lösten sich jetzt Steinlawinen und donnerten ia rascher Folge an den Wänden herab, dunkle Staubwolken weit hinaus in die Lüfte schleudernd. Einzelne Felsblöcke stürzten prasselnd bis auf die obersten Oletscherterrassen nieder. Es ist ein tödtliches Feuer,
dem die zu solcher Zeit an der Breitseite des Berges .Kletternden, schutzlos ausgesetzt wären.
Als der Gletscher steiler und schneeentblösster der Tiefe zu sich senkte, konnten wir unseren Sturmschritt, « den wir bis jetzt eingehalten, in ein stehendes Abfahren umwandeln. Rasch kamen wir vorwärts. Es Avar heiss und ein heftiger Durst plagte mich; ein Stückchen Citrone, das ich vorsorglich in meine Tasche gesteckt, war ein Labsal für meinen ausgetrockneten Mund. Die Brüche des Gletscherabfalles, zwischen welchen wir uns später fanden, machten uns etwas Arbeit, die wir theilten; wir thaten Beide unser Bestes, die Hindernisse durch Ueberschreiten scharfer Eisrücken, Stufenhauen an mit Schutt bedeckten Eishängen und durch das Wagen einiger Sprünge zu überwinden. Unter einer dem Einstürze drohenden Wand, über die Beste von Eislawinen, die weit hinab die Halde bedeckten, kamen wir nach dem ebenen Ende des Gletscherarmes und überstiegen die trümmerreiche Moräne.
Um 4 Uhr 15 Min. lösten wir uns vom Seile, tranken etwas Wasser, das durch den Geröllhang rieselte und verweilten eine halbe Stunde.
Zahllose Seitenbäche kreuzten unseren Pfad. Die Wasser waren mächtig angeschwollen und ohne Steg; von einem Felsblocke zum anderen springend mussten wir dieselben übersetzen.
Die Hütten von Bricolla ( 2426 m ), wo ich Milch zu erhalten hoffte, waren halb im Verfalle und unbewohnt. Ohne Aufenthalt gingen wir weiter, durch kniehohe, üppig wuchernde Vegetation. Ueberall rieselten Wasseradern an den Berglehnen herab, füllten die tief ausgetretenen Pfade und machten die tosenden Bächer über die nirgends ein Steg führte, überschäumen.
Unter uns lag der Ferpèclegletscher, mit welchem, der Glacier du Mont Miné sich unter dem felsigen, zwischen beide Gletscher sich einkeilenden Mont Miné Vereint. Diese jetzt von Eismassen umschlossene Felsinsel war das sagenhafte Schloss eines Königs, des Re Borali und seiner schönen Tochter und stand früher inmitten einer mit Blumen prangenden Alpenmatte l ).
Waldumgürtet, tiefschattig steigt das Thal nieder,, sein grünes Wiesengelände von Hütten belebt; in tiefer Stille ruht der eiserfüllte Hintergrund und vom sonnigen Dufte des Abends umwoben ragt stolz und hehr die= Dent Blanche auf.
Wir verliessen den in der Höhe fortlaufenden Weg-und wanderten, nahe dem brausenden Gletscherbache, über steile, nasse Wiesen. Einer klaren Wasserleitung folgend, kommen wir mit einer schwachen Umbiegung. bei Haudéres auf den Weg, der fast eben nach Evolena führt.
An den Brunnen, in Mitte des Dorfes, standen junge Mädchen in der originellen Tracht des Thales,. einige Wäsche windend, andere schöpften Wasser in. grosse Krüge.
Als wir durch die Thalweitung schritten, wurde es dunkel. Der Abend wrar. schwül, das Wasser in den Brunnen war warm. Die Lichter von Evolena erschienen und schwankten hin und her.
* ) Ritz, Sagen des Eringerthales. Jahrbuch YI. des. S.A.C. Seite 379.
Es war 8 Uhr 15 Min. Abends, als wir in Evolena ( 1378 m ) ankamen.
Am anderen Morgen wartete uns ein Wagen, der durch die Freundlichkeit der Frau Seiler, der vorzüglichen Hausfrau im Hotel Monte Rosa zu Zermatt auf telegraphische Anweisung von Sierre nach Evolena geschickt wurde. Ich glaube, wir Beide, Taugwalder und ich hatten am vorhergehenden Tage, an den schlimmsten Stellen der Dent Blanche — und deren gab es viele — nicht solche Angst ausgestanden, wie hier im Thale, wenn unser langgestrecktes, mit einem scheuen Braunen bespanntes Fuhrwerk mit merkwürdiger Beharrlichkeit hart am Rande der scharfen Kehre dahin-raste, um über dem tiefen Abgrunde die letzten Zolle der Strassenseite auszunützen.