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Kampf um den Peutereygrat

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

1Von Richard Hechtel

Mit 5 Bildern ( 15-19Herrlingen/Ulm ) Die Zeit rast - die Technik ist unser Gott geworden. In ihrer stürmischen Entwicklung, die keinen Augenblick stillsteht, hat sie auch das Bergsteigen ergriffen. Durch eine bedenken-lose Anwendung der modernen technischen Hilfsmittel wurden die Grenzen des Möglichen von Jahr zu Jahr weiter hinausgeschoben. Gibt es noch eine Wand, die als unmöglich gilt? Was gestern noch die schwerste Kletterfahrt in den Alpen war, ist heute schon zur Modetour herabgesunken, die man gemacht haben muss, ehe man den Kinderschuhen des Bergsteigens noch recht entwachsen ist. Eine Inflation der Schwierigkeitsbegriffe ist über uns gekommen.

Und doch gibt es noch ein paar Bergfahrten in den Alpen, die ihren Glanz und Nimbus unverändert bewahrt haben, trotz sesto grado und Hakenleitern und obwohl seit ihrer ersten Eroberung ein halbes Jahrhundert oder mehr vergangen ist. Eine von jenen Bergfahrten, die immer noch zu den vornehmsten Zielen jedes Bergsteigers zählen und über allen eisengespickten Wänden stehen, ist der Peutereygrat auf den Mont Blanc. Gibt es einen Grat, der schöner und gewaltiger wäre als der Peutereygrat? Im Himalaya vielleicht! Einst galt er als das grösste Unternehmen in den Alpen - ich glaube, der vollständige Peutereygrat ist es heute noch.

Die Geschichte des Peutereygrates beginnt ungewöhnlich früh, so wie die Ersteigungsgeschichte des Mont Blanc selbst in eine Epoche zurückreicht, da die Entwicklung des Alpinismus noch kaum begonnen hatte.

Bereits im Jahre 1877, zwölf Jahre nach der Eroberung des Matterhorns, wagt sich der Engländer J. Eccles mit den Führern Michel-Clément und Alphonse Payot über den nach ihm benannten Col Eccles auf das obere Plateau des Frêneygletschers und steigt von dort durch ein Couloir zum eigentlichen Peutereygrat hinauf, den er am Beginn der Gipfelwand des Mont Blanc de Courmayeur erreicht. Die erste Bresche in das Bollwerk war geschlagen, wenngleich vom Peutereygrat selbst nur ein kleines Stück begangen worden war.

Den nächsten Schritt zur Eroberung des grossen Grates, die sich in mehreren Etappen vollzog, tat Georg Gruber mit dem berühmten Führer Emile Rey und mit Pierre Revel im Jahr 1880. Gruber erreichte den Col de Peuterey unmittelbar vom Frêneygletscher aus, auf einem Weg, der heute ebenso ungebräuchlich ist wie der von Eccles, und verfolgte anschliessend den Peutereygrat bis zum Gipfel des Mont Blanc.

Mit diesen beiden für die damalige Zeit unerhört kühnen Unternehmungen war zwar die obere Hälfte des berühmten Grates begangen, doch fehlte noch das entscheidende Stück, die vorangehende Überschreitung der Aiguille Blanche.Vorerst war dieser Gipfel noch jungfräulich - glückliche Zeit, mag der Bergsteiger von heute denken, da es noch unerstiegene Viertausender vom Range einer Aiguille Blanche in den Alpen gab.

Im Jahre 1885 fällt die weisse Nadel unter dem Ansturm von Seymour King und den Führern Emile Rey, A. Supersaxo und A. Anthamatten. Wieder acht Jahre später gelingt die grosse Tat. Paul Güssfeldt besteigt mit den Führern Emile Rey - wieder finden wir Emile Rey an der Spitze -, Christian Klucker und César Ollier die Aiguille Blanche auf neuem Wege, überschreitet den Col de Peuterey und betritt am vierten Tage den Gipfel des Mont Blanc. Jahrzehnte hindurch bleibt diese Bergfahrt ohne Gegenstück in den ganzen Alpen - ein Ziel für die Elite der europäischen Bergsteigerschaft. Nur wenige fühlen sich der aussergewöhnlichen Länge und den Schwierigkeiten dieses Unternehmens gewachsen -in dreiunddreissig Jahren sind es insgesamt fünf Seilschaften, die auf Güssfeldts Weg den Die Alpen - 1955 - Les Alpes4 Gipfel des Mont Blanc erreichen. 1927, das Geburtsjahr des « modernen » Peutereygrates. Die Österreicher Obersteiner und Schreiner benutzen erstmalig den Preußschen Weg über den Südostgrat als Anstieg auf die Aiguille Blanche. Der neue Weg ist schöner und sicherer als der alte, und die Zahl der Begehungen des Peutereygrates steigt sprunghaft an. Fast alle Seilschaften in den nächsten Jahren folgen dem Beispiel von Obersteiner und Schreiner, der alte Güssfeldtsche Weg durch die steinschlaggefährdete Nordostflanke gerät allmählich in Vergessenheit.

Ist damit alles getan, sind alle Blumen gepflückt, alle Lieder verstummt? Geht unsere Jugend gebückt und vermummt einher, weil nichts mehr für sie zu tun bleibt? Nein, das tut sie nicht. Sie hält nach neuen, noch grösseren Problemen Ausschau. Sie braucht nicht lange zu suchen. Da steht noch ein mächtiger Felsobelisk als einsamer Wächter am Beginn des Peutereygrates, nahe an die Viertausendmetergrenze aufragend, die Schwarze Nadel von Peuterey. Sie müsste man noch überschreiten, das wäre erst der vollständige Peutereygrat... Das grosse Fragezeichen dieses Weges ist die noch unbezwungene Nordkante der Aiguille Noire, die in schauerlichen Plattenfluchten und Überhängen zur Brèche Sud bei den Dames Anglaises abstürzt. Es bedarf eines aussergewöhnlichen Wagemutes, sich an dieses Problem im Abstieg zu wagen. Zwei Münchner, meine Jugendfreunde Göttner und Schmaderer, deren glanzvoller Weg vom heimatlichen Fels über die Dolomiten und Westalpen zu den Eisriesen des Kaukasus und Himalaya führte, sind bereit, das Wagnis einzugehen. Mit dem Österreicher Krobath als drittem im Bunde rüsten sie im Jahr 1934 zu dem grossen Unternehmen, das sie mehr als eine Woche in ihrem Bann halten sollte. Am ersten Tag steigen sie über den Mont Noir hinauf zur Aiguille Noire, der zweite Tag ist mit verwegenen Abseilmanövern ausgefüllt, der dritte verstreicht mit der Umgehung der Dames Anglaises. Der Erfolg scheint ihnen sicher, als am vierten Tag der gefürchtete Wettersturz eintritt. Sie kämpfen sich dennoch durch zum Gipfel des Mont Blanc und zur Vallothütte, wo sie zwei weitere Tage Gefangene des Schneesturms sind.

Der vollständige Peutereygrat ist noch kaum bezwungen, so wird im Kreise der Zünftigen ein noch grösseres und schwierigeres Problem diskutiert: Schmaderer und Göttner haben die Aiguille Noire auf dem leichtesten Weg, über den Südostgrat, erreicht. Nun müsste man sie über den ungleich längeren und schwierigeren Südgrat erklettern und die Überschreitung bis zum Mont Blanc fortsetzen. Anfangs galt der Plan als völlig utopisch, man sprach von einer ganzen Woche ständig guten Wetters, die man brauchte. Später begann trotz alledem der eine oder andere das Problem ernsthaft zu studieren -, doch ich will nicht vorgreifen.

Schon im Jahr 1935, ein Jahr nach der ersten Begehung, führen die Freiburger Gaiser und Lehmann die zweite Begehung des vollständigen Peutereygrates durch. Auch Gaiser und Lehmann brauchen vier Tage und müssen dreimal biwakieren. Sie sind bis heute die einzigen geblieben, die diese Fahrt wiederholt haben.

Noch im gleichen Jahr unternehmen R. Peters und M. Maier nach ihrem grossartigen Sieg über die Nordwand der Grandes Jorasses den ersten ernsthaften Versuch, den vollständigen Peutereygrat mit dem Südgrat der Aiguille Noire zu verbinden, werden aber in der Brèche Sud durch schlechtes Wetter zur Aufgabe gezwungen.

1937 wagt sich ein Alleingänger an den Peutereygrat - mit Erfolg.

Dann wird es für eine Weile still in den Bergen, die Menschheit hat wieder einmal begonnen, sich zu morden. Als der Lärm der Waffen verstummt ist, werden alsbald die Versuche, den Peutereygrat mit dem Südgrat der Aiguille Noire zu kombinieren, von verschiedenen Seiten wieder aufgenommen.

Das bemerkenswerteste Unternehmen dieser Art, das beinahe zum Erfolg geführt hätte, ist der Versuch des blutjungen Serge Viotto aus Courmayeur, der zusammen mit M. Bareux in vier Tagen bis zum Col de Peuterey vordringt. Schlechtes Wetter, Proviantmangel und Erschöpfung zwingen ihn dort zum Abbruch des Unternehmens. Seltsamerweise entschliesst sich Viotto, zum Brenvagletscher abzusteigen -w eine Verzweiflungstat ersten Ranges. Dass sie gelingt und die beiden mit dem Leben davonkommen, ist beinahe als ein Wunder zu betrachten.

Im Jahre 1953 endlich gelingt der grosse Wurf. Innerhalb von drei Tagen werden der Südgrat der Aiguille Noire und der Peutereygrat in einem Zug überklettert.

Und nun will ich von meinen eigenen Erlebnissen berichten.

Allein über den Peutereygrat Wir schreiben das Jahr 1937. Unter der Mittagssonne eines glühendheissen Augusttages wandert ein einsamer junger Mensch das damals noch schmale Strässlein in das Val Veni hinein. Kleidung und Aussehen, der gewichtige Rucksack, den er trägt, könnten auf grössere bergsteigerische Pläne schliessen lassen. Allein sein Schritt ist mühsam und schleppend, er ist wohl zu Beginn der Tour schon müde - der schwere Rucksack scheint ihm nicht minder zuzusetzen als die Sonne. In dieser Verfassung wird er nicht allzu weit kommen...

Nach einer Weile biegt er von dem Strässchen ab und wendet sich den Hütten von Frêney zu, sein Ziel ist offensichtlich die Gambahütte. Dorthin führt ein leidlich guter Pfad, der weiter oben sogar mit einigen festen Seilen versehen ist.

Er merkt es wohl, dass er nach einiger Zeit den Pfad verloren hat, aber das stört ihn nicht sonderlich, und um zurückzugehen, ist er zu eigensinnig. Es wird auch woanders gehen... Als er endlich die Gambahütte erreicht, sitzen dort ein paar Franzosen, die vorher hinter ihm waren, längst bei Tisch.

Er hält sich nicht lange in der Hütte auf, er hat noch einiges vor an diesem Tag. Vor allem möchte er erfahren, welches im Augenblick der beste Weg über den Frêneygletscher ist. Man erklärt ihm, dass der Gletscher in einem sehr schlechten Zustand sei - très mauvais -, dass er besser über den Col de l' Innominata ginge, und bedauert ihn schliesslich wegen seines schweren Rucksacks. Was er damit eigentlich vorhat, verrät er wohlweislich nicht, er möchte den Leuten unnütze Worte ersparen. Von seinem Vorhaben, den Peutereygrat im Alleingang zu versuchen, kann ihn ohnedies niemand mehr abbringen. Der Entschluss ist gefasst, das Für und Wider längst abgewogen. Ist es ein Wahnsinnsunternehmen, in das er sich stürzen will? Nein, gewiss nicht. Es spricht sogar sehr vieles für ein gutes Gelingen - ein bisschen Glück vorausgesetzt, aber das braucht der Bergsteiger in jedem Fall. Das Wetter ist vollkommen sicher, die Verhältnisse am Grat sind gut, und er ist glänzend trainiert.

Nun steigt er also über den kleinen Châteletgletscher hinauf zum Col de l' Innominata, wie man es ihm empfohlen hat. Eine neue Welt tut sich dort oben für ihn auf, als er den ersten Blick über die Scharte tut, aber keineswegs eine Welt, die ein grenzenloses Entzücken in ihm hervorgerufen hätte. Der Anblick der in mauerglatten, senkrechten Wänden abstürzenden Aiguille Noire wäre noch zu ertragen. Damit hat er im Augenblick nichts zu tun. Auch der etwas weniger abweisend aussehenden Aiguille Blanche wird irgendwie beizukommen sein. Aber die schmalen, unglaublich steilen Eisrinnen dazwischen - durch eine von ihnen muss er ja hinauf zur Brèche Nord - bereiten ihm Kopfzerbrechen! Er weiss, dass in der Draufsicht alles noch einmal so steil aussieht, aber selbst, wenn man diese Täuschung in Abzug bringt, bleibt noch genug übrig. Wird er das schaffen, allein, ohne Sicherung? Und unter den Eisrinnen der Bergschrund mit seiner senkrechten, vielleicht an die zwanzig Meter hohen Oberlippe - wie soll er da hinaufkommen? Nicht genug damit, trennt ihn von all dem ein Gletscher, wie er noch keinen gesehen hat, ein Urweltchaos, ein wahrer Irrgarten von Seraks und Spalten jeder Grösse. Das wird ein hartes Problem sein... Dabei ist er noch nicht einmal unten auf dem Gletscher, erst gilt es noch ein äusserst steiles Couloir zu überwinden, das nicht viel einladender aussieht als alles übrige.

Er hat nicht die Zeit, über all diese Probleme lange zu grübeln, in wenigen Stunden wird die Nacht hereinbrechen. Er versucht es einmal... Das Couloir ergibt sich leichter als gedacht, es ist nicht allzu schwer, in ihm hinunterzuklettern. Dann allerdings wird es abenteuerlich. Im Wettlauf mit der aus den Tälern aufsteigenden Dämmerung versucht er einen Weg durch diese Eiswildnis zu finden, geht oftmals irre, muss wieder zurück, quert in atemberaubender Spannung unter überhängenden, einsturzbereiten Seraks, von denen das Schmelzwasser tropft, balanciert wie ein Seiltänzer auf messerscharfen Eisgraten zwischen bodenlosen Schrunden und ist nach zwei Stunden der äussersten Anspannung aller psychischen und physischen Kräfte am anderen Ufer. Nun ist es allerdings höchste Zeit, dass er sich um einen Biwakplatz umsieht. Die Auswahl ist nicht gross, er kann sich höchstens ein paar Löcher in das Eis hacken, eines zum Sitzen, das andere für die Füsse, eine Art Grossvaterstuhl. Freilich, die Polsterung und der warme Kachelofen fehlen... Schliesslich ein drittes Loch für den Kaufladen, nun kann er den Rucksack leeren und statt dessen die Füsse hineinstecken. Nachdem er seine beiden Biwaksäcke noch übergestülpt hat, kann er ans Schlafen denken... Er kann wohl daran denken, aber es wird nicht viel daraus. Die Kälte frisst sich über kurz oder lang auch durch zwei Biwaksäcke. Die ersten Stunden der Nacht sind noch ganz erträglich, beinahe angenehm. In einem seltsamen Zustand zwischen Wachen und Träumen stellen sich allerlei Bilder ein, er ist keineswegs allein. Die Freunde sind bei ihm, dann wieder ist er in seinem Elternhaus. Gegen 1 Uhr morgens wird die Kälte unerträglich, jäh sind alle Bilder und Gesichte zerstoben. Er packt seine Siebensachen zusammen und sucht mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen einen Übergang über die Randkluft.

Er hat Glück und findet nach kurzer Zeit eine Stelle, wo die Reste einer alten Lawine den Übertritt ermöglichen - so ganz ohne Eiskletterei geht es natürlich auch hier nicht. Nun muss er am steilen, beinhart gefrorenen Firnhang eine lange Querung ausführen. Das wäre harmlos, wenn nicht gerade in diesem Augenblick Steinschlag aus den Wänden der Aiguille Blanche einsetzen würde. Ausgerechnet jetzt inmitten der frostklaren Nacht. Es sind nicht bloss ein paar vereinzelte Steine, es ist ein wahres Trommelfeuer. Fauchend und heulend schlägt es rings um ihn ein, Steine jeder Grösse, und er ist vollkommen schutzlos. Er kann nicht einmal den Rucksack über den Kopf nehmen, er steht ohne eine Stufe am Steilhang und weiss, dass ihn das kleinste Geschoss aus dem Stand werfen würde. Unter ihm gähnt der Bergschrund... Ist er wirklich vollkommen schutzlos? Liegt sein Leben in der steilen Wand oder auf dem sturmumbrausten Grat nicht so gut in der Hand des Schöpfers wie im Getriebe des Alltags? Habt ihr darüber einmal nachgedacht? Ihr sollt euch nicht sorgen und quälen um das Kommende, das Buch eures Lebens ist längst geschrieben, von einer gütigen Hand! Sei still, und dir wird geholfen... Nachdem unser junger Freund den minutenlangen Steinhagel wunderbarerweise ohne die geringste Verletzung überstanden hat, könnte er im Grunde genommen seinen Weg fortsetzen, aber jetzt, nachdem die Gefahr vorbei ist, sucht er erst einmal Schutz unter dem nächsten überhängenden Felsen. Es ist ganz gut so, auf diese Weise fängt es gerade an zu dämmern, bis er in die Rinne einsteigt. Sie ist wirklich sehr steil, das war keine Täuschung, aber es liegt guter, wenn auch harter Firn in ihr. Wie gut, dass er einen so vorzüglichen Lehrer im Eis hatte, der ihn vor Jahresfrist das stufenlose Gehen mit den Zehnzackern lehrte! Er gewinnt auf diese Weise rasch an Höhe und ist noch vor Sonnenaufgang an der Brèche Nord.

Nach kurzem Aufenthalt setzt er seinen Weg fort, der nun wieder über Fels führt. Es beginnt mit einem Quergang, auf den ein kurzer Kamin folgt, nochmals ein Stückchen Quergang - und schon hat er den richtigen Weg verloren. Er weiss das zwar nicht, er wundert sich nur, dass die Kletterei ziemlich schwer ist. Er findet auch Spuren menschlicher Anwesenheit, doch sie sind grausig genug; weithin ist der Fels, über den er klettert, mit Blut bedeckt. Es ist wohl besser für ihn, nicht allzuviel darüber nachzudenken, was sich hier abgespielt haben mag...

Mit dem Erreichen der Grathöhe haben die Schwierigkeiten vorerst ein Ende. Die Felsen, über die er nun in die Ostflanke der Aiguille Blanche quert, sind gut gestuft, hin und wieder mit Schnee bedeckt oder etwas vereist, aber das hat nicht viel zu sagen. So gelangt er allmählich zum letzten Stück seines Weges auf die Aiguille Blanche, zur Kalotte. Über aufgeweichten Firn, der ihn manchen Schweisstropfen kostet, erreicht er schliesslich um die Mittagszeit den Gipfel, der einst als schwierigster Viertausender in den Alpen galt.

Der Weiterweg zum Westgipfel, über den er zwangsläufig muss, wird ein heikles Stück für ihn, den Alleingänger, werden.

Der messerscharfe Firngrat, der dort hinüberzieht, ist südseitig stark überwachtet, und die Nordflanke ist ausserordentlich steil. Zu allem Überfluss liegt dort Pulverschnee, der sofort an die Steigeisen gefriert und fürchterliche Stollen bildet. Er muss jeden Schritt, den er tut, sorgfältig mit dem Pickel sichern und atmet zunächst einmal erleichtert auf, als er auf dem Nachbargipfel wieder Fels unter den Fussen hat. Dort kann er zum erstenmal seinen Weiterweg auf den Mont Blanc studieren. Und dort gerät sein grenzenloses Selbstvertrauen zum ersten Male ernstlich ins Wanken.

Der Anblick, der sich ihm bietet, wäre allerdings geeignet, auch jeden anderen Alpinisten aus der Fassung zu bringen. Die vom Col de Peuterey zum grossen Eckpfeiler emporziehende stumpfe Kante ist hoffnungslos vereist. Mannsdicke, meterlange Eiszapfen hängen wie Barte von den Felsen herab, und die mit einzelnen Felsen durchsetzte Firnwand zur Linken davon sieht in der Draufsicht wieder einmal wahnwitzig steil aus. Ausserdem -last not least - ist sie fast pausenlos von Lawinen und Steinschlag bestrichen. Da ist er ja in eine schöne Falle geraten! Die Sonne brennt vorerst noch mit aller Gewalt in diese Wand, es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie wieder begehbar ist.

Gegen 4 Uhr nachmittags hält er den Zeitpunkt für gekommen, einen Ausbruch aus seinem seltsamen Verliess zu wagen, und beginnt zum Col de Peuterey abzusteigen.

Die gegenüberliegende Flanke hat sich vollkommen beruhigt, er hat jetzt keine Minute mehr zu verlieren. Was ihm vor wenigen Stunden noch als nahezu unlösbares Problem erschienen war, ergibt sich nun beinahe mühelos. So gut wie ohne Schwierigkeiten steigt er in gutem Firn die gefürchtete Flanke empor. Er hält sich ziemlich stark nach links und erreicht den Grat erst wieder nach den letzten Türmen, unweit der Stelle, wo er sich in der Gipfelwand verliert. Der Sieg scheint nahe, doch die Dimensionen des Berges täuschen. Ein harter Kampf mit der gefürchteten Schlusswand steht ihm noch bevor, vielleicht der härteste überhaupt.

Der Hang wird steiler und steiler, und die Verhältnisse im Eis sind alles andere als gut: eine vom Wind angewehte unverlässliche Preßschneeschicht auf einer beinharten Unterlage. Er wechselt ständig mit der Technik, ohne je die rechte zu finden, und sucht verzweifelt und ergebnislos nach einem Stückchen Hang, an dem die Steilheit etwas geringer oder die Verhältnisse ein wenig günstiger wären.

Allzuviele Reserven hat er nicht mehr, als er die ersten, aus dem Eis ragenden Felsen erreicht. Es ist inzwischen vollkommen dunkel geworden, und seine Füsse sind von dem ewigen Spuren längst gefühllos. Bald rafft er sich wieder auf. Er hat nur ein Ziel vor Augen, heute noch den Gipfel und die Vallothütte zu erreichen. Den Gedanken, ein zweites Mal zu biwakieren, ignoriert er völlig.

Eine kurze Kletterei noch, ein ebenso kurzer Firngrat, ein paar eilig hergestellte Stufen -dann zieht er sich am eingerammten Pickel auf das Gipfelplateau des Mont Blanc de Courmayeur empor.

Dort oben empfängt ihn ein wütender Sturm - trotz des wolkenlosen, mit zahllosen Sternen übersäten Himmels. Nachdem unser junger Freund erst noch ein wenig irregegangen ist - er war ja noch nie auf dem Mont Blanc -, hat er endlich den richtigen Weg gefunden und spurt nun langsam, des öfteren stehenbleibend, der höchsten Kuppe des Monarchen zu. Gegen 10 Uhr nachts betritt er den Scheitel Europas. Die Stunde ist ungewöhnlich, es ist nicht die Zeit für eine Gipfelrast, und es gibt keine Aussicht auf ein Meer Bergspitzen zu bewundern. Das Geflimmer der Sterne über ihm, der eisige Höhensturm, der in Nacht und Schweigen gehüllte Kontinent unter ihm - das ist alles. Kein Gefahrte, der ihm die Hand schüttelt, der Sieg, Not und Gefahr mit ihm teilt - er ist einsamer denn je.

Hat er das Spiel gewonnen, ist der Kampf zu Ende? Ja und nein. Im Augenblick hat er noch ein kleines Problem zu lösen: er muss den Abstieg zur Vallothütte finden. Unter verzweifelten Anstrengungen gelingt es ihm, unter den Zeltsack zu schlüpfen. Dort kann er die Karte studieren und den Höhenmesser neu einstellen. Mit Hilfe der Bussole findet er alte Spuren, die nur zur Vallothütte führen können - nun ist das Spiel gewonnen! Vor der Gefahr, dass er in der Dunkelheit an der Hütte vorbeiläuft, wird ihn der Höhenmesser bewahren. Kurz vor Mitternacht tauchen ihre nächtlichen Umrisse vor ihm auf. Der Traum einer Jugend ist Wirklichkeit geworden.

Über den Südgrat der Aiguille Noire zum Mont Blanc Wir befinden uns wieder einmal mit grossen Plänen am Fuss des Mont Blanc. « Wir » -das ist eine ganze Anzahl Kameraden von der Schwäbischen Bergsteigergilde. Die « grossen Pläne » betreffen in erster Linie meinen Seilgefährten Günther Kittelmann und mich.

Lange genug habe ich darüber nachgedacht, wie das Problem des vollständigen Peutereygrates mit dem Südgrat der Aiguille Noire zu lösen wäre.

Nun ist es Zeit zur Tat! Das wichtigste Ergebnis meines Nachdenkens war wohl dies, dass sich das Unternehmen auf keinen Fall zu lange hinziehen durfte. Es musste in der kürzesten, überhaupt nur möglichen Zeit abrollen, wenn es Aussicht auf Erfolg haben sollte. Die Gründe dafür waren leicht einzusehen. Je länger wir unterwegs waren, um so mehr Proviant brauchten wir. Das würde schwerere Rucksäcke und einen Mehraufwand an Kraft bedeuten, unser Vorwärtskommen würde sich also verlangsamen. Damit würde die Zahl der notwendigen Biwaks zunehmen. Unsere körperliche Verfassung würde sich von Tag zu Tag verschlechtern, wir würden immer noch langsamer werden und noch mehr Proviant brauchen - fürwahr ein verhängnisvoller Kreislauf! Auf diese Weise war das Problem nicht zu lösen. Ausserdem kam noch hinzu, dass mit der zunehmenden Zeitdauer der Tour die Wahrscheinlichkeit und Gefahr eines Wettersturzes immer grösser wurde.

Mit was für Rucksäcken hatten wir überhaupt zu rechnen? Wir brauchten - in nüchternen Worten gesagt - die vollständige Ausrüstung für eine extreme Felstour, dazu unsere Eisausrüstung und Biwakzeug sowie Proviant für mindestens fünf Tage. Das Gewicht dieser Rucksäcke konnten wir uns gut vorstellen, die Vorstellung war jedoch unangenehm. Sollten wir damit vielleicht über den endlos langen und teilweise äusserst schwierigen Südgrat der Aiguille Noire, wenn möglich ohne Biwak? Das würde uns auf keinen Fall gelingen, man hat bekanntlich Mühe, ohne Rucksack in einem Tag durchzukommen. Und doch war eine der wesentlichen Voraussetzungen in meinem Plan, dass wir am ersten Tag den Gipfel der Schwarzen Nadel erreichten. Aus diesem Dilemma gab es nur einen Weg für uns: die Anlage eines Depots auf dem Gipfel der Aiguille Noire.

Nun liegt also das Ergebnis langen Nachdenkens und sorgfältigen Planens vor uns ausgebreitet auf dem Boden und bedeckt einige Quadratmeter einer Wiese vor Entrèves. Wir können es an Reichhaltigkeit unserer Ausrüstung mit jedem mittleren Sportgeschäft aufnehmen: zwei Vierzigmeterseile, fünfzehn Meter Reepschnur, Eispickel und Steigeisen, Kletterhämmer, fünfzehn Mauer- und etliche Eishaken, acht Karabiner, Karte, Kompass und Höhenmesser, zwei Photoapparate, zwei Benzinkocher mit Reservebenzin, Taschenlampe und Kerzenlaterne, Daunenjacken und Überhose, Wollmützen und mehrere Paar Fäustlinge, Gamaschen und Zeltsack, ein kleiner Daunenschlafsack, der uns bis zur Hüfte reicht, Schneebrillen und Verbandzeug, Feldflasche und Essbesteck - nein, wir haben wirklich nichts vergessen. Horace de Saussure hatte noch, als er vor bald zweihundert Jahren zur Eroberung des Mont Blanc auszog, drei Fräcke, ein Feldbett und Pantoffeln in seinem Gepäck. Da es uns an den zugehörigen achtzehn Führern und einem Bediensteten fehlt, verzichten wir auf diese Dinge. Wir haben dafür Perlonseile und Leichtmetallkarabiner, das hatte Saussure nicht.

Vorerst vergeht noch eine ganze Weile damit, das « Sportgeschäft » und die Lebensmittel für eineinhalb Wochen in unseren Kletterrucksäcken und zwei weiteren Säcken, die wir später zurücklassen wollen, zu verstauen. Was trotz raffiniertem Packen immer noch nicht hineingeht, wird aussen drangehängt.

Zwar sind wir gestern abend erst hier angekommen, unser Urlaub hat gerade begonnen, aber das Wetter ist so schön, dass wir nicht lange darüber nachzudenken brauchen, was wir tun sollen: wir gehen heute noch auf die Noirehütte. Und wie sieht es mit einer Eingehtour aus? Erlauben Sie, mit solchen Mulilasten auf die Noirehütte und später auf die Aiguille Noire - ist das vielleicht keine Eingehtour? Ausserdem haben wir uns seit langem den Standpunkt zu eigen gemacht: wir sind immer trainiert.

Als wir am Abend des 20. Juli die kleine, heimelige Hütte unter den Wänden des Mont Noir erreichen, glauben wir, das Ärgste hinter uns zu haben. Das Gewicht der Rucksäcke wäre noch zu ertragen gewesen, fünfzig oder sechzig Pfund haben wir schon oft geschleppt. Was uns schier zur Verzweiflung gebracht hat, sind in erster Linie die schmalen Riemen der Kletterrucksäcke, die keineswegs für solche Lasten berechnet sind. Ein Sonnenbrand am Rücken, das Ergebnis des vormittäglichen Packens mit nacktem Oberkörper, hat das Mass des Leidens voll gemacht.

Die Noirehütte wird in diesen Tagen zum Treffpunkt der Nationen: Engländer und Franzosen, Italiener und Österreicher, Belgier und Deutsche geben sich dort oben ein Stelldichein. Beinahe alles geht auf die Aiguille Noire, die Mehrzahl der Seilschaften über den Südgrat, der allmählich zur Modetour wird. Ein Glück, dass man bei dieser Tour meist biwakieren muss, die kleine Hütte wäre sonst ständig überfüllt.

Morgen, Dienstag, den 21. Juli, werden wir also die Aiguille Noire auf dem leichtesten Weg, über ihren Südostgrat, besteigen und unser Depot auf dem Gipfel errichten.

Wir sind nicht gerade früh daran, es ist bereits 8 Uhr vorbei, als wir das Hüttchen verlassen. Unsere Rucksäcke sind heute schon wesentlich leichter. Alles, was wir nicht unbedingt am Südgrat brauchen, tragen wir heute nach oben: Steigeisen und Pickel, einen Teil der Schlosserei, Schlafsack und Proviant für eine halbe Woche.

Kurz unter dem Gipfel stossen wir auf vier Franzosen, die gerade rasten. Merkwürdig ist, dass sie alle so grosse und schwere Rucksäcke haben. Auf meine Frage, woher sie kom- men, erfahre ich, dass sie gestern den Südgrat gemacht haben. Ich errate sogleich den Zusammenhang: wir haben die « Konkurrenz » vor uns, die uns beinahe zuvorgekommen wäre und glücklicherweise aufgegeben hat. Glücklicherweise? Ist es denn nicht vollständig gleichgültig, ob wir die ersten oder die zweiten sind, oder ob schon hundert vor uns diesen Weg gegangen sindGegen 3 Uhr nachmittags erreichen wir den Gipfel der Aiguille Noire.

22. Juli: Nun ist schon der dritte Tag mit prächtigem, sonnigem Wetter. Die Periode ausnehmend schlechten Wetters, die den ganzen Frühsommer anhielt, scheint endgültig überwunden zu sein. Morgen früh um 4 Uhr steigen wir ein... Wir sind dessen so sicher, dass wir sogar den grössten Teil unseres Proviants wegschenken. Einen kleinen Rest für den Südgrat behalten wir, das genügt. Während der Tour isst man ohnedies nicht viel. Das können wir auf dem Gipfel nachholen.

Und das langsame, aber stetige Fallen des Barometers, stört Sie das nicht, Herr Doktor, Sie sind doch Physiker, wenn ich nicht irre...? Und die Warnungen des jungen Genfers, dass das Wetter umschlagen würde? Nein, das stört uns alles nicht, morgen früh steigen wir ein!

23.Juli: Als ich morgens um 3 Uhr vor die Hüttentür trete, kann ich gerade noch den Fuss des Mont Rouge erkennen. Alles übrige steckt bereits im Nebel. Wenig später fallen die ersten Tropfen. Das einzige, was wir tun können, ist weiterschlafen und abwarten. Über diese Tatsache viele Worte zu verlieren, wäre zwecklos.

Das Wetter zeigt keinerlei Neigung zu einer Besserung. Den ganzen Tag über jagt ein stürmischer Westwind schweres, schwarzgraues Gewölk über den Himmel, das sich von Zeit zu Zeit in heftigen Regengüssen entlädt. Günther erklärt sich bereit, abzusteigen und Proviant zu holen. Ich rede ihm das aus - morgen ist es doch wieder schlecht, dann steigen wir beide ab.

Und wovon leben wir heute? Erst besteht noch eine gewisse Scheu, den ohnedies bescheidenen Tourenproviant anzugreifen, es könnte ja vielleicht doch schön sein morgen. Als der Hunger grösser wird, überwinden wir diese Scheu allmählich...

Dann beginnen wir die kleine Hütte systematisch nach Lebensmitteln zu durchsuchen, der Tag ist lang, wir haben sonst nichts zu tun. Ein kleiner Rest von steinhartem Brot ist alles, was wir finden. Hätten wir bloss den angeschimmelten Reis nicht gestern schon weggeworfen! Das bisschen Schimmel hätte wirklich nichts geschadet.

Die Engländer schenken uns ein paar Kleinigkeiten: zwei kleine Fleischbrühwürfelchen, zwei Tomaten und einen winzigen Rest von Teigwaren. Davon werden wir eine Suppe kochen. Günther ermahnt mich, nicht so mit dem Wasser zu sparen, wir müssten ja schliesslich satt werden. Als ich bereits zweimal nachgegossen habe, erklärt er mir, das wäre noch entschieden zu wenig - er ist gerne bereit, nochmals einen Eimer voll zu holen am Bach. Schliesslich ist die Suppe fertig, es ist wirklich eine ganze Menge geworden - von der prächtigen roten Farbe gar nicht zu reden. Wenn wir da nicht satt werden...

24.Juli: Überzeugt von der Zwecklosigkeit meines Tuns, nur zur Beruhigung des Gewissens, stehe ich gegen 4 Uhr morgens auf und sehe nach dem Wetter. Das Unerwartete ist eingetreten: das Wetter ist wieder gut. Über den nächtlichen, ungegliederten Felsmassen der Aiguille Noire und des Mont Rouge wölbt sich ein blanker sternenübersäter Himmel. Auch der Wind hat sich wieder gelegt, wir bekommen bestimmt einen schönen Tag. Selbstverständlich steigen wir ein - ob mit oder ohne Proviant. Im übrigen haben wir ja unser Depot auf dem Gipfel.

In Eile packen wir unsere Sachen, eine Tasse Tee ist unser Frühstück. Leider sind wir schon über eine Stunde zu spät daran. Man kann nicht sagen, dass wir unter sehr günstigen Aspekten starten...

Auch am Südgrat geht nicht alles so wie es soll. Schon nach wenigen Seillängen verliere ich Zeit durch Wegsuchen, das mit einer ziemlich schwierigen, heute nicht mehr gebräuchlichen Variante endet. Ausserdem muss ich feststellen, dass ich mich in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung befinde. Anfangs tröste ich mich noch mit dem Gedanken, dass dies vielleicht nur ein vorübergehender Zustand wäre. Später finde ich mich mit der Tatsache ab, dass es heute eben langsamer und nur unter Aufbietung einer gewissen Willenskraft geht. Auch Günther, der allezeit lustige und quicklebendige Gefährte, ist wie umgewandelt, seine Bewegungen wirken schlaff und lustlos, seine unbezwingbare Vitalität scheint nie bestanden zu haben. Da befinden wir uns inmitten der schönsten Urgesteinskletterei, und bei keinem von uns will die rechte Kletterfreude aufkommen! Hin und wieder flackert sie für einen Augenblick auf, um ebenso rasch wieder zu erlöschen. Ausserdem quält uns der Durst, wir haben nur eine einzige Feldflasche mit Wasser bei uns, das wir sehr sparsam einteilen müssen.

Trotz alledem rollt Seillänge um Seillänge ab. Um 1 Uhr mittags, nicht gerade früh, stehen wir auf der Pointe Weizenbach, jener denkwürdigen Stelle, wo Allwein und Weizenbach im Jahr 1926 bei ihrem Versuch, den Südgrat der Aiguille Noire zu bezwingen, aufgaben und umkehrten. Fünfhundert Meter, etwas weniger als die Hälfte des gesamten Höhenunterschiedes, trennen uns noch vom Gipfel. Wir halten eine kurze Rast und nehmen unser Mittagsmahl zu uns. Wir könnten es ebensogut Frühstück oder Abendessen nennen, denn es sollte die einzige Mahlzeit des Tages bleiben. Jeder erhält ein paar dünne Scheiben Früchtebrot. Sonst noch etwas? Nein danke, die Sperlingsmahlzeit ist beendet. Nun brauchen wir wenigstens keinen Proviant mehr zu schleppen, es klettert sich viel angenehmer mit einem leichten Rucksack. Jetzt noch einen Schluck Wasser aus der Feldflasche, das gibt Kraft für den zweiten, schwierigeren Teil eines endlos langen Grates. Gott sei Dank hat uns die Esserei nicht zu lange aufgehalten, wir können gleich weitermachen... Gegen 5 Uhr nachmittags nähern wir uns der Schlüsselstelle des Südgrates, der berüchtigten Verschneidung am Vorgipfel der Pointe Bich. Wir haben viel darüber gehört, und die Mehrzahl der Schilderungen war abschreckend. Ich müsste eigentlich kleinlaut und bedenklich durch sie gestimmt werden, aber sie wecken nur meine Neugierde. Und dann hätte ich die berühmte Verschneidung beinahe übersehen. Als ich schon fast die Hälfte hinter mir habe, merke ich endlich, woran ich bin. Ich bin enttäuscht, das mindeste, was ich erwartet hatte, wäre ja gewesen, dass sie senkrecht ist. Im übrigen stecken ziemlich viele Haken, so dass diese Stelle heute nicht mehr übermässig schwer ist. Auch die anschliessende Querung hat ihre Schrecken durch einige gut sitzende Eisenstifte eingebüsst.

Bei beginnender Dämmerung überwinde ich die letzten Schwierigkeiten, ein paar schwindsüchtige Risse, die als « V » bezeichnet sind. Nun sollte uns eigentlich nichts mehr aufhalten können. Es wäre doch gelacht, wenn wir den Gipfel und unser Depot heute nicht mehr erreichten - trotz meiner Müdigkeit, die allmählich ihrem Höhepunkt zustrebt. Hermann Bühl hat die ganze. Watzmann-Ostwand nachts gemacht! « Du machst dich ja vollkommen hin », meint Günther. « Das bin ich schon lange », gebe ich ihm zur Antwort.

Bis zur Pointe Bich und in die Scharte zwischen den beiden Gipfeln geht alles ganz gut - sagen wir, es geht. Das Licht des Mondes reicht gerade aus, das Notwendigste zu erkennen. Und doch sollten wir kurz vor dem Ziel noch Schiffbruch erleiden! In der Schlucht, in die wir von der Scharte aus absteigen müssen, herrscht eine wahrhaft ägyptische Finsternis. Das Band, das zu den Schrofen der Südostseite führen soll, ist unauffindbar. Der Wille, den Gipfel heute noch um jeden Preis zu erreichen, ist plötzlich einer vollkommenen Gleichgültigkeit gewichen. Wir beschliessen, an Ort und Stelle zu biwakieren, Günther räumt bereits das schmale Bändchen ab, auf dem wir gerade stehen. Der Platz ist ausgesprochen schlecht, aber wir haben keine andere Wahl.

Die Nacht wurde besser, als wir je geglaubt hatten. Ich liege am äusseren Rand des schmalen und abschüssigen Bandes, Günther innen und so halb auf mir. Trotzdem schlafen wir die meiste Zeit. Hin und wieder ermahne ich Günther, mich nicht hinunterzuwerfen. Wir sind zwar beide angeseilt und an einen Haken gebunden, ich stelle es mir dennoch unangenehm vor, plötzlich über dem Abgrund zu zappeln.

25. Juli: Das Band, das wir gestern nicht mehr fanden, ist bei Tag nicht zu übersehen. Breit wie ein Radfahrweg führt es zehn Meter unter uns zu den leichten Felsen der Südostflanke. Binnen einer Viertelstunde, wenn es lang war, stehen wir auf dem Hauptgipfel.

Und nun? Gehen wir weiter? Oder geben wir auf? Das habt ihr doch nicht geglaubt, dass wir im Ernst daran gedacht hätten, aufzugeben? Obwohl unsere körperliche Verfassung alles andere als glänzend ist... Und gerade heute heisst es auf Draht sein, der Abstieg über die Nordkante der Aiguille Noire, der uns als nächstes bevorsteht, ist das heikelste Stück des ganzen Weges!

Ich mache mir einen Plan zurecht, wie wir am schnellsten wieder zu Kräften kommen: erst einmal richtig essen und trinken. Ein paar Dosen Kondensmilch, ein Glas Honig, eine Büchse Ovomaltine, aufgelöst in Pfefferminztee, sind Dinge, auf die wir Appetit haben und die uns rasch wieder auf die Beine helfen werden. Ein kurzes Schläfchen in der Sonne, die inzwischen aufgegangen ist, zum Schluss noch ein paar Yoga-Übungen - nun bin ich wieder auf der Höhe! Heute habe ich meinen grossen Tag! So sehr ich mich gestern geschunden habe, so leicht wird es mir heute fallen, elf Stunden lang anstrengende Fels- und Eisarbeit zu verrichten, ohne Rast, ohne Zwischenmahlzeit und ohne eine Spur von Müdigkeit.

Um 9 Uhr beginnen wir mit dem Abseilen. Ich muss gestehen, dass ich die ganzen Jahre hindurch stets nur mit einem gewissen Unbehagen an diesen Abstieg gedacht habe. Schuld daran war Göttners Bericht im « Bergsteiger », der geeignet ist, selbst bei Leuten mit gesunden Nerven eine Gänsehaut hervorzurufen. Man liest von unheimlichen Plattenfluchten und riesigen Dachüberhängen, von weiten Pendelschwüngen an schlecht sitzenden Haken, von der steten Ungewissheit des Weiterweges und der Unmöglichkeit eines « Zurück ». Nach zweimaligem Abseilen über die obersten Platten, die die Steilheit eines Kirchendaches haben, befinden wir uns in der Nähe des überhängenden Kantenabbruches. Meine Ratlosigkeit ist sicher nicht geringer als die unserer Vorgänger - von alten Haken ist weit und breit nichts zu sehen. Da ich nicht weiss, wohin ich mich wenden soll, ziele ich genau auf die Dames Anglaises - auf diese Weise kann ich die « Schulter » am wenigsten verfehlen.

Relativ unbekümmert beginne ich auf ein neues mit dem Abseilen. Ich kann zwar nicht wissen, wo ich landen werde, ich kann nur hoffen, dass sich innerhalb der nächsten vierzig Meter etwas finden wird. Es sieht keineswegs hoffnungslos aus von oben, ausserdem bin ich im Augenblick gerade Optimist...

Meine Zuversicht währt nur wenige Augenblicke. Als ich die Berührung mit dem zurückfliehenden Fels verliere und frei schwebe, überfällt mich plötzlich eine wahnsinnige Angst. Wenn ich nun keinen Stand bekomme, keine Hakenritze finde, keinen Felszacken, um den ich eine Schlinge legen kann? Ich habe einige Stürze im Fels erlebt - sie waren schmerzlos, das Bewusstsein war ausgeschaltet. Jetzt erlebe ich voll bewusst die unmittelbare Nähe des Todes. Eines elenden, erbärmlichen Todes: am Seile hängend langsam umzukommen. Nie habe ich einen hässlicheren Augenblick erlebt. Selbst in der Erinnerung ist dieses würgende, gemeine Gefühl noch stark und mächtig, als hätte ich es gestern und nicht vor einem Jahr -erlebt.

Ein paar Meter vor dem Ende des Seils erreiche ich mit grosser Mühe eine abgesprengte Platte, auf der ich mich im Reitsitz niederlasse. Das ist noch einmal gut gegangen... Und wo ist deine Philosophie geblieben? Ist der Tod doch keine Lüge, sind Zeit und Raum doch Realitäten?

Nachdem ich mich überzeugt habe, dass sich die Seile gut abziehen lassen, kann auch der Gefährte, der nichts von meinem schrecklichen Erlebnis weiss, herunterkommen.Der Weiterweg ist kein Problem mehr. Ein einziges Mal nur müssen wir noch abseilen, um das schneebedeckte Gratstück der « Schulter » zu erreichen. Dort öffnet sich nach Westen ein tief eingeschnittener, vielfach überhängender Schlund, durch den schon Göttner und seine Begleiter abgeseilt haben. Unser Weiterweg ist eindeutig vorgezeichnet.

Wir haben uns die Arbeit geteilt, nun läuft alles ab wie am Schnürchen. Während Günther die Seile abzieht, bereite ich bereits die nächste Abseilstelle vor. Wir finden nicht allzuviele alte Haken, und die wenigen, die mir begegnen, sind meist ausgewittert und müssen neu geschlagen werden. So geht es Seillänge um Seillänge abwärts, Hunderte von Metern, bis wir endlich auf schmalen Bändern in die von der Brèche Sud herabkommende Eisrinne queren können. Es war aber auch höchste Zeit, dass wir den Kamin verliessen, die Sonne hatte bereits begonnen, die riesigen Eiszapfen zu lösen, die überall an den Wänden hingen. Es ist 4 Uhr nachmittags, und die Aussichten, heute noch die Biwakschachtel an der Brèche Nord zu erreichen, sind nicht schlecht. Fünf Stunden für die Umgehung der Dames Anglaises sollten eigentlich genügen, trotz des unvermeidbaren Auf und Ab. Wir möchten nicht gerne eine zweite Nacht im Freien verbringen...

Die Umgehung der « Englischen Fräulein » auf der Westseite ist nicht schwer: gut gestufte Felsen und Bänder, eine kleine senkrechte Wandstufe, ein paar steile Schneerinnen mit etwas Eis - das ist alles. Um 8 Uhr abends sind wir am Ziel. Gott sei Dank, heute nacht haben wir wenigstens ein Dach über dem Kopf.

An der Biwakschachtel trifft sich wieder alles. Zwei Österreicher, die den Peutereygrat machen wollen, sind bereits dort, als wir ankommen. Und zwei Schweizer mit ihrem Führer, die wir in der Rinne überholt haben, werden nicht mehr lange ausbleiben. Wie das mit dem Platz werden soll, ist mir noch etwas unklar. Im stillen habe ich die kindliche Hoffnung, dass vielleicht einer draussen bleibt, wenn es gar nicht anders geht...

Die Hoffnung war natürlich kindlich. Es dauert nicht sehr lange, da verdunkelt sich der Eingang, und einige massige Gestalten kommen langsam, einer nach dem anderen, durch die kleine Öffnung gekrochen. Die Situation wird sofort beängstigend. Obwohl wir bereits « hochkant » liegen, werden wir fürchterlich zusammengepresst - sieben Menschen in der kleinen Schachtel ist eben zu viel! Wir werden bis morgen früh alle flach wie die Flun-dern sein, der arme Günther, der ganz aussen liegt, wird als Abziehbild an der Wand kleben, der Nachwelt zum Schrecken! Nein - das halte ich nicht aus, der Umwandlungsprozess in eine Flunder ist zu schmerzhaft. Kurz entschlossen nehme ich meine Sachen, Daunenjacke, Fuss- und Zeltsack, und ziehe aus.

Ich mache es mir auf dem schmalen Band vor der Schachtel so bequem als möglich. Allzu heftig im Schlaf hin- und herwälzen darf ich mich allerdings nicht, ich könnte sonst Gefahr laufen, am nächsten Morgen an die tausend Meter tiefer zu erwachen...

Und wieder einmal erweist sich, was ich für ein Übel hielt, als glücklicher Umstand. Die Nacht unter dem Sternenzelt, im Schütze der senkrechten, beinahe überhängenden. Felswand der Aiguille Blanche, wird eines meiner schönsten und tiefsten Erlebnisse in den Bergen. Feierliche Stille ist um mich, nur hin und wieder durch das Fallen eines Steins oder das Bersten eines zusammenstürzenden Eisturmes unterbrochen. Zeit und Raum sind aufgehoben, ich werde eins mit dem All.

26.Juli: Als ich im Morgengrauen des neuen Tages erwache, ist der Himmel bis auf einen schmalen Streifen im Osten mit Wolken überzogen. Die Schweizer rüsten bereits zum Aufbruch. Über ihrem Tun liegt bei aller äusseren Beherrschtheit die seltsam erregende Atmosphäre, der man sich nur schwer vor einer grossen und ernsten Bergfahrt entziehen kann. Wir alle wissen um die Gefahr, die auch für den Besten und Erfahrensten noch übrigbleibt. Ist es nicht stets eine Art von Gottesgericht, das wir herausfordern? Wir brechen als letzte auf, noch eine ganze Weile nach den Österreichern. Bei der Enge des Raumes war es ohnedies nicht möglich, dass wir uns alle gleichzeitig fertigmachten. Ich weiss, dass heute der Wettersturz kommt, weiss aber auch, dass wir uns durchschlagen werden zum Gipfel und zur Vallothütte. Ich bin unseres Erfolges vollkommen sicher, ohne einen Grund dafür angeben zu können.

Oben am Hauptgrat treffen wir die Schweizer wieder. Sie haben gerastet und erklären uns, dass sie umkehren wollen. Das Wetter wird schlecht... Das Wetter ist bereits schlecht, die Gipfel der höheren Berge'sind schon in Wolken gehüllt. Ein paar Augenblicke später ist die Schweizer Seilschaft, die gerade abzusteigen beginnt, vom Nebel verschlungen.

Gegen 11 Uhr erreichen wir den Südostgipfel der Aiguille Blanche. Er ist im Augenblick gerade frei, wir können auf dem Nordwestgipfel unsere beiden Österreicher erkennen. Sie wissen offensichtlich nicht recht, ob sie die Tour fortsetzen oAer umdrehen sollen und fragen uns, was wir tun. Als sie hören, dass ich den Grat schon kenne und dass wir weitergehen, beschliessen sie, die Tour gemeinsam mit uns fortzusetzen.

Die zum Col de Peuterey abfallende Felswand ist diesmal bös vereist. Wir wählen ohne langes Zögern den schnellsten und sichersten Weg: abseilen. Zweimal vierzig Meter reichen bequem bis zum Fuss der Felsen. Über einen harmlosen Firnhang stapfen wir vollends zum Col hinunter. Auch die zum grossen Eckpfeiler hinaufführenden Felsen sind stark verschneit und stellenweise vereist. Wir halten uns ziemlich weit rechts, die linke Route scheint mir nicht sicher genug.

Mit dem Wetter können wir noch zufrieden sein. Wir befinden uns im Windschatten des Mont Blanc, da das Unwetter von Nordwesten kommt. Hin und wieder etwas Nebel und der leichte Schneefall können uns nicht viel anhaben. Wir sind uns allerdings keinen Augenblick darüber im Zweifel, dass die schwerwiegende Frage, ob wir dieser Bergfahrt würdig sind, erst auf dem Gipfel an uns gestellt wird. Dort wird der Schneesturm mit aller Gewalt über uns herfallen, und es wird um Sein oder Nichtsein gehen.

Nun beginnt also der Kampf um die Gipfelwand. Sie ist immer noch gleich hoch und steil, und ihre Durchsteigung scheint kein Ende zu nehmen. Gemessen an der Höhe des Mont Maudit, den wir gelegentlich durch den Nebel erblicken, scheinen wir überhaupt nicht vom Fleck zu kommen, obgleich die Verhältnisse nicht schlecht sind: etwas Neuschnee auf einer nicht sehr harten Unterlage. Weiter oben nimmt die Neuschneemenge zu, und das Spuren wird entschieden mühsamer. Nun machen sich auch die Anstrengungen der vergangenen Tage und die Höhe bemerkbar. Die Strecke, die ich ohne stehen zu bleiben zurücklegen kann, wird immer geringer. Nach fünfzehn oder zwanzig Stufen, die ich in den Steilhang getreten habe, bin ich jedesmal vollkommen ausser Atem. Yoga- und Pressatmung helfen mir, mich in den kurzen Pausen immer wieder schnell zu erholen.

Bis knapp unter den Gipfel habe ich alles allein gespurt. Die letzte Seillänge gehört dem Freund. Mit einer gewissen Genugtuung stelle ich fest, dass auch er, der fünfzehn Jahre jüngere, ein paarmal stehenbleiben und verschnaufen muss.

Der Sturm, der uns auf dem Gipfel des Mont Blanc de Courmayeur überfällt, hat die Erbarmungslosigkeit eines wilden Tieres. Bis ich mit Hilfe Günthers meine Daunenjacke an- gezogen habe, sind meine Hände vollkommen gefühllos. Ich bin nicht mehr fähig, die Knöpfe und die Verschnürung des Anorak zu schliessen. Die Hände in nächster Zeit wieder warm zu bekommen, ist aussichtslos. Wir müssen weiter, der Sturm greift nach unserem Leben...

Für einen Augenblick reisst es auf, und ich kann ein paar Felsen erkennen. Ein einziges Mal war ich vor vielen Jahren und in finsterer Nacht an diesem Ort, und dennoch ist er mir merkwürdig vertraut und bekannt.... Ohne Bussole bin ich meines Weges zum Gipfel des Mont Blanc vollkommen sicher.

Der Sturm nimmt uns fast den Atem. Immer wieder müssen wir stehenbleiben und ihm den Rücken kehren, um Luft zu schöpfen. Dann ist der grosse Augenblick gekommen. Die letzten mühsamen Schritte zur sanft gewölbten Kuppe des Monarchen sind getan. Ein Blick in das Antlitz des Gefährten lässt mich fast erschrecken: aus einem faltendurchfurchten und von schwarzem Bart umwucherten Gesicht blicken mir zwei tiefliegende Augen entgegen, fragend und in stummer Klage: Wann wird das alles ein Ende haben? Wozu haben wir das alles auf uns genommen?

Wir verweilen keinen einzigen Augenblick. Wir haben nur einen Wunsch: fort aus dieser weissen Hölle. Dort unten, vierhundert Meter tiefer, liegt die Vallothütte. Halb im Laufschritt eilen wir in den freigewehten alten Spuren den Grat hinunter. Noch angeseilt und mit den Steigeisen an den Fussen steige ich die kurze Leiter zu der Falltüre hinauf, die ich mit Kopf und Schultern öffne. Günther steht noch unten im Sturm und fängt bereits zu schimpfen an, während ich mich vergebens bemühe, die zweite Türe zu öffnen. Plötzlich werden im Innern Stimmen laut, die Türe öffnet sich, und unsere Freunde von der « Bergsteigergilde » stehen vor mir. Nun hat alle Not ein Ende. Die Kameraden sind rührend um uns besorgt, ziehen uns die vereisten und gefrorenen Gamaschen und Stiefel aus, massieren unsere Füsse und kochen immer wieder Tee. Wir verbrauchen eine ungeheure Menge davon und versinken schliesslich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

27. Juli: Am Morgen stürmt es immer noch, doch der Himmel ist wieder klar. Unsere Freunde gehen auf den Gipfel, um die Längsüberschreitung des Mont Blanc zu machen. Wir werden über den Domegletscher absteigen. Erst muss ich noch meine hartgefrorenen Stiefel über dem Primus auftauen, ich komme anders nicht hinein.

Unten auf dem Domegletscher ist es schon wieder unangenehm warm, die Sonne sticht durch einen dünnen, weisslichen Wolkenschleier. Ein Stück nach dem anderen wandert in den Rucksack: Handschuhe, Daunenjacke, Anorak, Gamaschen, zuletzt noch die Steigeisen - und der Rucksack wird immer schwerer. Wir hätten grosse Lust, den ganzen Kram in den Bergschrund zu werfen... Sollen wir nicht lieber den Rest des Urlaubs an der Riviera verbringen? Dort brauchen wir weder Daunenjacken noch Eispickel.

Am späten Nachmittag, nach einer Woche Abwesenheit, halten wir unseren Einzug in Entrèves. Unterwegs haben wir in einer von den Kneipen, die es jetzt im Val Veni gibt, ein bisschen gefeiert. Unser Durst war gross, und der Wein ist in Italien billig.

Wenn ich versuche, die Schlussbilanz aus den verflossenen sieben Tagen zu ziehen, so komme ich zu einem seltsamen Ergebnis. Die Freude und die Genugtuung über unseren Erfolg waren zunächst gering. Die körperliche Anstrengung und die Anspannung der Willenskraft waren zu gross, die erlebten Eindrücke allzu gewaltig. Es mussten Wochen und Monate vergehen, bis wir uns mit der Fülle von Erlebnissen, die innerhalb von wenigen Tagen mit ungeheurer Wucht auf uns eingestürmt waren, innerlich auseinandergesetzt hatten. Bis wir zu dem Ergebnis kamen, dass die Überschreitung des vollständigen Peutereygrates nicht nur den Höhepunkt unserer bisherigen Bergsteigerlaufbahn darstellt, sondern zu den Höhepunkten unseres Lebens zählt - weil wir uns selbst überwunden haben.

Das Matterhorn

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