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Jura und Alpen - Vom Stil der Gebirge

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Von Valentin Binggeli

( Langenthal )

in. Die Alpen

Ich sage also, ein Feind der Natur ist, wer immer die erhabenen Berge nicht eingehender Betrachtung wert achtet. Ist doch das Hochgebirge anscheinend über die Geschicke des Tieflandes erhaben und nicht mehr unsern Witterungsgesetzen unterworfen, gleich als läge es in einer anderen Welt.Konrad GessnerWie die Bildungen der Gebirge ein ausserordentliches Geschehen der Erdgeschichte darstellen, so hatten nachher die Berge ihre besondere Bedeutung in der Geschichte der Menschen. Immer ging eine geheimnisvolle Macht und Anziehungskraft vom Gebirge aus. Nicht immer aber war die Wirkung auf den Menschen die gleiche. Auch in frühen Zeiten verehrte und bewunderte man das hohe und gekrönte Land - aber aus der Ferne! In den unbekannten Höhen - man fürchtete die Besteigung und verbot sie oft sogar, um nicht die Majestät zu erzürnen - glaubten die Menschen das Geheimnis alles Lebens verborgen. Im Berg Olymp sahen die Griechen den Thron ihrer Götter. Auf dem Sinai holte Moses das Gesetz des Volkes Israel. Der Indio in Südamerika blickt in Ehrfurcht auf zum « Taita Rumi2 », zum « Vater Berg », der für ihn furchtbar und gütig, streng und freundlich, hoheitsvoll und gnädig sein kann. Bei primitivem Völkern kann der Berg also selber die Gottheit sein, bei entwickelteren ist er Thron; jedem Gott ein wahrhaft würdiger Thron! Dann war das Gebirge auch das prädestinierte Land, um in den Augen der abergläubischen Menschen Aufenthalt von allerlei Geistern und Gespenstern zu sein, von phantastischen Wesen: Drachen, Riesen, Zwergen ( « Bergmannli » ). Aus Felsformen wurde alles mögliche herausgelesen. Aus der Furcht vor den Ungewissen Mächten des Jenseits wurde die Furcht vor dem Berg. Das Hochgebirge in seiner zackigen, unnahbaren Wildheit und Riesenhaftigkeit, mit seinen ewigweissen Gipfelhäuptern und seinen Gletscherungetümen hatte hier seine besonders schreckende Wirkung. Für den abergläubischen Menschen des Mittelalters war es das « schröckelige Gebürge ».

In unserer realistischeren Zeit hat sich diese Stellung fast ins Gegenteil verändert: Manchem ist der Berg das Liebste und Vertrauteste geworden. Dieser wird oft weniger gefürchtet als die Menschen.

Mancher sucht Erholung und Ruhe in der Bergabgeschiedenheit. Wen einmal der Berg und seine wundersame Einsamkeit angesprochen haben, den rufen sie immer wieder. Ein blendendes Spitzchen blickt über den Wald, Das ruft mich, das zieht mich, das tut mir Gewalt: Was schaffst du noch unten im Menschengewühl? Hier oben ist 's einsam! Hier oben ist 's F. Meyer3 ) In der Gebirgsnation ist die Liebe zum Berg auch die Liebe zum Land und umgekehrt.... Unten am südlichen Horizont zog sich die ganze Alpenkette vom Ortler bis zu den Savoyerbergen wie ein weisser, versilberter Rahmen des buckeligen Schweizer-porträts hin. Der Dunst des heissen Julitages überflimmerte sie leise. Aber man sah das 1 Konrad Gessner: Über die Bewunderung der Gebirgswelt; 1541 ( in Egli: Erlebte Landschaft, Zürich 1943 ).

2 Ciro Alegria: Taita Rumi, Roman aus dem modernen Peru. Büchergilde Gutenberg, Zürich 1945.

3 C. F. Meyer: Das weisse Spitzchen.

Die Alpen - 1953 - Les Alpes26 tausendfache und doch so ewigruhende Durcheinander dieser Riesenfamilie mit ihren felsgrauen oder schneehellen Scheiteln noch wirksam genug - Herr, du mein Gott, so viele Berge gehören uns! Dem Mang lachte das Herz... ( Heinrich Federer x ) In den Alpen tritt uns eine unermessliche Fülle von Erscheinungen jeglicher Art entgegen. Diese Mannigfaltigkeit ist begründet im komplizierten und zusammengedrängten Alpenbau und in der reichen Vielfalt der Bausteine.

In diesem grössten und schönsten Hochgebirge Europas winkt uns eine Fülle von Naturerscheinungen, die den Sinn auf das Ganze der Natur hinlenken; belauschen wir den Menschen in solch innigem Zusammenleben mit der Natur, dass wir hier allein schon ein Stück von dem zu gewinnen hoffen dürfen, was man als Weltschauung be-zeichnet.Hermann Walser2 ) Der Gedanke, dass durch die Alpenfaltung Gesteinsteppiche auf einen Zehntel ihrer ursprünglichen Ausdehnung zusammengerafft worden sind, lässt uns die Gewalt der gebirgsbildenden Kräfte erleben. Dieser Schöpfungsakt übertrifft in seiner Grösse die allgemeinen menschlichen Vorstellungskräfte. Das Werden der Alpen aber ist der entscheidende Anfang jener Naturvorgänge, die der Schweiz ein bestimmtes äusseres Bild gegeben und eine innere Wesensart vorgezeichnet haben.Emil Egli 3 ) Das Werk der endogenen Kräfte, das komplizierte Gebäude mit den verschiedensten Gesteinen, wurde durch die exogenen Einwirkungen noch reicher ausgestaltet; aus der Kompliziertheit des Gefüges und Gesteinsmaterials ergab sich auch ein wundervoller Reichtum der Formen. Fast jeder Gipfel, jedes Tal hat seine ureigene, alleinige Gestalt. Neben dem fliessenden Wasser wirkten hier auch die Gletscher, formten und überformten grosse Flächen. Im Jura haben die wenigen glazialen Formen kleinsten Einfluss auf das Landschaftsbild. Das alpine Bild aber ist ein buntes Zusammenspiel, ein Mit- und Durcheinander-wirken von fluvialen und glazialen Formen.

Fülle und Kompliziertheit des anorganischen Grundes bedingten letztlich auch die Vielfalt in der lebenden Welt: Flora, Fauna, der Mensch, seine Lebensart, seine Arbeit, seine Gedanken, seine Sprache, seine Sitten und Gewohnheiten.

Jeder Blick in die alpine Welt zeigt uns Reichtum der Erscheinungen: schauen wir in die Täler, blicken wir auf ins Reich der Felsen- und Eishäupter. Unzählbar die Gipfel, Grate, Scharten, Runsen; unzählbar die Falten, Fältelchen, die verschiedenen Gesteine; mannigfach die Formen und Gestalten; mannigfach die Blumen und die Tiere, der Mensch und seine Lebensformen, Sprachen und Gebräuche.

Die eigenartige Macht des Hochgebirges über den Menschen ist im besonderen begründet in dessen Grösse und Gewaltigkeit und in seinem « grossen stillen Leuchten ».

( C. F. Meyer4 ) Die Höhe ist Bedingung für den ewigen Schnee, für das Firnelicht. In Not, in Freude und in Dankbarkeit, staunend, suchend, sich sehnend schaut der Mensch auf zu diesem hohen Licht. Himmelnah, erscheint es wie irdischer Schein überirdischen Lichtes. Flimmernde Schneefelder und Eiswände der Alpen - schimmernde Edelsteine in der höchsten Krone Europas. Gletscher und ewiger Schnee sind nicht nur Charakteristika der alpinen 1 Heinrich Federer: Berge und Menschen; 1911.

2 Hermann Walser: Die Schweiz, Begleitwort zur eidgenössischen Schulwandkarte; Bern 1908.

3 Emil Egli: Die Schweiz; Bern 1947.

4 C. F. Meyer: Firnelicht.

Bergwelt, sie sind auch deren letzte, einzigartige Krönung - und sind das natürliche Hoheitszeichen unserer Gebirgsnation.

Aus dem mächtigen Alpenkörper der tertiären Orogenèse haben Erosions- und Ver-witterungskräfte in teils ruhiger, zielsicherer, teils katastrophaler, zerstörender Zusammenarbeit das heutige Bildwerk gehauen. Die wuchtigen Wände, die machtvollen Pyramiden, die tiefen Talrinnen, die ganze gigantische Gewaltigkeit ist in der Hauptsache das Verdienst der Erosion, die mit schwerem Meissel die Großskulpturformen schneidet.

Aufstreben, ungehemmt sich in die Höhe schwingen, Fesseln zerreissend, Grenzen überbordend sich emporringen, unermesslich, himmelan, das ist alpiner Sinn. Es ist eine Art « Mass des Übermenschen », mit dem gemessen wird. Nichts ist hier zu hoch und fern, um nicht erreicht zu werden. Das Mass ist Macht - der Weg Kampf, Aufstieg - das Ziel Eroberung des Letzten und Höchsten. Niemandem nachgeben, jeglichem trotzen, ist die Parole. Die Alpen sind zu vergleichen mit dem aufstrebenden Menschen, dem nur in Ringen und Erringen das Leben lebenswert erscheint; für besinnliches Schauen und ruhende Befriedigung ist wenig Platz vorhanden. In die Höhe, in die Weite, mit Gewalt und Macht! Das scheinen die himmelanstürmenden Zacken und Grate uns zuzurufen.

Im Gedicht ist unvergleichlich dargestellt, wie Wucht und Schwere und Gewaltigkeit des Bergleibes gemindert und zur wahren Grösse erhoben werden durch das Firnelicht.

Der Berg Riesig lastet der Leib, gross, breit, schwer. Nacht im starren Geäst, schlummert der Bäume Heer. Grat und Runsen strahlen empor im Doppellauf. Keuchend die letzten Föhren kriechen die Gräte hinauf. Blöcke steigen heraus. Felsen wachsen hervor. Wand über wuchtigen Wänden stürmt zum Himmel empor. Über klaffenden Schrunden steigt der ewige Firn. Mächtig in reiner Schönheit leuchtet die Strahlenstirn. Gott, der lächelnd über die lichten Firne schreitet, Hat das ewige Licht herrlich ausgebreitet.Hans Rhyn ) Wenn der junge Berggänger zum erstenmal vom erklommenen Alpengipfel aus das Heer der Zacken, Spitzen, Zähne, Pyramiden erblickt, so wird er erst meist stumm vor Staunen und Überraschung. Besonders für den « Unterländer » ist diese reiche Vielfalt, dieses Heer von Fels- und Eisgestalten etwas ganz Neues und Grossartiges. Im Vordergrund meines mächtigen Eindrucks damals stand ein Vergleichsbild: ein gotischer Dom, ins Riesenhafte, Unermessliche geweitet. Wenn ich damals in meinem Bilde die unzähligen Spitzen und Zacken des Gebirges in ihrem unbemessenen Aufstreben dem Reichtum an Türmen und Türmchen eines gotischen Bauwerks gegenüberstellte, so sehe ich heute noch andere Äquivalenzen, die den Vergleich erweitern und kräftigen: Neben dem Reichtum und der Fülle an Gestalten und Formen sind am eindrucksvollsten die aufstrebenden Linien: gotische Türme, Träger, Säulen, Streben, Spitzdächer; gotische Spitzfenster mit ihren stolz und eigenmächtig sich aufschwingenden Bogen. Die mannigfach ausgestalteten Gipfel und Täler, die reich ziselierten Wände der Alpen sind Beispiel vollkommenster gotischer Architektur. Stichworte wie Fülle, Mannigfalt, Unersättlichkeit, aufgelöste Flächen, selbstbewusstes Vordringen furchtlos himmelwärts, die den Stil des Bauwerks Alpen zeichnen, sind Charakteristika des gotischen Baustils.Gigantische Gotik der Alpen!

Himmelsnähe In meiner Firne feierlichem Kreis Lagr'ich an schmalem Felsengrate hier. Aus einem grün erstarrten Meer von Eis Erhebt die Silberzacke sich vor mir.

Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall; Er stäubt und stürzt, nun rechts, nun links verweht, Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall, Ein Wind, ein Strom, ein Atem, ein Gebet!

Nur neben mir des Murmeltieres Pfiff, Nur über mir des Geiers heisrer Schrei.

Ich bin allein auf meinem Felsenriff, Und ich empfinde, dass Gott bei mir sei.C. F. Meyer ) Aus diesem Alpengedicht spüren wir heraus eine majestätische Grösse. Das Gebirge ist hier nicht bloss Hochheit, es ist auch Hoheit. Am eindrucksvollsten wird die erste Zeile sein: « In meiner Firne feierlichem Kreis... » Der Blankvers schreitet ruhig und pathetisch. Aus Hochheit und Hoheit des Gebirges strömt ein Hauch des Ewigen; Berge, irdische Pfeiler des himmlischen Thrones! In himmelsnaher Höhe steigen unsere Gedanken immer wieder suchend weiter auf zu Höchstem, dem Unendlichen, Unbegreiflichen...

Alpines Wesen ist hart und unerbittlich. Aber die Gipfel sind Gleichnis des Gerechten und Aufrechten. Konventionelle Hintertürchen gibt es keine, Kompromisse werden nicht geschlossen. Grad von Grund auf steht der Berg als Sinnbild der Aufrichtigkeit. Er kann schrecklich, unbarmherzig und freundlich, liebevoll sein, immer aber ist er offen und ohne Heimlichtuerei. Er duldet weder Weichlinge noch freundlich falsche Diplomaten. Der Berg heisst Kampf, der Berg heisst Gradheit und Aufrichtigkeit. Als « höchstes, härtestes Urgebirge » ist er Nietzsche Boden der Wahrhaftigkeit. Als hohes, hartes Urgebirge fordert er auch hohe, harte Menschen.

Steig'oh Seele, mit diesen Trutzigen Urweltriesen!

Recke dich!

Strecke dich!

Wie ihr entschlossen Seid emporgeschossen, Das Steinherz in der Brust, Das zu sehen ist Lust.

Ihr seid nicht höflich und fein:

Ihr lüget nicht, weich zu sein; Euch macht nicht Sorge und Rücksicht bang; Ihr bücket euch nicht; ihr fraget nicht lang; Die Losung heisst: « Durch! » Die Losung heisst: « Kraft! » ( Fr. Th. VischerDie wildeste Bergwelt treffen wir in Kristallingebieten. ( Das Kalkgebirge steht hier demnach von Geburt den Alpen nach. ) Albert Heim nannte die Penniden treffend « kristal- 1 Fr. Th. Vischer: Im Hochgebirge.

line Decken ». Und in der Tat finden wir in diesen kristallinen Schieferzonen das wohl wildeste der Alpengesichter.

Reden wir in der Geologie auch vom ausgemergelten Greisenantlitz der Alpen, so zeigen doch in ihrem Wesen die alpinen Berggestalten starke Züge einer Jugendlichkeit: jäh auffahrend - zackig, schartig, rauh und hart - trotzig sich aufbäumend - frei und weit, schrankenlos sich aufwärts schwingend, unersättlich, unermüdlich, flammengleich!

Jugendliche Wildheit der Alpen!

Das Hochgebirge ist überstrahlt von seinem Licht: vom « grossen stillen Leuchten ». Der helle Glanz des Firnelichts bestimmt weitgehend die alpinen Farben. Auch dunkle Felsen werden in den Schein getaucht. Die Farbigkeit des Hochgebirges ist deswegen stark beschränkt. Buntheit vermag den Glast oft gar nicht zu durchdringen und bleibt gedämpft. Was wirkt, das ist das Blendende; die Farben sind auf weiss und blau vereinheitlicht; durch Überstrahlen werden bunte Farben angeglichen. Es ist nicht verwunderlich, wenn oft Menschen vom Hochgebirge einen harten, kalten Eindruck erhalten; es wehen nicht nur Schnee-und Gletscherluft in dieser Empfindung: Härte und Kälte sind auch begründet in den Farben der Alpen.

Als Musik der Meister tönen mir die Alpen. Kraftvoll, mächtig klingen ihre Harmonien wie in einer grossen Sinfonie - dem Werk eines klassischen Meisters. Gleich den Alpen schwingt in diesen wuchtigen Akkorden der Geist des Komponisten sich zum Höchsten empor. Aufsteigend erschallen die Töne des Alpenchorals - Vollendung, Hoheit, kristallene Klarheit -, erhebt sich die gewaltige Sprache der Alpen.

Klassik der Alpen als Dichtung und Musik!

Der Berg ist seinen Menschen Freund und Feind zugleich. Er formet Werk und Leben seiner Menschen. So leben diese mit ihm ewig in Zusammenarbeit und Kampf. Dieser Kampf führt aber nicht zur Trennung, sondern bringt Berg und Mensch immer neu miteinander in Berührung - das enge Zusammenleben führt zu inniger Freundschaft und treuer Verbundenheit.

I de Flüehne ist mys LabeWo-n-es alle Möntsche graset, U-n-im Tal tue-n-i ke Guet.Wo kei andre düre cha, Andri wehre mir 's vergäbe:Unter mir d's Waldwasser bruset, « Gang doch nit! !'s ist G'fahr um d's Labe! » Gletscherluft dür d's Haar mir suset, O ihr liebe guete Lüt,Obe-u-unte - z'ringsum Flueh, Eues Sage nützt hie nütGah-n-i früsch und fröhlich zue!

( Gotti. Jak. Kuhn x ) Die mannigfache Verschnittenheit der alpinen Gebirgslandschaft ergibt die grosse Vielheit einzelner, abgeschlossener Talschaften. Besonders in früheren Zeiten bestand selten engere Verbindung zwischen den Leuten verschiedener Täler.

Das einzigartige Mosaik besonderer Eigenarten jedes einzelnen der vielen Täler ist lebensvolles Zeichen der alpinen Mannigfaltigkeit. Die farbigsten Grundsteinchen dieses Mosaiks wurden in alter Zeit gesetzt, als jedes Tal für sich ganz abgeschlossen eine kleine Welt war. Auch heute, im Zeitalter des Verkehrs und der Geschwindigkeit, ist dieses Phänomen noch überall zu bemerken. In dieser kleinen Welt sind wie nirgends anderswo die Be- 1 Gotti. Jakob Kuhn: Der Gemsjäger.

wohner aufeinander angewiesen. Darum kennen sie sich alle, haben gleiche Gewohnheiten, die in steter Wiederholung zur festen Tradition erhärten. In der Verschiedenartigkeit von Umwelt, Lebensformen und Gedanken liegt der Grund, dass jedes Tal seine Sitte, seinen Brauch einschliesst; diese gehören wie Fluss und Fels zum Bild des Tales. Den Menschen lässt die Einsamkeit und Enge verstummen und sich verschliessen. Im Tal ist alles alt und hergebracht; was neu auftaucht, schaut er von allen Seiten skeptisch an und in Zurückhaltung. Sein Konservativismus aber ist nicht Geistesenge, kleinliches Festklammern an altem Gut oder Gedanken, er entspringt der innigen Verbundenheit mit Grund und Boden, ist Liebe und Vertrauen zu den Vätern, ist Pietät gegenüber ihren Werken.

Im harten Kampf mit dem harten Berg erstarkt der Gebirgsbewohner an Leib und Seele. Die Gefahren fordern einen unerschrockenen, zähen Menschenschlag: Föhnnacht, Wildbach, Felssturz, Lawine.

Der Berg ist aber auch der Vater seiner Menschen, ihr Ernährer. Er ist direkt und indirekt ihr Arbeitgeber. Direkt: Strahler, Wasserkraftwerke. Indirekt: Bergführer, allgemein im Fremdenverkehr. Der Berg ist Herkunft und Ziel der Menschen, er ist Erbauer und Zerstörer, er ist geliebte Erde und gefürchtete Gewalt.

Der Berg ist seinen Menschen Gott und Teufel. Der Berg ist ihr Abend und ihr Morgen, ihr Licht und ihre Dunkelkeit, ihr Gedanke, ihre Tat; er ist ihr Leben schlechthin.

... Gegen Mittag sieht man von dem Dorfe einen Schneeberg, der mit seinen glänzenden Hörnern fast oberhalb der Hausdächer zu sein scheint, aber in der Tat doch nicht so nahe ist. Er sieht das ganze Jahr, Sommer und Winter, mit seinen vorstehenden Felsen und mit seinen weissen Flächen in das Tal herab. Als das Auffallendste, was sie in ihrer Umgebung haben, ist der Berg der Gegenstand der Betrachtung der Bewohner, und er ist der Mittelpunkt vieler Geschichten geworden. Es lebt kein Mann und kein Greis in dem Dorfe, der nicht von den Zacken und Spitzen des Berges, von seinen Eisspalten und Höhlen, von seinen Wassern und Geröllströmen etwas zu erzählen wüsste, was er entweder selbst erfahren oder von andern gehört hat. Dieser Berg ist auch der Stolz des Dorfes, als hätten sie ihn selber gemacht, und es ist nicht so ganz entschieden, wenn man auch die Biederheit und Wahrheitsliebe der Talbewohner hoch anschlägt, ob sie nicht zuweilen zur Ehre und zum Ruhme des Berges lügen. Der Berg gibt den Bewohnern ausser dem, dass er ihre Merkwürdigkeit ist, auch wirklichen Nutzen; denn wenn eine Gesellschaft von Gebirgsreisenden hereinkommt, um von dem Tale aus den Berg zu besteigen, so dienen die Bewohner des Dorfes als Führer... Dann sendet der Berg von seinen Schneeflächen die Wasser ab, welche einen See in seinen Hochwäldern speisen, und den Bach erzeugen, der lustig durch das Tal strömt, die Brettersäge, die Mahlmühle und andere kleine Werke treibt, das Dorf reinigt und das Vieh tränkt. Von den Wäldern des Berges kommt das Holz, und sie halten die Lawinen auf. Durch die innern Gänge und Lockerheiten der Höhen sinken die Wasser durch, die dann in Adern durch das Tal gehen, und in Brünnlein und Quellen hervorkommen, daraus die Menschen trinken und ihr herrliches, oft belobtes Wasser dem Fremden reichen. Allein an letzteren Nutzen denken sie nicht und meinen, das sei immer so gewesen...Adalbert Stifter x ) Das hohe Licht vom Berge leuchtet uns als Licht der Freiheit. Der Berg ist seinem Volk nicht bloss Symbol der Freiheit, er wird ihm auch zum Gegenstand und Pfand der Freiheit. Der Berg ist seinem Volk Mitkämpfer im Freiheitskampf: Morgarten. Wir spüren aus dem 1 Adalbert Stifter: Bergkristall; Basel 1909.

JURA UND ALPEN - VOM STIL DER GEBIRGE Gebirgsvolk etwas heraus wie Berggeist: Wille zu Freiheit, zäher Widerstand gegen Bezwingung! Der Bergbewohner strebt und schaut zu seinem Vorbild und Verbündeten auf, er will sich diesem würdig erweisen. Er will « lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben ». Der Freiheitsgedanke scheint in ihm am stärksten zu leben; denn in ihm richtete er sich immer wieder auf. « Im Hochland fiel der erste Schuss!... » Der erste Schuss für die Freiheit, für die freiheitliche Selbstregierung des Volkes. Auch heute bedeuten die Alpen Rückgrat schweizerischer Freiheit und Unabhängigkeit, letzter Wille und Glaube: das Réduit, die Gotthardfestung. Wir denken an Gottfried Keller: Unser Alpenland, seine Mannigfaltigkeit in der Einheit ist die rechte Schule für Freundschaft und Freiheit1.

So kann der Teil, diese Verkörperung von Liebe und Wille zur Freiheit, auch gar nicht anderswo gedacht werden als zwischen Firn und Felsen.

Teil: Siehst du die Firnen dort, die weissen Hörner, Die hoch bis in den Himmel sich verlieren? Walter: Das sind die Gletscher, die des Nachts so donnern Und uns die Schlaglawinen niedersenden. Teil: So ist 's, und die Lawinen hätten längst Den Flecken Altdorf unter ihrer Last Verschüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr sich dagegen stellte. Walter: Gibt's Länder, Vater, wo nicht Berge sind? Teil: Wenn man hinuntersteigt von unsern Höhen Und immer tiefer steigt, den Strömen nach, Gelangt man in ein grosses ebnes Land, Wo die Waldwasser nicht mehr brausend schäumen, Die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn; Da sieht man frei nach allen Himmelsräumen, Das Korn wächst dort in langen schönen Auen, Und wie ein Garten ist das Land zu schauen. Walter: Ei, Vater, warum steigen wir denn nicht Geschwind hinab in dieses schöne Land, Statt dass wir uns hier ängstigen und plagen? Teil: Das Land ist schön und gütig, wie der Himmel, Doch die 's bebauen, sie geniessen nicht Den Segen, den sie pflanzen. Walter: Wohnen sie Nicht frei wie du auf ihrem eignen Erbe? Teil: Das Feld gehört dem Bischof und dem König. Walter: So dürfen sie doch frei in Wäldern jagen? Teil: Dem Herrn gehört das Wild und das Gefieder. Walter: Sie dürfen doch frei fischen in dem Strom? Teil: Der Strom, das Meer, das Salz, gehört dem König. Walter: Wer ist der König denn, den alle fürchten? Teil: Es ist der eine, der sie schützt und nährt. Walter: Sie können sich nicht mutig selbst beschützen?

1 Gottfried Keller: Das Fähnlein der sieben Aufrechten.

Teil: Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen. Walter: Vater, es wird mir eng im weiten Land; Da wohn'ich lieber unter den Lawinen. Teil: Ja, wohl ist 's besser, Kind, die Gletscherberge Im Rücken haben als die bösen Menschen.

( Friedr. SchülerNoch einmal schauen wir auf zum hohen Licht unserer Berge. Zu Teils Gestalt gehören Granitgebirg und Gletscher - zu unserm Bild der Freiheit stellt sich auch der « liebe blaue Berg 2 » und jeder kleine Hügel, jedes kleine Tal des kleinen Landes. In äusserlicher Schweizer Kleinheit sei das hohe Licht uns Sinnbild innerer Grösse. Sei uns das hohe Licht auch mehr denn nur Symbol der vaterländischen Freiheit, sei es auch Zeichen unserer geistigen Freiheit und Weite.

IV. Alpen und Jura - Quintessenz Hauptmerkmale des alpinen Stils wären demnach: Fülle, Kompliziertheit, Grösse und Gewaltigkeit. Die Sprache der Alpen tönt kraftvoll und bestimmt, oft hart in jugendlicher Wildheit, oft feierlich in majestätischem Pathos. Sie klingt als Dichtung und Musik in kristallener Klarheit der Klassik.

Gigantische Gotik der Alpen!

Hauptmerkmale des jurassischen Stils: Einfachheit, Bemessen- und Bescheidenheit. Seine Sprache fliesst in melancholisch anmutender Monotonie. Unbestimmt, oft hell und klar, dann verschleiert, dunkel, ist sie vergleichbar einer romantischen Träumerei. Warm in Farbe, weich in Formen. Wie kluge Ausgeglichenheit des reifen Menschen, ein Geist, nicht kleinlich, sondern grosszügig in weitem Schwung.

Ruhige Romantik des Juragebirges!

Die Alpen: Gleich Schaumkronen, Gischt eines stürmischen Meeres, so branden die Gipfel und Gletscher empor.

Der Jura: Ruhig ist der Sturm geworden - Rücken, Ketten ziehen sich wie weite Wellen hin.

Als zu irdischen Pfeilern des Himmels dürfen wir zu den Gebirgen wohl aufschauen als zu würdigen Wegweisern in unserem Leben: die Alpen sind uns Vorbild des Strebens und Erringens, der Jura weist uns hin auf Ruhe und besinnliche Beschaulichkeit.

So sollten wir denn doch als letzte Quintessenz unserer stilistischen Landschaftsbetrachtung dies eine als gewiss und sicher sehen: wer einen Berg nur kennt, hat das Letzte nicht gewonnen. Der Berg ist nicht bloss Biotit und Gletscherkar und Transhumanz: erscheinungs-reiches Untersuchungsobjekt. Er ist auch Schönheit, Leben - und wahres Wissen besteht demnach nicht nur im Kennen, sondern auch im Schauen und Erleben einer Landschaft.

1 Friedrich Schiller: Wilhelm Teil.

2der Jura; Gotthelf: Leiden und Freuden eines Schulmeisters ( Erster Teil ).

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