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Im Reich der Murmeltiere

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Rudolf Schiffer, Freiburg im Breisgau

Von Freiburg im Breisgau, der Schwarzwald-Hauptstadt, sind es nur drei Autostunden ins Engelberger Tal im Herzen der Zentralschweiz. Wie ein gigantischer Dom aus weissem Marmor überragt der 3243 Meter hohe Titlis dieses in grossartiger Hochgebirgsszenerie gelegene Tal. Weil seine weit vorgelagerte Firnkuppe, vom Unterland her gesehen, alle Gipfel der Alpenkette zu überragen scheint, hielt man den Titlis - damals Tuteisberg genannt - in früheren Zeiten für die höchste Erhebung Europas. Dennoch wagten sich mutige Mönche des Klosters Engelberg schon um das Jahr 1743 an seine Erstbesteigung und brachen damit schon früh den Bann, der hohe Berge als Sitz von Geistern und Dämonen umgab.

Heute zählt der Titlis zu den leichtesten Dreitausendern. Stück für Stück hat der Mensch mit seiner Technik den Berg erobert.

Schon seit mehr als einem Jahr ist die letzte Etappe der Luftseilbahn, die - mit der Standseil- Läntahütte mit Rheinwaldhorn Auf dem breiten N-Grat zum Rheinwaldhorn Photos Harald Pfeiffer, Tübingen bahn — 2000 Meter Höhenunterschied in vier Stufen überwindet, fertiggestellt. Ihre riesigen Gondeln fassen bis zu 80 Personen und sind so gross wie Strassenbahnwagen. Vom höchsten Punkt der Seilbahn ist es nur noch eine knappe Stunde Fussweg bis zum Gipfel, von dem aus man einen einzigartigen Blick über die gesamte Alpenkette, vom Appenzeller Land bis Savoyen, geniessen kann.

Als wir an einem der letzten schönen Septembertage des Vorjahres über Steilhänge und Wiesenmulden ins steinerne Reich der Felsen hinauf-schwebten - der türkisfarbene Trübsee, umrahmt von Natursteingärten und hohen Felswänden, lag schon tief unter uns -, da erscholl plötzlich ein Ruf: « Murmeltiere! » Vergessen war im Nu die Grossartigkeit der Zentralalpen, vergessen das technische Wunder der Luftseilbahn; alles starrte gebannt in die Tiefe, wo auf den grünen Höhen-matten zunächst viele Höhleneingänge sichtbar wurden. Dann sahen wir die drolligen Wichtelmännchen der Berge selbst.

Sie schienen keine Furcht vor der grossen Gondel zu haben. Manche rannten ein Stück weit mit, als begrüssten sie eine alte Bekannte, als wäre die Bahn so etwas wie eine Attraktion ihres Reviers. Der Schaffner öffnete ein Fenster der Gondel und pfiff durch die Finger. Tatsächlich bekam er von einem dicken Rammler Antwort: ein helles, schrilles Pfeifen. Manche der Tiere stellten sich auf die Hinterbeine und reckten ihre Köpfe.Vielleicht wollten sie der Gondel zurufen: « Da bist du ja wieder, grosser Vogel! Warte, wir laufen ein Stück mit! » Wir waren so begeistert, dass wir gleich beschlossen, zu Fuss durch dieses Murmelgebiet abwärts zu steigen.

Titlis-Stand in 2450 Meter Höhe war bald erreicht. Nach einer kleinen Höhenwanderung über einen eben an Fels und Karen verlaufenden Panoramaweg machten wir uns bald an den Abstieg, denn der Aufstieg auf den Titlis wurde uns von stark aufkommenden Föhnböen verwehrt. Auf den hohen Alpweiden breitete sich schon die bunte Melancholie des Herbstes aus: rostfarbene Alpenrosenbüsche und gelbe Heidelbeersträucher, vertrocknende Stacheldisteln und spinnwebige Hauswurz auf Felsen und Urgestein. An windgeschützten, sonnenbegünstigten Stellen hatte der Nachsommer noch einmal eine Frühlingsflora hervorgezaubert. Die blauen Sterne des Frühlingsenzians prangten in dichten Gruppen. Purpurenzian allerdings lag richtig in der Jahres- zeit, auch ganze Flächen von dottergelben Arnika und blauen Alpenglockenblumen, manche mit ausgefransten Kelchen.

Weiter unten endlich begann die grosse Mur-melkolonie, vielleicht die grösste der Zentralalpen. Soweit das Auge reichte, waren Mulden und Wiesenhänge mit Löchern bespickt und von Höhlen durchzogen. Auf einem nasenartigen, gras- und moosbepolsterten Felsvorsprung sahen wir urplötzlich einen dicken Kerl liegen. Aufmerksam verfolgte er jede unserer Bewegungen und duckte sich fest an den Wiesenboden. Er schien der Wachtposten der Kolonie zu sein und liess uns ohne Alarm vorüber. Ein anderes Murmel lag direkt vor seiner Höhle in der Sonne. Fast bis auf zehn Meter konnten wir uns heranpirschen, ehe es schnell in der « Röhre » verschwand. Viele weisse Felssteine hatte der Bursche vor dem Eingang aufgeschichtet, der so ein wenig den Charakter einer kleinen Burg hatte. Unterhalb seiner Wohnung, in einem feuchten, moorigen Grund, stand noch grosser blauer Eisenhut. An einer anderen Stelle konnten wir einer ganzen Murmelfamilie, dem Murrnelbär, wie der Vater heisst, und der Murmelkatz, der Mutter, mit zwei molligen, halbwüchsigen Jungen bei der Heuernte zusehen, allerdings in respektvoller Entfernung. Sie alle rupften eifrig dürre Grashalme ab und trugen sie im Maul büschelweise in den Bau. Es schien also schon der Winterbau zu sein, den sie rechtzeitig vorbereiteten.

Im Gegensatz zum kürzeren Sommerbau kann der Winterbau 8—io Meter lang sein; er endet in einem rundlichen Kessel, 1,5-3 Meter unter der Erdoberfläche. In diesem gut mit Heu ausgepol- Sterten Kessel legt sich die Familie, dicht anein-andergedrängt, die Nase zwischen den Hinterbeinen, zum Winterschlaf nieder, nachdem vorher der Eingang von innen 1-2 Meter weit mit Erde, Heu und Steinen gut abgedichtet worden ist. Während des sechsmonatigen Winterschlafs erwachen sie nur alle drei bis vier Wochen vorübergehend zur Harn- und Kotentleerung, nehmen jedoch keinerlei Nahrung auf, sondern leben von dem in den Sommermonaten zugelegten Fettpolster. Die sauberen Tiere benutzen zur Harn- und Kotentleerung einen dafür besonders ausgewählten Nebengang.

Die Körpertemperatur sinkt beim Winterschlaf von etwa 27 bis 31 ° Celsius auf 6-y, die Atmung verlangsamt sich auf t bis g Atemzüge in der Minute.

Unsere eifrige Familie unterbrach bald die Arbeit und ging auf die Nahrungssuche. Zuweilen stellten sich die Kerlchen auf die Hinterbeine und hielten die Kräuter mit beiden Pfoten. Mit der Wintervorbereitung hatten sie es wohl doch noch nicht so eilig.

Wir zogen weiter durch das Murmelgebiet und vergassen bald unsere Vorsicht. Das brachte uns von allen Seiten scharfe Pfiffe ein, und die ganze Gesellschaft lief schon von weitem vor uns davon. Inzwischen waren wir dem Trübsee näher gekommen, das Reich der Murmeltiere lag hinter uns und würde bald unter einer dicken Schneeschicht ruhen bis zum nächsten Bergfrühling.

Fast acht Monate vergingen, ehe wir im Frühsommer ins Murmelgebiet zurückkehrten. Diesmal schwebten wir mit dem Sessellift zum Jochpass hinauf. Dort oben, in 2300 Meter Höhe, lag Mitte Juni noch reichlich Schnee. Skispuren reichten vom Titlis herab bis vor die Station der Sesselbahn. Die Sonne brannte schon früh am Morgen recht heiss vom blauen Himmel herab, und die Schneeflächen reflektierten das grelle Licht in Abertausenden von Kristallen.

Auf der Passhöhe sahen wir bereits das erste Murmeli. Es überquerte mit langen, watscheln- den Sprüngen ein grosses Schneefeld, wo es leicht die sichere Beute eines Adlers, des grimmigsten seiner Feinde, hätte werden können. Aber Adler gibt es nur noch sehr wenige in den Zentralalpen—wohl der tiefere Grund für die rasche Zunahme und Ausbreitung der Murmeltiere in den letzten Jahrzehnten, in denen auch der Mensch ihnen kaum noch nachstellte.

Gejagt wurde und wird das Murmeltier noch wegen seines Schmalzes, das gegen Rheuma, Gicht und Frostbeulen als Einreibemittel verwendet wird; doch ist heute nur noch eine beschränkte Jagd, und zwar vom c. bis 30. September, erlaubt.

Vom Jochpass führte unser Weg über eine der schönsten Alpweiden hinab zum Engstlensee. Statt der stolzen Adler sahen wir im Reich der Murmeltiere nur noch Bergdohlen über die Hänge segeln, und weiter talwärts begleiteten uns Schneefinken und Ringamseln eine Weile. Zwischen den bunt bewachsenen Felsblöcken huschte eine Alpen-Braunelle nahrungsuchend umher. Unsere Murmeli aber waren munter wie eh und je.Viele überraschten wir an den Schneefeldrän-dern, wo sie die frisch aus der Erde spriessenden gelben Triebe der Gräser und Kräuter genossen. Nur widerwillig flohen sie von diesen leckeren Futterplätzen vor uns. Oft waren sie so weit von ihren Höhlen entfernt, dass sie sich zum Schutz nur unter einen Felsen duckten und nach unserem Entfernen schnell wieder zum Schneefeld-rand zurückwatschelten.

Die Schönheit der Frühlingsflora liess uns die Wichtelmännchen zeitweilig vergessen. In verschwenderischer Fülle breiteten sich Frühlingsenzian, grosser stengelloser Enzian mit dicken, dunkelblauen Bechern, viele Primelarten, Hornveilchen und Storchschnabel vor uns aus. Unnennbare Variationen von Blumen und Kräutern boten eine Symphonie der Farben und Düfte. Kaum irgendwo auf der Alpennordseite sieht man noch so viele Alpenrosen,die in immer neuen Gruppen bis an den blauen Spiegel des Engstlen-sees reichen, sich mit Heidelbeerbüschen vereini- gen und tief in die Legföhren- und Arvenwälder hineinwachsen. Steingarten um Steingarten formt sich hier zu einem wahren Gebirgsparadies.

Als wir einmal unsere Blicke in die weitere Runde schweifen liessen, blieben sie auf einem kleinen, unzugänglichen Wiesenplateau an einem Rudel Gemsen hängen. Auch diese Tiere haben kaum noch natürliche Feinde in den Bergen.

An einem steil bis zu einer Felsbarriere hinaufsteigenden Wiesenhang hörten wir plötzlich ein lautes Bellen, Knurren und Brummen. Überlaut scholl es durch die glasklare Höhenluft bis zu den jenseitigen Echowänden. Was war das? Welche Grosstiere konnte es in dieser hohen Bergwildnis noch geben? Zu unserem Erstaunen sahen wir dann zwei Murmeltiere miteinander ringen. Verbissen ging es hin und her, und auf einmal rollten sie den Hang herab, fast dicht bis vor unsere Fusse. Wir standen regungslos. Die beiden Raufer nahmen in ihrem Eifer und ihrer Wut keine Notiz von uns. Sie richteten sich auf und verteilten erneut Ohrfeigen und Boxhiebe, verkrallten sich wieder ineinander und bissen sich fest, dass die Wollhaare nur so stoben. Schliesslich konnten wir uns nicht mehr zurückhalten, denn ihre Bewegungen hatten so etwas urkomisch Menschliches, dass wir laut loslachen mussten. Das ernüchterte die beiden Rammler im Nu, und sie sprangen schnell nach verschiedenen Seiten auseinander. Vergeblich versuchten wir die Ursache des Kampfes zu erforschen. War es Futterneid? Ging es um ein Weibchen? Die Murmel verrieten ihr Geheimnis nicht.

So sehr sich ihre Lebensgewohnheiten auch gleichen mögen, es ist doch jedes Tier für sich eine eigene, kleine Persönlichkeit, die immerhin ein stattliches Alter von 15 Jahren erreichen kann. Wenn wir sie manchmal einzeln auf einem Felsen aufrecht auf den Hinterbeinen stehen sahen, den dicken, rundlichen Kopf mit den kleinen, abgerundeten Ohren und den schwarzen Augen aufmerksam gehoben, die kurzen, kräftigen Vorderbeine mit den starken, gebogenen Krallen wie arbeitsreiche Hände vor sich hinhaltend, in ihrem dunkel-eisengrauen Feil, das in der Sonne glänzte, dann vergassen wir fast ihre Possierlichkeit und standen staunend vor dem ehernen Bild eines freien Wildtieres.

Sein Reich ist die harte Welt der hohen Berge, voll steinerner Unbarmherzigkeit, voll herber Schönheit. Nach langem Winter durchleben sie den kurzen, intensiven Bergfrühling, die hohe Zeit des ebenso kurzen Sommers, und jäh bricht der Winter wieder herein, und der Kreis schliesst sich in ewigem Wechsel.

Wir aber verliessen die Welt der Murmeltiere und stiegen wieder hinab zum Trübsee, von dort auf die grünen, saftigen Wiesen der Gerschnialp, durch Tannen- und Fichtenwald nach Engelberg und schliesslich zurück in die Zone des Laubwaldes, die nach den ursprünglichen Naturgesetzen die Wohnstätte der Menschen ist.

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