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Kletterpartie im Simmen tal

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Maurice Brandt, La Chaux-de-Fonds

Das Simmental, vielen als Wiege einer berühmten Milchkuhrasse bekannt, schätzen andererseits manche als ein Gebiet, das Klettereien von bedeutender Schwierigkeit anbietet. Das Nieder-Simmental hält denn auch dem Kletterer zu beiden Seiten des Flusses spezielle Anstiege, und zwar praktisch alle in vortrefflichem Kalkfels, bereit, wenn man von den Spillgerten absieht. Dem rechten Ufer der Simme folgend, begegnet man dem Rothorn ( Rote Fluh ) mit seinen aussergewöhnlichen Führen durch die Süd-wand'. Dann sind da die etwas « abgedrosche-nen » Spillgerten, eine typische Sektionstour, die im übrigen von den Kletterern eher gemieden werden, weil der Fels den Liebhabern der modernen Technik nichts Interessantes zu bieten hat. Der Fromattgrat und das Niederhorn bieten an ihren Osthängen Klettereien an, die der üblicherweise den Westhängen zugewandte Skifahrer dort nicht vermuten würde. Das Simelihorn reckt seinen klassischen, von den Kletterern am meisten bewunderten Pfeiler ( Mäniggrund-Pfeiler)2 in die Höhe. Der Abendberg mutet an seiner Südflanke unerwartet wild an mit seinem Valgrande.

Zur Linken der Simme wollen wir als erstes das Kletterparadies Trümmelhorn, Chemißue und Mittagflue erwähnen, das vor allem Kletterer schätzen, für die der Anmarsch ein Teil der Bergfahrt darstellt. Dann ist da weiter die Alpligennadel, welche die nachfolgende Schilderung zum Inhalt hat und die dem Verfasser ganz besonders ans Herz gewachsen ist. Die Stockenflue hat an ihrem östlichen Ende die Wiesen abgestreift und fordert die verwegensten Kletterer zum Kampf heraus.

1 Siehe Juli-Bulletin 1972, Seiten 132 und 133.

2 Siehe Januar-Bulletin 1970, Seiten 13 und 14.

4*«m

1Simmental: Alpligennadel ( Südwand ) 2Alpligennadel: Abseilen auf der Normalroute 3Die Alpligennadel Photos: Alfred Henner Das im Süden sanfte, im Norden stolze Stockhorn ist trotz der Seilbahn, die es zum Touristen-berg degradiert, ein eigentlicher Klettergipfel.

Von dem ganzen Fächer dieser herrlichen Kletterberge aber hatte es mir die geheimnisumwitterte Alpligennadel angetan. Viel war im voraus nicht über sie zu erfahren, ausser dass ihre Erstbesteigung am i. Juli 1934 stattgefunden hat, und zwar, wie zu erwarten war, durch den Simmentaler Kletterpionier Fritz Tschabold von Erlenbach. Auf keiner Karte war diese Nadel zu finden, die vor einem unvergleichlichen Panorama steht und in völliger Weltabgeschiedenheit lag, bis die motorisierten Vehikel erst 400 Meter vor der gleichnamigen Alp haltmachten. Ich habe sie vor und nach der Ankunft des technischen Fortschritts genossen. Sie war für mich zum Ideal von Harmonie geworden: ihr kühner Aufschwung neben der lieblich eingebetteten Alp, von dem kleinen Wasserfall eingewiegt.

Enttäuscht von den mageren Informationen, die ich besass, hatte ich ihre Besteigung gewissermassen zum Trost vorgesehen. Am 19. Juli 1971 kommen wir bei bedenklich unsicherem Wetter, das sich alsbald in um so sichereres Regenwetter verwandelt - ein achtstündiger Dauerregen, genau so lang wie unser Anmarsch -, von Norden, von der Alp Grenchenberg, her. Nachdem wir den Galitepass überschritten haben, machen wir bei der Sennhütte Alpligen, die noch leersteht, Rast; wir essen am Tisch des Älplers, während mein getreuer Regenschirm -etwa der zwanzigste, seit ich in den Bergen um-hervagabundiere - abtropft. Und da geschieht es, dass auf einmal durch die kleinen viereckigen Fensterscheiben unsere Nadel hereinguckt: ein Alarmzeichen sowohl für meinen Kameraden Hennel als auch für mich! Sofort machen wir uns auf, um nachzusehen, wo die aus dem Nebel aufgetauchte « Schöne » eigentlich ihren Unterbau hat. Eine trügerische Schlechtwetter-pause treibt uns nach draussen in der absurden 3 Hoffnung, noch am selben Tag eine Besteigung verwirklichen zu können. Ein ungewöhnlich jäher Abstieg im durchnässten Wald führt uns zum Sattel, der die Nadel mit dem Bergmassiv verbindet; denn sie erhebt sich vom abwärtszie-henden Gratkamm immerhin so hoch, dass sie über der Alp thront. Unsere Diagnose ist bald gestellt: Eine Besteigung von dieser Seite aus ist gar nicht einfach - und nachdem unser Anmarsch schon recht feucht war, wird nun alles noch durch weitere Regenschauer vom Himmel durchtränkt, so dass wir unsere ehrgeizigen Besteigungspläne unter dem Regenschirm verwahren, um unsere Schritte bescheideneren Zielen zuzuwenden, zufällig zum Gipfel der « Schibe ». Wirgelangen wieder zur Grenchenbergalp, durch und durch nass, aber in unseren Herzen brennt ein unwiderstehliches Verlangen, hierher zurückzukommen, und zwar möglichst bald, das heisst vier Tage später... unter blauem Himmel, am 23. Juni 1971.

Diesmal rücken wir von Süden an, indem wir die mit einem Strassenzoll belegte Strasse von Oberwil zur Alp Schwadrei benützen. Fritz Tschabold, den wir in Erlenbach besuchten, beehrt uns mit seiner Begleitung, bis wir in Sichtweite der Nadel kommen. Es ist aufregend, hier zu sein in der Gesellschaft des Mannes, der vor vierzig Jahren die Kühnheit besass, diesen Monolithen zu besteigen. Damals kletterte man noch in des Wortes wahrster Bedeutung in die Höhe, ohne Haken.

Der Zugang zum Sattel ist uns bekannt.

Es dauert nicht lange, bis wir in Reih und Glied angeseilt sind: Präsident und Ehrenpräsident - unsere ganze Partie. Gleich zu Anfang stellt sich uns ein glatter Fels entgegen, nach unserem Geschmack ein viel zu glatter, bis zum ersten Haken. Die Fortsetzung des Aufstiegs ist folgerichtig; einige Haken kennzeichnen ihn, und zwei Haken mit Reepschnur erleichtern die Überwindung einer kleinen Mauer beträchtlich. Die Route mündet auf dem Grat aus, der zum Gipfel führt. Die Kletterei ist durchwegs schwierig ( IV, IV.

Ein neueres Gipfelbuch ist oben aufgelegt. Ein Stahlkabel vertäut den Gipfelblock - ein willkommenes Hilfsmittel zur Befestigung des 35-Meter-Seils, um zum Sattel abzuseilen. Wir sind mit uns und der Welt zufrieden, weil wir unser gestecktes Ziel erreicht haben. Indessen hat uns Fritz Tschabold angekündigt, dass junge Oberwiler Bergsteiger die Südwand ins Auge gefasst hätten, jene ioo Meter hohe Senkrechte ( deren Besteigung ihnen am 27. Juni 1971 gelingen sollte ). Wir untersuchen sie gründlich und photographieren sie auch - erstes Manifest eines lange dauernden Prozesses, der dazu führt, dass wir ihre Besteigung unbedingt verwirklichen wollen.

Ein paar Monate später macht mich Fritz Tschabold, mit dem ich eine Wiederholung seiner Stockhorn-Nordwand-Erstbegehung auszuführen im Begriffe bin - bei Hagel und Regen übrigens -, an der Station der Seilbahn mit Martin Isler, einem der vier Kletterer, denen die Besteigung der Südwand gelungen ist, bekannt. Dieser will mich sogleich überreden, seine Route zu versuchen, was aber andere Pläne im Moment nicht zulassen.

Im Verlauf des Winters komme ich zu der Überzeugung, dass nur die Besteigung der Südwand der Nadel mein unruhiges Gemüt befriedigen kann. Am 7. Mai 1972, nach einer eintägigen Kletterei an der Mittagßue, biwakiere ich mit meinem Freund Bindy auf Schwadrei. Den nächsten Tag haben wir für die Südwand reserviert. Sie aber ist nicht darauf vorbereitet, uns zu empfangen. Nach dem langen Abstieg im Wald stehen wir am Ausgangspunkt unserer Führe, von der ich eine detaillierte Beschreibung sowie eine Aufnahme mit eingetragener Route besitze. Das unsichere Wetter und der nasse Fels - es hat noch gestern abend geregnet - erlauben Bindy nicht, über die ersten zehn Meter hinauszukommen. Beim Einstieg, dem schwierigsten Abschnitt der Route ( V, gilt es vor allem im labilen Gleichgewicht und, von einem dürren Baum ausgehend, den ersten Haken in einem Riss unterhalb eines Wulstes zu erreichen. Dann folgt ein Quergang nach links, wobei man die Griffe benützt, die uns unsere Spürnase finden lässt. Momentan führt allerdings eine heikle Traverse in umgekehrter Richtung Bindy wieder an den Ausgangspunkt seiner Bemühungen zurück. Wir räumen darum das Feld, nachdem wir im übrigen festgestellt haben, dass die Fahrstrasse bis zur Alp Alpligen verlängert wird. Ein zur Zeit abgestellter Trax, dem man die Strapazen der vergangenen Woche noch anzusehen glaubt, scheint das Terrain abzumessen, das er noch auszuheben hat -auf Kosten des Waldes und des alten Weges von Schwadrei nach Alpligen. Eine bislang unter dem wohlwollenden Auge des Schöpfers in ihrem urtümlichen Zustand erhaltene Alp wird erschlossen. Die Welt kann dadurch vielleicht etwas gewinnen, sie aber hat durch diese alles zu verlieren. Darum will ich auch nur noch ein einziges Mal hierherkommen, das eine Mal nämlich, wo es mir gelingen wird, die Südwand zu begehen. So wird das Bild, das von diesem Ort später in meiner Erinnerung haften wird, nicht durch eine bedauerliche Wirklichkeit getrübt sein. Warum muss nur alles, was unversehrt ist, angetastet, verletzt und entwürdigt werden?

Am 3. Juni 1972 befinden wir uns wieder in der Gegend auf dem Weg zu anderen Routen und stellen unsern Wagen hinter dem Trax ab, der immer noch auf seinen Einsatz wartet, und einem Auto, das aller Wahrscheinlichkeit nach andern Bergsteigern gehört. Wir sind unser vier: Unsere Bergführerfreunde Paratte und Petermann, verführt von dem, was wir ihnen über die Nadel berichtet haben, sind mit von der Partie und werden die Freude erleben, den Monolithen zum erstenmal zu geniessen. Ich selbst bin nun schon zum viertenmal zur Stelle: zwei Misserfolge bei zwei Gewinnen. Hab'ich da nicht ein erfolgreiches Finale verdient? Unsere Führer entdecken vom Fuss der Nadel aus einen Weg, der den Abstieg im Wald und die Querung eines steilen Hanges ausschliesst.

Da vernehmen wir plötzlich Stimmen in unmittelbarer Nähe. Sie gehören zwei Kletterern, die soeben mit dem Einstieg beschäftigt sind. Wir befinden uns in glücklicher Gesellschaft, denn es sind J.P. Kunz und R.M.üller, zwei erstklassige Kletterer. Auf Anhieb sind wir einander sympathisch; jeder versucht sich in der Sprache des andern, so dass wir uns immerhin verständigen können. Wir folgen nun der Deutschschweizer Seilschaft, die das Vergnügen hat, ihre Route entdecken zu lassen. Im übrigen betrachten die beiden unsere akrobatischen Anstrengungen bei der Überwindung der Einstiegsstelle ( Vmit schadenfroher Neugier. Der beim letzten Versuch erreichte Punkt liegt bereits hinter uns, und kleine Gras- und Erd-bänder - die man von unten niemals erwarten würde - überraschen eher negativ, weil die Sonne noch keine Zeit fand, sie zu trocknen. Diese erste Seillänge ( gemischt ) bietet indessen eine schöne Kletterei und führt an den Rand der Nadel, den man übrigens vom Wald aus erreichen kann. Wir haben jetzt den richtigen Rhythmus gefunden, und die folgende Seillänge klappt ausgezeichnet. Man steigt zuerst dem Pfeiler entlang, um dann nach links abzuschwenken und einen Pendelquerschwung am fixen Seil auszuführen, das unsere Freunde entgegenkommenderweise an Ort und Stelle liessen. Von der Beschreibung ist mir der Ausdruck « Sanduhr » in Erinnerung geblieben, und nun sehe ich das Seil, an einer Art « Felsarmband » befestigt. Nach kurzem Abstieg klettert man zum nächsten ausgesprochen luftigen und wenig bequemen Standplatz. Von hier aus kann man die Verschneidung sehen, die in dieser Wand ganz unvermutet auftritt und in welcher der Anstieg weitergeht. Ein hübsches kleines, wieder etwas steileres Wändchen führt an ihren Fuss. Die Kletterei ist immer gemischt, wird dann aber in der ziemlich heiklen Verschneidung artifiziell ( A2 ). Aus dieser steigt man ( vor dem Gipfel ) aus, um die Höhe der Platte zu erreichen, die den Gipfel bildet. Das ist eine hervorragende, sehr exponierte Stelle. Der Schlingenstand lässt kein Gedränge von mehreren Seilschaften zu; auch verlangsamen wir zur Erleichterung unseren Anstieg etwas. Ein U-Haken, der zur Sicherheit angebracht wird, weitet den Spalt so viel, dass sich der alte U-Haken zu unserer Überraschung von Hand herausziehen lässt. Es ist darum vermutlich besser, diese Gefilde zu verlassen, und dies um so eher, als die letzte Länge zwar mit einer ganz schönen Horizontalque-rung beginnt, aber mit einer artifiziellen Steigung fortfährt. Unsere Freunde sind nach einem letzten Abschnitt, den sie in freier Kletterei bezwungen haben, praktisch auf dem Gipfel angekommen, denn labile Blöcke und Grasbüschel lassen das Ende der Kletterpartie erwarten. Von dem so lange ersehnten Gipfel aus bewundern wir mit immer wieder neuer Begeisterung das aussergewöhnliche Panorama der verschneiten Alpen und Voralpen unter der blendenden Sonne.

Alles muss ja wie am Schnürchen gehen, da unsere Freunde speziell für uns auch noch ihre Abseil-Seile an Ort und Stelle gelassen haben; wir benützen diese sofort, damit wir von einem nahen Felsen aus noch den Verlauf der letzten Länge beobachten können.

Und siehe! Schon ist wieder eine unserer zahlreichen Kletterfahrten zu Ende, Erinnerung geworden, und zwar eine von jenen, die unser kostbares Kästchen, gefüllt mit schönen Tagen, die uns das Leben beschert hat, bereichern.

Wenn Du dich, lieber Leser, anschickst, diese Nadel zu erklimmen, so sollst Du daran denken dass sie schon vor vierzig Jahren von Männern bezwungen worden ist, die, wie wir, etwas anderes suchten als ein Alltagsleben. Ihr Abenteuer entspricht dem unsrigen von heute. Solche Taten von 1930 und 1972 haben eines gemeinsam: Sind sie auch keine Notwendigkeit, so erscheinen sie denen, die sie ausführen, doch unerlässlich. Wenn Du dazu auch noch den Liebreiz dieser Gegend zu schätzen weisst, iGran Paradiso und Becca de Montadayné oberhalb des Glacier de la Tribulation 2Biwak am Grand Neyron wenn Du zu sehen verstehst, was viele nicht mehr zu betrachten vermögen, so wirst Du die Gewissheit haben, einer von jenen Bevorzugten zu sein, die ein Abenteuer wirklich gelebt und erlebt haben... und dafür sollst Du dankbar sein.

Übersetzung R. Vögeli

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