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Jean-Jacques Rousseau im Val d'Anniviers

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VON MAX LINIGER

« BRIEFE ÜBER DAS WALLIS » Mit 1 Illustration ( 44 ) Als zu Anfang des Jahrhunderts der hervorragende Lehrer für Völkerkunde Prof. Jean Brunhes seine kurze Studie über die Dörfer des Val d' Anniviers veröffentlichte, die er nachher seiner Géographie humaine einfügte, dachte er sicher nicht im entferntesten daran, dass sich ein Fehler in seine Arbeit eingeschlichen haben könnte, welcher fünfzig Jahre später auf die Spuren Rousseaus führen sollte. Hier die beanstandete Stelle:

« In all ihren Gewohnheiten, in all ihren Vorzügen ist diese Bevölkerung ursprünglich geblieben. Es ist in gewisser Hinsicht ein Winkel aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, der sich hier erhalten hat, und J.J. Rousseau, welcher uns in seinen Briefen über das Wallis die Walliser vor Augen führt und ihre Einfachheit und Gastfreundlichkeit rühmt, würde sich dort heimisch fühlen K » Briefe über das Wallis?

In den verschiedenen Gesamtausgaben von Rousseaus Werken konnte ich nirgends eine solche Schrift finden. Der Zufall kam mir aber wieder einmal zu Hilfe und spielte mir ein paar Tage später eine Broschüre, betitelt Au Val d' Anniviers2, in die Hände. Wie erstaunt war ich, im Kapitel über Sitten und Gebräuche nach einer Lobrede über den « Rèze », den vorzüglichen Gletscherwein, den folgenden Abschnitt zu finden:

« Er ( Jean-Jacques Rousseau ) erzählt in seinen „ Briefen über das Wallis " ein Missgeschick, das ihm im Wallis passierte. Man empfing ihn so freundschaftlich, dass er sich aus lauter Dankbarkeit hinreissen liess, über den Durst zu trinken. Und da er kein Geld hatte, bezahlte er seine Zeche mit dem Verlust seines genferischen Scharfsinns 3. » Auf was für eine Quelle stützen sich wohl diese Zeilen? Der Autor P. de Chastonay gibt, wie viele andere Gelegenheitsautoren, keine Bibliographie an. Ist es eigentlich beschämend, seine Quellen anzugeben? Oder gibt es so viele, die, nach Art unseres Landsmannes Bourrit, bedenkenlos unter ihrem eigenen Namen die Texte anderer wiedergeben?

Nach weiteren Nachforschungen fand ich im Feuilleton des Journal de Genève aus dem Jahre 1887 einen Artikel über die Bewohner des Val d' Anniviers und darin wieder den Refrain: « J. J. Rousseau beklagt sich in seinen Briefen über das Wallis... k », welchen Satz übrigens 1895 der Autor F.O. Wolf im Europe touristique 5 übernommen hat. Auf frühere Jahre zurückgehend, stiess ich im Jahrbuch des SAC 1878 auf einen Text über das gleiche Thema, diesmal in deutscher Sprache s. Dieser Artikel hatte den Vorteil, dass er aus diesem mysteriösen, unauffindbaren Werk, das ich nicht mehr zu entdecken hoffte, ausführlicher zitierte.

Noch früher, im Jahre 1820, war bei Orell Füssli in Zürich ein ganz kleines Bändchen ohne Autorangabe unter dem Namen Helvetischer Almanach 7 erschienen, das ganz dem Kanton Wallis gewidmet war, und in in diesem konnte ich den vollständigen Wortlaut des im Artikel des SAC-Jahrbuches zitierten Textes finden. Im Kapitel über « Gebräuche » wird über die Gastfreundschaft der Anniviarden geschrieben, über Besuche in Walliser Weinkellern, und da heisst es:

« J.J. Rousseau in seinen Briefen über das Wallis rüget, wo er eben so wahrhaft und dankbar von der uneigennützigen und gutmüthigen Gastfreundschaft dieser Alpenbewohner spricht; seine andere Beschwerde betrifft die ungebührliche Länge dieser Gastgebothe, und die Verbindlichkeit der Gäste, mit ihren Wirthen kopfbrechenden Wein an einer Tafel zu trinken, wo kein Wasser aufgetischt wird. „ Aber ", fügt er hinzu, „ wer dürfte wohl so gute Menschen erzürnen?... Ich berauschte mich also aus Dankbarkeit und zahlte meine Zeche, da ich es nicht mit dem Beutel thun durfte, mit meiner Vernunft " B. » 1 Brunhes J. et Girardin P., Les groupes d' Habitants du Val d' Anniviers. Annales de Géographie, Bd. XV, Paris 1906.

2 Chastonay P. de, Au Val d' Anniviers, 2. Ausgabe, undatiert ( ca. 1940 ), St-Maurice.

3 Chastonay P. de, dasselbe, S. 41-42. In den « Alpen » ( Noms des lieux alpins ), Jahrgang XXIV S. 34, schreibt J. Guex: « Ist es nicht etwas unverschämt, wenn ich den Leser veranlasse, mir ins Val d' Anniviers zu folgen? Seit Jean-Jacques Rousseau, dem der Fendant einen üblen Streich spielte... » * 20. und 21. Dezember 1887.

6 Les vallées de Tourtemagne et d' Anniviers, Orell Füssli & Cie. 1895, S. 388.

6 Schiess-Gemuseus, Aus dem Eifischtal, Bern 1878.

7 Helvetischer Almanach für das Jahr 1820, Zürich 1820.

8 Derselbe Helvetische Almanach, S. 376.

Dieser Text aus dem Helvetischen Almanach entpuppt sich als genaue Übersetzung aus dem Essay statistique sur le Canton du Valais, ebenfalls 1820 in Zürich erschienen und unterzeichnet von Doyen Bridel.

Als ich mich nun mit dem Leben J.J. Rousseaus näher bekannt machte und die Reisen dieses Idealisten verfolgte, war ich erstaunt, nirgends etwas von einem Besuch im Tal der Navisence zu finden. Wenn es auch Tatsache ist, dass Rousseau auf der Rückreise von Venedig durchs Wallis gekommen ist, dass er in Sierre haltgemacht und sich fast vierzehn Tage dort aufgehalten hat, so erlaubt doch nichts, anzunehmen, dass ihn seine Wissbegierde zu einem Abstecher ins Val d' Anni-vier geführt habe. Das bestätigt L. Lathion in seiner interessanten Studie über J.J. Rousseau und das Wallis:

« Es ist nicht wahrscheinlich, dass er auf seiner Reise durchs Rhonetal hinab vom Weg abgewichen ist, um einen Abstecher ins Val d' Anniviers zu machen. Es war ihm materiell nicht möglich. Jean-Jacques war am Ende seiner Geldmittel, als er im Wallis ankam 1. » Rousseau war bei seiner Ankunft in Sitten ( ohne dass es die Einheimischen wussten ) froh, dass ihm Herr de Chaignon, ein Franzose, der in dieser Stadt wohnte, seine Gastfreundschaft anbot. Nach diesem Aufenthalt hatte er nie mehr Gelegenheit, das Wallis zu besuchen.

Im Kapitel « Der Brief über das Wallis » in Lathions Schrift bekam ich nun endlich Antwort auf die Fragen, welche mich beschäftigten. Ich erfuhr, dass das Schriftstück, auf das die Legende von den « Briefen über das Wallis » zurückgeht, im ersten Band von Rousseaus Nouvelle Heloise, im dreiundzwanzigsten dieser « Briefe zweier Liebenden » zu finden ist. Geben wir nun dem Dichter selbst das Wort ( Brief von Saint-Preux an Julie ):

« Das einzige, worin ich mir Zwang antun musste, waren die übermässig ausgedehnten Mahlzeiten. Es wäre mir wohl frei gestanden, mich nicht zu Tische zu setzen; aber wenn ich schon an der Tafel sass, so musste ich einen guten Teil des Tages sitzen bleiben und dementsprechend trinken. Kann man sich einen Mann, zumal einen Schweizer, vorstellen, der nicht gern trinkt? Ich gestehe denn auch, dass ich guten Wein zu schätzen weiss und mich gern daran labe, vorausgesetzt, dass ich nicht zum Trinken gezwungen werde. Ich habe immer beobachtet, dass falsche Leute massig sind und dass grosse Zurückhaltung beim Trunke oft genug auf unaufrichtigen Charakter und Doppelzüngigkeit hindeuten. Ein aufrichtiger Mensch braucht jenes ungehemmte Geplauder, die zärtlichen Herzensergüsse, die einem Rausche vorausgehen, weniger zu fürchten. Aber man sollte doch im richtigen Moment aufhören können. Das aber war mir einfach nicht möglich bei so überzeugten Trinkern, wie es die Walliser sind, bei den feurigen Weinen, die es hier gibt und an Tafeln, auf denen man nie Wasser zu sehen bekommt. Wie hätte man sich da so töricht darauf versteifen können, den Braven zu spielen und damit diese guten Leute zu kränken? So betrank ich mich aus Dankbarkeit, und da ich meine Zeche nicht mit dem Geldbeutel begleichen durfte, zahlte ich mit meiner Vernunft. » Lathion knüpft an diesen Brief folgende Überlegungen:... der Brief darf nicht als Dokument aufgefasst werden. Er ist ( was die Beschreibung der Gegend anbelangt ) zu ungenau, als dass man ihm autobiographischen Wert beimessen könnte. Als Rousseau zwölf Jahre, nachdem er die Walliser kennengelernt hat, an sie zurückdenkt, hat er vor allen Dingen eine These aufstellen wollen. Er wollte in ihnen den natürlichen, von der Gesellschaft noch nicht verdorbenen Menschen wiederfinden 2. Wir haben es also hier mit einem « halb voreingenommenen, halb wahrheitsgetreuen » 1 Lathion, L., Jean-Jacques Rousseau et le Valais, Etude historique et critique, Lausanne 1953, S. 191. En Valais avec Jean-Jacques Rousseau, « Die Alpen », Bd. XXV, 1949.

2 Lathion L., dasselbe, S. 84/85.

Text zu tun. Der erste, hier nicht wiedergegebene Teil des Briefes kann sich weder aufs Val d' Anniviers noch auf irgendein anderes südliches Tal des Wallis beziehen. Es könnte sich gut um eine Beschreibung der Simplongegend handeln.

Es ist hier zu betonen, wie sehr die Beschreibung der Berge durch den « Franzosen aus Genf » in Wirklichkeit einfach der Ausdruck einer wahren Bergbesessenheit ist, von der er ergriffen war, sogar wenn er im Ausland weilte. Oft waren seine Kommentare über die Sitten der Bergbevölkerung nur die Gelegenheit für Argumente zur Stützung seiner Thesen über das « zweite Goldene Zeitalter » und für die ursprüngliche Lauterkeit des « Homo alpinus ». Man möge mich nicht falsch verstehen, wenn ich betone, dass Rousseau nur einen verschwindend kleinen Teil seines Lebens in den Schweizer Alpen oder in den Alpen überhaupt zugebracht hat und auch das Wallis mehr aus der Lektüre zahlreicher Bücher als aus eigener Erfahrung kannte 1. Wenn er Gelegenheit gehabt hätte, das Tal der Navisence zu besuchen, so hätte er sicher selbst davon berichtet und die Sitten dieses Tales, die archaischer als irgendwo sonst sind, für seine Theorie ausgewertet.

Bei dieser Gelegenheit ist zu erwähnen, dass die Walliser Gastfreundschaft und die Tugenden des Goldenen Zeitalters besonders durch die Reisenden des 18.Jahrhunderts immer wieder hervorgehoben wurden. So finden wir in den Sketches ofthe natural, civil and political State of Switzerland, von W. Coxe folgende charakteristische Stelle:

« In diesen südlichen Tälern, diesen abgelegenen Winkeln, in die noch wenige Reisende eingedrungen sind, soll man die Einfachheit suchen, die patriarchalischen Sitten, die den Dichter der Julie zu einer der rührendsten Schilderungen inspiriert haben. Dahin haben sich die Tugenden der einfachen Ursprünglichkeit zurückgezogen, die vor unserer Aufklärung geflüchtet sind.... Wenn ihr euch also dieses Bild nochmals vor Augen führen wollt, nicht das Bild des Goldenen Zeitalters und der schönen Natur, sondern der einfachen Natur und der Rechtschaffenheit unserer Vorfahren, so eilt euch, diese bevorzugten Täler aufzusuchen. Bemüht euch aber nicht, nachzuforschen, ob ihnen das übrige Wallis gleicht. Ausser diesen Schlupfwinkeln geht es nämlich auch dort zu wie sonst auf der Welt 2. » Zu Beginn des 17. Jahrhunderts finden wir bei Pierre Davity ( in einer Beschreibung der dreizehn löblichen Kantone ) das gleiche Lied von der ursprünglichen Unschuld in entlegenen Tälern, das sich sehr wahrscheinlich auf die Walliser bezieht, die den Wein lieben, und von dem sich Rousseau weitgehend inspirieren liess. Man urteile selbst:

« Sie geben sich allzu gerne tage- und nächtlangen Trinkgelagen hin und treiben diese üble Gewohnheit so weit, dass sie kein Geschäft abschliessen und keine Freundschaft knüpfen können, ohne bis zur Grenze des Möglichen zu trinken. Je mehr einer trinkt, oder sich gar berauscht, für um so aufrichtiger wird er gehalten und ist mehr geschätzt als der, welcher sich weigert, an diesen Geist und Körper schädigenden Exzessen teilzunehmen. Und man lässt es nicht dabei bewenden, wie in Flandern und den übrigen Niederlanden; sondern, wenn sich einer weigert, sich im Wein zu ersäufen, hält man ihm sogleich das Messer an den Hals, und, was ihm zur Ehre gereichen sollte, wird ein Grund zum Streit 3. » Aber kommen wir auf den Brief über das Wallis zurück, um ein Inventar der begangenen Fehler aufzustellen:

1 Stutzer W '., Jean-Jacques Roussau und die Schweiz. Zur Geschichte des Helvetismus, Diss., Zürich 1950.

2 Lettres de Coxe W. ( französische Übersetzung der Sketches... ) Et augmentées des observations faites dans le même Pays, par le traducteur ( Baron L.F.E. Ramond de Carbonnières ), Bd. II, S. 62/63, Paris 1782.

3 Les Estats, Empires et prinzipautez du monde, S. 833, Genf 1619, erste Ausgabe.

Im Jahre 1820 nennt Doyen Bridel den oben ( S. 101 ) wiedergegebenen Abschnitt: « Brief über das Wallis », und zwar nach einer Quelle, die er sich hütet anzugeben, von der man aber annehmen kann, es handle sich um Bourrit1; 2. 1878 übernimmt Schiess-Gemuseus den Text kritiklos ohne Nachprüfung; 3. 1887 verpflanzt das Journal de Genève durch die Feder von F. O. Wolf die Idee dieser « Briefe über das Wallis » in die Köpfe des grossen Publikums; 4. seit 1895 wird der Irrtum, immer noch durch F. O. Wolf, durch Y Europe touristique in ganz Europa verbreitet; 5. 1906 verbreiten die Professoren Brunhes und Girardin, indem sie sich auf den einen oder andern dieser Vorgänger stützen, die Legende der « Briefe über das Wallis » in französischen Kreisen; 6. gegen 1940 übernimmt P. de Chastonay den Irrtum, wahrscheinlich von Schiess-Gemuseus, andere folgen derselben Spur 2; 7. 1948 macht Jean-Jacques Rousseau, dank J. Guex in den « Alpen », wieder eine vermeintliche Reise ins Val d' Anniviers.

All diese Autoren scheinen, bewusst oder unbewusst, die irrtümliche These des Herrn Bourrit übernommen zu haben 3.

Aber noch ein Fehler, der nicht als gutgläubiger Irrtum entschuldigt werden kann, verdient hervorgehoben zu werden, ein schwerwiegender, da er auch noch den Geist des Briefes XXIII des I. Bandes der Neuen Heloise fälscht. Im Text von P. de Chastonay lesen wir nämlich: « Und da er kein Geld hatte, bezahlte er seine Zeche mit dem Verlust seines genferischen Scharfsinns. » Eine komische Auslegung des Originaltextes! Der ungenannte Übersetzer der 1820 veröffentlichten Arbeit des Doyen Bridel, wahrscheinlich ein Zürcher, scheint die Äusserung des Saint-Preux besser verstanden zu haben: « Ich berauschte mich also aus Dankbarkeit und zahlte meine Zeche, da ich es nicht mit dem Beutel tun durfte, mit meiner Vernunft. » Das ist der wahre Sinn. Wie wir wissen, war Rousseau mittellos, als er in Sitten ankam. In seiner Neuen Heloise gibt er dagegen eine verschönte Erinnerung an seine Wanderung. Es handelt sich hier nicht mehr um ihn selbst, sondern um Saint-Preux, und dieser verfügt über die Börse, die ihm Julie für seine Reise ins Wallis übergeben hat. Er verfügt also über reichliche Mittel, um seine Zeche zu zahlen 4.In seinem Aufsatz Un petit peuple montagnard ( 1887 ) begeht F. O. Wolf, wenn er auch die Legende von den « Briefen über das Wallis » verbreitet, doch nicht den Fehler der falschen Textauslegung.

1 Lathion, L., dasselbe, S. 109: « Übrigens ist der, welcher die Legende von einer Reise Rousseaus ins Val d' Anniviers in Umlauf gebracht hat, wohlbekannt. Es ist der Genfer Marc-Théodore Bourrit, der sich damit nahezu einer Fälschung schuldig machte. Er hatte diese interessante Region kurz vor dem Jahre 1789 besucht und stieg damals bis nach Chandolin hinauf... Während des Marsches glaubte er überall den Spuren Rousseaus zu folgen. Überall bildete er sich ein, in den Fußstapfen seines berühmten Mitbürgers gegangen zu sein, den er übrigens mit seltener Ungeniertheit geistig ausplündert. » Bourrit schreibt direkt: «... c' est ainsi qu' ils avaient reçu Jean-Jacques Rousseau... » Nouvelles descriptions des Vallées de Glace et des Hautes Montagnes qui forment la chaîne des Alpes Pennines et Rhétiennes... Bd. I, S. 197, Genf 1783.

2 Gyr M., La vie rurale et alpestre au Val d' Anniviers ( Valais ). Monographie anniviarde basée sur le patois de St-Luc, Diss., Zürich 1942, hat einfach J. Brunhes kopiert, S. XXXV.

Nussbaum Ch., La vie normale de certaines populations du Valais et ces répercussions sur le service postal, Revue der PTT, Nrn. 2 und 3, Bern 1942, S. 23, kopiert wahrscheinlich P. de Chastonay oder J. Brunhes, Nussbaum Ch., Bonvin R., Mariétan J., Savioz E., Le Val d' Anniviers, 1946, S. 32, kopieren getreu P. de Chastonay.

Guex J. macht den Irrtum ebenfalls mit.

3 In seinem Hauptwerk, Geographie humaine, S. 601, übernimmt J. Brunhes t, Professor an den Universitäten Fribourg und Lausanne, die Legende von den Briefen über das Wallis, indem er den in den Annales de Geographie 1906 veröffentlichten Text gutgläubig wiederholt. In der Ausgabe 1925 korrigiert Prof. Brunhes seinen Text: « Jean-Jacques Rousseau, der uns in seiner Nouvelle Heloise ( I. Teil, Brief XXIII ) die Anniviarden beschreibt... » 4 Lathion L., dasselbe, S. 121.

Als letzter Fehler ist also in unserm Inventar anzuführen: 8. Sogar der Geist des Briefes über das Wallis wird gefälscht. Herr P. de Chastonay konnte ( oder wollte ) den Unterschied von « da ich es nicht durfte » und « da ich es nicht konnte » nicht verstehen.

An einer andern Stelle des berühmten Briefes XXIII weiss Rousseau selbst besser als irgend jemand die den Schweizer Bergbewohnern eigene Gastfreundschaft zu schildern, die, nach Ramond, im westlichen und südlichen Teil des Wallis « in einer besonders zuvorkommenden Art geübt wird, die die Reisenden begeistert 1 ». Lassen wir nun Rousseau, als Hauptbeteiligten, selbst die Irrtümer seiner unglücklichen Interpreten, die wir kennengelernt haben, berichtigen:

« Aber das, was ich ihnen nicht zu schildern vermochte und was man sich kaum vorstellen kann, ist ihre uneigennützige Menschlichkeit, ihre zuvorkommende Gastfreundschaft allen Fremden gegenüber, die der Zufall oder die Wissbegier ihnen zuführen. Wenn ich am Abend in einem Dörfchen ankam, bot mir jeder so diensteifrig sein Haus an, dass mir die Wahl schwer wurde, und der, welcher den Vorzug erhielt, schien darüber so befriedigt, dass ich das erste Mal den Eifer als Geldgier auffasste. Wie erstaunt war ich aber, als mein Wirt, nachdem ich mich bei ihm wie in einer Schenke verköstigt hatte, am andern Morgen mein Geld zurückwies und sich von meinem Ansinnen sogar verletzt fühlte. » Zusammenfassend sei nochmals gesagt, dass die irrtümliche Annahme einer Reise Rousseaus ins Val d' Anniviers seit dem Jahre 1783 Fuss gefasst und sich so schnell und leicht verbreitet hat wie diejenige von der Existenz der Briefe über das Wallis. Was die tendenziöse Interpretation von Rousseaus eigenen Texten anbelangt, sind so viele Beispiele davon bekannt, dass sich niemand mehr über unser Musterehen wundern wird.

Sicher ein unbedeutendes literarisches Geschichtchen! Aber es zeigt uns, wie verbreitet die intellektuelle Unzuverlässigkeit in den verschiedensten Kreisen ist.Übers.: F. Oe. )

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