Im Banne des Finsteraarhorns
VON ERNST REISS, BASEL
Mit 2 Bildern ( 81/82 ) Der Raum, die Einmaligkeit verleihen einer Landschaft das Ungewöhnliche; doch alles wäre tote Materie ohne die Aufnahmebereitschaft des Herzens.
Unser Weg mag von den grossartigsten Städten und Kulturen zu den schönsten und höchsten Thronen der Welt führen, überall finden wir auch anderswo viel Schönes, das uns zum Verweilen einlädt. Wir glauben da oder dort länger bleiben zu müssen, um das Einmalige solcher Sehenswürdigkeiten in uns aufzunehmen. Allein die Betrachtung kann nie von allzu langer Dauer sein. Niemals sind wir in der Lage, von der Schönheit, von der momentanen Stimmung eines landschaftlichen Bildes eigentlichen Besitz zu ergreifen.
Es gibt jedoch eine Möglichkeit: in einer gigantischen Umwelt zu leben, dort zu arbeiten, mit ihr zu ringen. Das ist ein Vorrecht des schöpferischen Künstlers und jener Menschen, die - mehr oder weniger unbewusst - an solchen Orten ihr Leben verbringen. Von ihnen unterscheidet sich der Weltenbummler und Schaulustige. Wir Bergsteiger aber dürfen glücklich sein, zeitweilig in einer einzigartigen Umwelt leben und miterleben zu dürfen.
Da gibt es Hüttenaufstiege, wo man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht; da gibt es Wände, wo vor lauter Fels der Berg nicht mehr zu seiner Geltung kommt Und wieder gibt es aussergewöhnliche Wege, welche uns eine fast unbeschreibliche Fülle von grossartigen Bildern und Stimmungen vermitteln. Wenn ich dies auf einer Tour in den Alpen in einem besonderen Masse erlebte, dann auf unserer Route durch die Studerhorn-Nordwand, am kleinen Berg im Banne des Finsteraarhorns.
Es beginnt an einem Samstagnachmittag im September in Meiringen. Gewitterschwere Wolken und dazwischen tiefblauer Himmel. Zwei Autos und zwei « Medizinmänner », welche in einer kunterbunten Auslegeordnung nach der zweckmässigen Taschenapotheke suchen, während ich über die technische Ausrüstung dürftige Hinweise gebe. Noch eine kurze Diskussion über das zweifelhafte Wetter und über die Seile; dann geht es Richtung Grimsel. Der baumlange Hans kommt soeben von einer Tour aus dem Sustengebiet, die von einigen Gewitterschauern begleitet war. Er beurteilt die Wetterlage eher ungünstig. Georges, wie immer, sieht den Himmel voller Geigen. Gelmerspitzen? Nein! Bächligebiet? Nein! Also, fahren wir zum Grimselhospiz! Eine diplo- matisch geführte Verhandlung führt zur Bewilligung einer Motorbootfahrt über den Grimsel-Stausee. Die Wetten gehen hin und her: Werden wir nass, oder gelangen wir nur angefeuchtet zur Lauteraarhornhütte? Wieder hat unser Optimist recht. Es fällt auch keiner aus dem Gleichgewicht, während wir im Dunkeln vermutlich immer 200 Meter zu weit links vom Hüttenweg gehen. Alles nur Training!
Die freundliche SAC-Unterkunft ist ausnahmsweise überfüllt. Sie befindet sich heute unter dem Nimbus des würdevollen Alpinisten und Romanciers Otto Zinniker Aber auch wir kennen den jungen Hüttenwart und geniessen eine zuvorkommende Bedienung. Die von mir verspielte Flasche Rotwein sorgt für die nötige Bettschwere. Frühzeitig soll es Nachtruhe geben, denn die Gipfelbesteigungen in diesem Gebiet können ausserordentlich lang werden. Wieder ein Gedränge! Hochkant liegen! Georges und ich warten auf die sehr praktischen Notmatratzen und kommen in der Hüttenstube zu einem fürstlichen Lager. Ein letztes « Gewitter » rollt im Parterre-Schlafraum, denn unser Kamerad gebietet den schäkernden Hüttenbummlerinnen mit Donnerstimme Nachtruhe. Wir schmunzeln, um so mehr, als die Wirkung nicht ausbleibt.
Der Wecker rasselt allzu früh. In der fragwürdigen Annahme, es sei strahlendes Wetter, tastet man sich vor die Hütte. Sollte einem Regen oder Schnee in den Nacken rieseln, dann hat man das Glück, die schlaftrunkenen Augen nochmals für einige Stunden zudrücken zu können. Uns aber leuchten spärliche Sterne zwischen schwarzen, zerrissenen Wolken, während wir dem fast bodenlosen Weg zum tiefen Gletscherstrom vom Unteraar folgen. Die dritte, noch frisch verzinkte Leiter hängt so steil an der glatten Granitwand, dass ich schnell den Eispickel zu verstauen suche, um über beide Hände zu verfügen. Ein Sprung auf den Gletscherrand hat uns vollständig über das Romantische des beginnenden Weges aufgeklärt. Nach einem Eilmarsch von gut anderthalb Stunden entschliessen wir uns, in der Moräne des sogenannten Abschwunges des Lauteraar-Finsteraarglet-schers den noch nicht erwachten Tag abzuwarten. In dieser langen Stunde der fahlen Dämmerung fragen wir uns, wer mehr zu kämpfen habe, wir oder der föhnwarme neue Tag.
Spät erst, in der ganzen Lichtfülle des Tages, stampfen wir durch den weichen Schnee an den Fuss der 800 Meter hohen Nordwand des Studerhorns. Die Zeit ist fast zu weit vorgerückt, als dass es ratsam ist, noch in eine der steilsten Eiswände des Berner Oberlandes einzusteigen. Uns aber hat am Anfang der unerwartet gute Trittschnee, später die Aussicht nach der faszinierenden Ostwand des hier gigantisch emporwachsenden Finsteraarhorns immer weiter in die Höhe gelockt. Am frühen Nachmittag dann, wie wir im kalten Pulverschnee auf dem 50 Grad steilen Blankeis stehen, ist es der Berg selbst, der uns vollkommen in seinen Bann zieht. In den mühsam durch die Schneeschicht gehackten Stufen steigen wir langsam und verbissen, derweil sich der Uhrzeiger ganz unbemerkt weiterdreht.
Ein strahlender Tag wölbt sich über die Berge und über den geschwungenen, riesigen Gletscherstrom bis zu der entfernt schimmernden Eiskuppe des Galenstocks. Gleich einsamen Seglern fahren ein paar kleine, weisse Wolken am blauen Horizont. Die klaren, herbstlichen Farben in Fels und ewigem Eis und diese majestätische Grosse lassen uns fast glauben, über einem der grossen Himalaya-Gletscherströme zu stehen. Unsere nichtige Spur verliert sich am Fusse der Wand in den verschneiten Eisbrüchen. Kaum ein anderer Mensch befindet sich heute im hintern Teil dieses gewaltigen Fels- und Eiszirkus. Himmelhoch, als stummer Wächter, ragt über uns die immense Pyramide des Finsteraarhorns. Die paar kleinen Lawinen, welche nach Mittag links und rechts seiner mächtigen Pfeiler auf den Gletscher herabstürzen, ändern auch nicht das Geringste in dieser erhabenen Welt. Und wir sind hier nur geduldete, kleine Gäste. Unter diesem Eindruck der uns umgebenden Grosse haben wir es verlernt, nur von langen technischen Aufstiegen zu sprechen.
Denhoch sollten uns die letzten Seillängen in der Studerhorn-Nordwand ihrer Schwierigkeit und der besonderen Verhältnisse wegen zum eindrücklichen Erlebnis werden. In Anbetracht dieser Umstände wählten wir im obern Wandteil unsere Route über die steilen Felsen zum nahen Gipfelgrat.
Schon der Übergang aus dem schneebepanzerten Wassereis zur ersten Felsschwarte verlangt viel Zeit. Obwohl ich aus Ermangelung eines zweiten Felshakens in einen tiefen Riss eine Eisschraube eingetrieben habe, wird das Vorwärtsdringen am dritten Absatz in diesem losen Gestein gefährlich. Senkrecht unter mir, im kalten Schatten, befinden sich meine beiden Gefährten. Durch das Ziehen löst sich in steiler Verschneidung plötzlich ein grösserer Block, rutscht mir über den linken Arm, übers Gesicht - und verschwindet in der Tiefe. Noch immer hafte ich mit den Steigeisen am Fels; es ist nichts passiert. Hätte das einfache Nylonseil in den tief unten sitzenden Haken wohl gehalten? Die paar blitzschnellen Gedanken und die Anstrengung, weiter oben einen bessern Griff zu erwischen, machen mir heiss. Keuchend fliegt der Atem. Zum Glück wurden die Kameraden vom gelösten Steinblock nicht getroffen! Hingegen muss unser Schlussmann während des langen Wartens im Eis seine Füsse ein wenig angefroren haben.
Wir dürfen froh sein, abends vor sechs Uhr dieser trügerischen Variante im losen Fels heil entronnen zu sein. Das ist auch der Grund, weshalb Georges dem von Pulverschnee überdeckten Blankeis bis zum nahen Gipfelgrat nochmals besondere Vorsicht schenkt. Feiner Schneestaub, leichte Nebel und ein konfuses Licht zwischen Tag und Nacht spielen mit uns. Wie ich meinen Gefährten unter der Gratwächte ablöse, sind alle Konturen und Dimensionen verschwunden. Der Klimmzug am Pickelstiel führt ins Ungewisse der vereisten Südflanke. Noch bin ich allein mit der gähnenden Leere. Wie geht es wohl weiter? Niemals hätte ich gedacht, dass uns dieser Weg bis fast zum Morgengrauen aufhalten könnte. Es ist ein unbekannter Weg durch die Nacht, ohne klare Linien und ohne warnende Zeichen vor einer Gefahr. Vierzig, vielleicht achtzig Meter hinter mir tappen meine Kameraden über den Grat.
Jetzt wird das Gelände erstmals flach. Ist das der Gipfel oder stehe ich bereits draussen auf seiner riesigen NordwandwächteStille, unendliches Nichts. Das Seil läuft durch meine Hände. Wie Schemen wachsen auf einmal meine Gefährten aus der Nacht. Verlegen ziehen wir den rechten Handschuh aus. DaIm gleichen Moment reisst der Nebel auf. Weit draussen, im obern Wallis, erhellt ein Wetterleuchten für Sekunden das nächtliche Gebirge. Derweil wir etwas in den Mund stossen und trockene Kleider unterziehen, fällt irgendwo aus den Wolken im Norden feines Mondlicht über die unwahrscheinlich grosse Pyramide des Finsteraarhorns. Es ist ein einmalig gigantischer Anblick, den wir nie mehr vergessen werden.
Studerhorn, 3638 Meter. Bei dem anfänglich harmlosen Abstieg gehen wir zu weit südlich auf eine tückisch verdeckte Spalte zu. In grossemBogennehmenwirdarumKurszumUnternStuderjoch. Bald sind wir zwanzig Stunden unterwegs, und so wollen wir uns da im Windschatten etwas besser verpflegen. Auch treffen wir hier den Entschluss, uns keinesfalls mit den steilen Abstiegsrinnen nach dem Studerfirn einzulassen. Das bedingt jedoch, dass wir noch den Gipfel des 3467 Meter hohen Altmanns überschreiten. Aus dem vielen losen Fels zu schliessen, wird dieser Berg äusserst selten begangen. Es folgen Steinschlag, Abseilen, Irrgänge, und immer noch tasten wir uns durch das Dunkel eines uns unbekannten Gebirgsmassivs. Auch unsere ausgebrannten Taschenlampen vermögen weder die Distanz noch die Tiefe anzuzeigen. Das apere, dreckige Eis bringt keine Lichtkontraste in diese lange Nacht, und in den Gletschermulden verdeckt alter, kaum angefrorener Schnee noch manchen Spalt. Die klaffende Randkluft haben wir nahe am Fels übersprungen, doch geht es noch einige Male hin und her, ehe wir sicher sind, die Aufstiegsmulde zum Oberaarjoch gefunden zu haben. Der Weg ist lang. Die hoch in die Felsen gebaute Hütte scheint noch tief zu schlafen; aber wir sind da!
Das Aufflammen des ersten Petrolfunkens blendet uns sichtlich. Unsern etwas fahlen Gesichtern kann ein kurzer Schlaf nur gut tun. Obwohl wir nahezu 24 Stunden unterwegs waren, dürfen wir nicht allzulange « an den Kopfkissen horchen »; denn unsere unerwartete Verspätung sollten wir unsern Angehörigen möglichst bald mitteilen.
Montagmorgen. Ein strahlend blauer Himmel wölbt sich über die zartweissen Bergpyramiden der Walliser Bergriesen und vergoldet gleich darauf die nahen Gipfel. Der Abstieg über den Oberaargletscher ist weit, aber er ist im Glänze der spätsommerlichen Morgensonne ohnegleichen. Auf dem schottengrünen Stausee treibt das Eis unter dem senkrechten Abbruch wie in einem Grönland-Fjord. Die braungrünen, einsamen Alpmatten steigen zur Linken bis weit in die warmen Farben ungegliederter Granitfluchten hinauf. Über dem jenseitigen Grat rüsten sich weisse Wolkenschiffe zur gemeinsamen Fahrt. In schwerfälligem Laufschritt strebe ich der Telephonstation über der Staumauer zu, derweil mir meine Kameraden den Rucksack nachtragen. Gar nichts, auch nicht der Warnruf eines aufgeschreckten Rotkehlchens, kann meinen wachen Sinnen nach diesem einmaligen Bergerlebnis entgehen.
So haben denn Schatten und Sonnenschein, Nacht, Wind und Nebel unsern Weg durch jene steile Wand in der Eis- und Felswelt am Fusse des Finsteraarhorns zu einem unvergesslichen Bergabenteuer werden lassen.