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Klettertage im Bergeil

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Gian Andri Töndury.

Mitte August 1933. Vollgepfropfte Rucksäcke stehen bereit — sehr verheissungsvoll — weniger das Wetter, denn es regnet in Strömen! Wir zwängen uns in den Babyford, und unsere nette Chauffeuse Elvira fährt rasch über die wunderbare neue Strasse nach Maloja und ins Bergell hinunter. Mitten im Walde, noch lange vor Vicosoprano, steigen wir aus, Karli weiss eine gute Abkürzung. Elvira fährt wieder heim.

Wir sind zu dritt: Führer Karli Freimann, Carlo Lerch und ich. Wir steigen langsam und regelmässig. Der Weg ist schön, und man gewinnt rasch an Höhe. Die Aussicht auf das wilde, enge Mairatal wird immer gewaltiger. Das Gewitter ist vorbei und die Luft herrlich kühl. Oft pflücken wir am Weg Himbeeren und Heidelbeeren.

Der Wald lichtet sich schon. Es wird flacher, und bald stehen wir auf dem Staudamm. Durch den Gewitterregen hat sich der See stark gefüllt. Das Wehr dient einstweilen nur als Schutz gegen Hochwasser. Um 730 Uhr stehen wir vor der Albignahütte, froh, unsere Säcke abladen zu können. Und es dauert gar nicht lange, bis Karli dampfende Spaghetti auf den Tisch setzt.

Ago di Sciora.

3 Uhr Tagwacht! Wolkenloser HimmelNach einem guten Frühstück verlassen wir um 4.35 Uhr die Hütte. Der Stausee ist über Nacht ausgelaufen, und wir wandern durch Sumpf und Sand zum Albignagletscher hinein. Auf diesem lange und wenig steil dem schönen Monte Zocca zu. Rechts umschreiten wir die äussere Scioragruppe, zuhinterst im Gletscherkessel biegen wir nach rechts, Westen, ab. Der Gletscher wird etwas steiler. Auf einer jähen Schutthalde steigen wir zum kleinen Agogletscher hinauf, und plötzlich öffnet sich uns der imposante Anblick einer idealen Felsnadel: Ago di Sciora. 0h, welche Kletterfreude wir da bekommenÜber steilen Gletscher und einen grossen Schrund steigen wir weit links in die Wand ein. Es ist 715 Uhr. Prächtig ist der Blick auf Monte Zocca, und über dem Zoccapass steht er, der Monte della Disgrazia.

Wir essen etwas « charn crüja », ziehen Kletterschuhe an und seilen uns an. Die Säcke lassen wir unten. Karli hat seinen Filmapparat mit, also muss auch sein Sack auf den AgoDie Kletterei beginnt gleich. Es geht zuerst direkt in der Wand zu einem bequemen Band hinauf, das schräg aufwärts bequem zum Agoturm führt. Auf dem Band bringt uns eine leichte bis mittelschwere Kletterei weiter, sie ist sehr interessant und kurzweilig, bietet meist nur kurze Kamine. Um 850 Uhr stehen wir schon in der Bocchetta del Ago. Welch wilder Blick auf den Bondascagletscher! Nun beginnt die Kletterei am Turm. Zuerst etwas nach rechts und dann in einem schönen steilen Kamin. Hie und da sieht man verfaulte Seilschlingen hängen. Der Kamin ist ziemlich lange. Bald muss man stemmen, oder man klettert auf der linken äusseren Kante. HerrlichÜber eine Platte nach links und dann auf einem kleinen Band in die Südwand hinaus. Es folgt wieder ein schöner Kamin bis kurz vor dem Gipfel. Nun in die Wand auf der Bondascaseite. Ah, der Tief blick! Viele hundert Meter unter uns liegt der stark zerrissene Bondascagletscher. Über ein kurzes Wändchen gelangen wir auf einen scharfen Grat zwischen dem Doppelgipfel. Nun ein Stück in Reitstellung. Die beiden Karls sind schon oben, und es wird gefilmt. Ich klettere noch ein Stück dem Grat nach, dann folgt ein heikler, schwieriger Quergang in der exponierten Wand, doch nur kurz, und schon schaffe ich mich mühsam stemmend und pustend bis unter den Gipfelblock und dann leicht auf den Gipfel.

Packend ist der Blick auf die schroffen Bondascaberge: Gemmelli, Cengalo, Badile. Weit unten auf der anderen Talseite liegt wie ein Schwalbennest an sonniger Halde das reizende Dörflein Soglio. Wir gemessen eine köstliche Gipfelrast von fast einer Stunde. Zu früh folgt der Abschied. Die Kletterei nach unten ist meistenteils bedeutend schwieriger, denn wir seilen nicht ab. Beim Schrund entgleitet Carlos Geldbeutel und fällt hinein.

Über den kleinen Gletscher steigen wir rasch zum Albignagletscher hinunter und wandern zur Hütte hinaus.

Punta Pioda di Sciora.

Um 5 Uhr verlassen wir die Albignahütte. Das Wetter ist gut. Doch bald zeigen sich verdächtige Wolken. Bis auf den Agogletscher haben wir den gleichen Aufstieg wie für den Ago. Nun biegen wir nach rechts ab und höher hinauf zum breiten Schrund, seilen uns an und klettern schon in der gebänderten Wand empor. Wir nehmen alles mit, weil wir vielleicht über die Sciora di Fuori traversieren. Auf dem untersten Gratabsatz angelangt sehen wir, dass das Wetter sich arg verschlechtert hat, es sieht sehr nach Regen aus, und wir beschliessen, möglichst rasch hinauf und auf gleichem Wege herunter zu klettern.

Kletterschuhe an, Säcke ab. Auf einem Band queren wir in die Ostwand, und dann folgt eine sehr anregende und gar nicht schwierige Plattenkletterei. Wir schaffen alle drei zusammen und ziemlich rasch. Oben hat man einen schönen Blick in die Agonordwand. Das letzte Stück ist sehr steil, doch nur mittelschwer.

Um 940 Uhr sind wir auf dem Gipfel. Der Blick ist noch wilder und schöner als vom Ago. Das Wetter hält sich ziemlich gut. Um die schöne Disgrazia bilden sich wunderbare Wolken. Schauerliche Wände stürzen von der Punta Pioda in die Bondasca. Der Gipfel hat die Form eines langen, scharfen Dachgiebels.

Auf gleichem Wege klettern wir hinunter. Nach dem Schrund gibt es eine amüsante Rutschfahrt, und dann tippeln wir wieder den langen Gletscher zur Albignahütte hinaus. Es ist erst 3 Uhr, und wir haben nun so schön Zeit zum Faulenzen und das herrliche Granitland in aller Ruhe zu geniessen, besonders die wunderbaren Wolkenbildungen im Gletscherkessel hinten. Die Luft ist so angenehm, und wir plaudern lange. Wie viele herrliche Erinne- rungen und Hoffnungen steigen auf, wenn man in einer Sternennacht vor einer einsamen Hütte sitzt und sinnt! Unter uns rauscht und zischt das Wasser des Albignafalls.

Casnilepass-Fornohütte.

Ziemlich stark bepackt verlassen wir die Albignahütte und steigen über steile Rasenhänge. Bald sind wir bei einem reizenden See. Alle Berge spiegeln sich klar und deutlich darin, am Ufer wiegen sich ringsum flockige Wollblümchen. Und über uns tiefblauer Himmel. Das Ganze ein Gemälde des BergfriedensWieder steigen wir langsam dem Casnilepass zu, zuoberst über eine lange Steinwüste. Die Schau auf die Sciorakette und die Cima di Cantone macht das Herz klopfen. Nun öffnet sich den Blicken ein anderer mächtigerer Gletseherkessel: FornoDer Abstieg zu ihm ist kurz, aber steil und der Gang darüber leicht. Kurz nach Mittag stehen wir vor der Fornohütte. Der gemütlichen « Mungg » hebt uns gut auf. Bis zum Abend liegen wir auf den schönen warmen Felsplatten des Hüttenplatzes und bewundern hungernden Auges die scharfen Zacken und Wände der Torrone-Rasica-gruppe.

Punta Rasica.

Heute am 19. August haben wir unsere grösste und schwierigste Fahrt vor. Das Wetter ist gut und die Luft sehr klar, nur etwas zu warm.

435 Uhr verlassen wir die Fornohütte. Auf dem flachen Gletscher kommen wir rasch voran. Hinten, im Gletscherkessel, biegen wir nach rechts ab, am Fusse der Cima di Castello entlang. Es wird steiler, aber der Schnee ist so schön hart, dass wir ohne Seil und Steigeisen gehen können. Nach zwei Stunden seilen wir uns beim Bergschrund an. Dieser ist sehr breit, und die dünne Schneebrücke sieht nicht sehr einladend aus. Wir sichern gut, und dann schreitet einer nach dem andern vorsichtig drüber, wie auf Eiern. Es folgt ein kurzer steiler Eishang. Breite, gut ausgehauene Stufen führen uns zum Einstieg in die brüchige Felswand. Die Steigeisen lassen wir hier zurück, und schon folgt eine Kletterei durch Kamine und auf schmalen Bändchen. Überall liegt viel loses, verwittertes Gestein, das grosse Vorsicht heischt.

735 Uhr stehen wir auf dem Colle Rasica. Eine kurze Rast. Kletterschuhe an, und alles Überflüssige bleibt zurück. Beim Colle beginnt nun eine ganz einzigartige, herrliche Gratkletterei. Wir wählen nicht den gewöhnlichen Weg, der auf Bändchen durch die Wand führt, denn wir wollen den Südostgrat in seiner ganzen Länge überklettern, was auch schon zum Filmen viel reizvoller ist. Auf allen Seiten fallen fast senkrechte Wände zu den steilen Gletschern hinunter. Hinter uns steigt kühn und wild ein steiler Felsgrat zum Torrone Occidentale empor.

Unser Grat ist oft messerscharf, aber aus herrlich festem Granit gebaut, das Ideal zum Klettern! Der Grat strebt immer steiler und zuletzt senkrecht zum Vorgipfel hinauf. In kleinsten Nischen leuchtet das dunkle Blau der Enzianen heraus, kleine Sterne, die einem in dieser Wildheit der Natur so wohl tun. Auch andere Blumen blühen, der reinste Alpenfrühling.

Noch nie hat mir eine Kletterei so gut gefallen wie eben diese. Durch ein enges steiles Kamin stemmt Karli zum Vorgipfel. Wir klettern links davon, benützen einige kleine Ritzen. Zuoberst wird der Gang ziemlich schwer und anstrengend. Durch ein Kamin schlüpfen wir auf den Vorgipfel. Und da, welch schauriger Anblick der hohen und schwierigen Gipfelplatte! Es ist der berühmte Gipfelblock der Punta Rasica, den man nur an einer Stelle erklettern kann. Nun flott über scharfe Zacken hinweg. Wir bereiten uns psychisch und physisch auf das letzte schwere und anstrengende Stück vorKarli beginnt die Kletterei, er klettert ausgezeichnet, sehr vorsichtig und immer vollständig sicher. Er ist Führer und verdient vollkommenes Vertrauen. Ein riesiger Spreizschritt — und schon klebt er an der senkrechten Kante. Ich filme und photographiere von meinem luftigen Standort aus. So muss Karli lange an der Kante verweilen, kann aber auch seine Kletterkünste zeigen. Nun kommt Carlo an die Reihe, er ist gut von oben gesichert. Der grosse Schritt klappt nicht ganz, er rutscht aus, pendelt einen Augenblick in der Luft — aber mit einem kleinen seitlichen Seilzug steht er wieder auf festem Boden. Der zweite Versuch gelingt, und bald höre ich weiter oben sein rasches Schnaufen. Jetzt folge ich. Der Moment vor dem grossen Schritt über den Abgrund macht am meisten Eindruck, man muss aufpassen, mit dem richtigen Bein zu beginnen. Alle Energie zusammen und — hopp, es ist gut gegangen. Mit einem schlechten seitlichen Griff klebe ich an der senkrechten Kante. Ich weiss nicht wie, aber plötzlich habe ich die scharfe und dünne Kante zwischen den Knien und stemme mich senkrecht hinauf bis zu einem kleinen Zacken. Hier Atempause, denn es ist wirklich anstrengend. Wieder mit aller Energie weiter. Die Kletterei ist ausserordentlich luftig, denn der Gipfelblock hängt auf der italienischen Seite etwas über. Nun naht das schwierigste Stück. Die Kante wird breiter und rund, auf einige Meter grifflos, so dass man nur mit Reibung klettern kann. Das ist ein richtiger « Krampf », aber auch er geht vorbei, und pustend erreiche ich die Spitze. 1020 Uhr.

Redlich haben wir den Gipfel und die Rast verdient und geniessen sie auch voll und tief. Herrlich klar ist die Fernsicht. Über den Felszacken der Sciora und Bondasca leuchtet jeder einzelne Gipfel der Walliser Alpen zu uns herüber, und unbeschreiblich wild, ja grausig, ist der Tiefblick in die Feisund Eiswände der Torronegruppe.

Der Abstieg am Gipfelblock ist mehr eine Anstrengung und Zumutung für die Kleider als für den Kletterer. Unter dem Block wollen wir eine Büchse Himbeeren geniessen, aber sie liegt bei den Säcken untenAuf der gewöhnlichen Route steigen wir hinunter, auf leichten Bändchen mit losem Schutt, wirklich nichts Schönes! Zuunterst in der Felswand machen wir eine unangenehme Entdeckung: die ganze Brücke über den grossen Schrund ist eingestürzt und der Schrund selbst viel zu breit für einen Sprung. Suchend klettern wir der Felswand entlang und verlieren dabei nicht weniger als drei Stunden! Ich muss auf die Suche nach einer Brücke, was nicht sehr gemütlich ist. Karli lässt mich 60 m am Seil hinunter, und ich taste vorsichtig mit Steig- eisen am steilen Hang. Endlich finde ich einen guten Keil, seile mich los und warte lange, bis alle drei wieder beisammen sind. Nun zum Gletscher hinab und dann langweilig und eintönig darüber hinaus zur Fornohütte.

Cima del Largo.

Wir erwachen am folgenden Morgen ziemlich spät und sind müde. Carlo muss seine Kletterschuhe flicken, alles hat etwas gelitten! Wir beschliessen, den Bacone über den Nordgrat zu begehen. Jenseits des Fornogletschers steigen wir rasch über die steilen Rasenhänge unter dem Berge. Wunderbare Wolken manöverieren am Himmel, und Nebel steigt aus den Tälern.

Letzten Sommer bin ich mit anderen Freunden im Bergell gewesen, und als schönste Erinnerung ist mir die Cima del Largo geblieben — ein herrlicher Berg, den man wirklich lieb haben muss. Heute ist ein besonders schöner Tag für mich, und als Feier möchte ich wieder den Largo besuchen. Alle sind einverstanden. Auf der Forcola del Bacone öffnet sich ein schöner Tiefblick ins Bergell. Nach einem Imbiss klettern wir auf dem leichten Grat gegen den Largoturm. Ah, wie stolz und wild ist der Anblick dieses Turmes! Seine Wände stürzen mit unerhörter Wucht zu Tale. Und hoch darüber diese Wolken, diese leichten Kinder der LuftErst kurz vor dem Turm seilen wir uns an. Die Kletterei hinter den Zacken herum ist ein Vergnügen. Es folgt ein Riss über eine schräge Platte, ein grosser Schritt im senkrechten Wändchen, das schräg nach oben ziehende Band, dann ein luftiges Leistchen in der Südwand — und schon sind wir zuoberst. Alles zusammen ausserordentlich hübsch, nur etwas kurz und nach den andern Klettereien nicht schwer.

Aber der Largo hat etwas ganz Besonderes an sich: sein Tiefblick ist schöner als alle andern. Man übersieht wie aus dem Flugzeug das ganze Bergell bis Chiavenna. Ähnliches nicht leicht zu finden. Man darf solche Warte nicht früh verlassen, muss restlos auskosten, was sie schenkt. Sie ist ein stolzer Bergwirt, der den Tisch reichlich deckt für seine Gäste und jedem nur Auserlesenes bietet. Er verlangt nur, dass man zu ihm kommt an einem schönen Tage, sonst nichts.

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