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Lasst hören aus alter Zeit

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VON ARNOLD TSCHOPP, BASEL

Sollten Sie annehmen, von mir eine mit bundesrätlich-tremolierender Stimme gehaltene, von sprühendem Patriotismus strotzende Rede entgegennehmen zu müssen, wie sie an Schützenfesten und Hundeausstellungen gehalten werden, dann täuschen Sie sich gründlich. Denn meine Vaterlandsliebe und meine Verbundenheit mit der angestammten Heimat betrachte ich nicht als Hau-sierartikel, sondern als eine ganz persönliche Angelegenheit des Herzens, von der man nicht viel spricht, aber darnach handelt.

Wenn Sie aber glauben, dass ich Ihnen von kühner Ahnen Heldenstreit berichten werde, muss ich Sie abermals enttäuschen. Denn obwohl ich einige Jahrzehnte durchgestanden habe, reichen meine Erinnerungen doch nicht zurück in jene Zeit, wo unsere Vorfahren mit Dreschflegeln ihren Widersachern die Schädel zertrümmerten oder mit Mistgabeln die Gedärme kitzelten und schliesslich die verschiedenen, sie unterdrücken wollenden Vorfahren der Hitnassolini zum Teufel jagten. Auch von Speerstoss und wildem Schwertkampf, von Schlachtstaub und heissem Blutdampf könnte ich Ihnen nur wiedererzählen, was mir mein Primarlehrer sehr anschaulich und mit vaterländischer Begeisterung bei der Schilderung von Schlachten im Geschichtsunterricht übermittelt hat. Meine eigene Erfahrung im Kriegshandwerk beschränkt sich auf Taktschritt, Gewehrgriff, Auslegeordnung und stilgerechten Gruss. Dass ich in diesen strategisch hochwertigen Disziplinen meinen Mann gestellt habe, beweist Ihnen meine militärische Laufbahn, die ich Ihnen mit der Bitte, mich nicht für unbescheiden zu halten, nicht vorenthalten möchte. Allerdings wurden mir beim Start dazu vom Aushebungsoffizier die Flügel empfindlich gestutzt. Auf den Rat meines Mathematiklehrers meldete ich mich zur Positionsartillerie. Ein Alterskamerad, der vor mir vor dem Allgewaltigen stand, wurde, da er eine Empfehlung seines Vaters, der auch zu den Militärs mit Christbaumschmuck gehörte, vorweisen konnte, ohne jegliche Einwendung nach seinem Wunsch der Position zugeteilt, obwohl er in Mathematik keine Stricke zerriss. Da konnte es bei mir als angehendem Mathematiker nicht fehlen. Der nachfolgende Dialog spiegelt meinen Erfolg wider.

Er: Wo wünschet ihr iteilt z'wärde? Ich: Position. Er ( mit grossen Augen ): Was sit ihr? Ich: Student. Er: Was studieret ihr? Ich: Hauptsächlich Mathematik.Er(über die Brillengläser blickend ): Was weit ihr wärde? Ich: Voraussichtlich Lehrer. Er ( höhnisch grinsend und mit verwunderten Augen ): Für en Schuellehrer isch d' Infanterie guet gnueg. Und schon drückte er mit sichtlichem Behagen in mein Dienstbüchlein den Stempel: Infanterie. Nun wusste ich aus dem Munde eines Fachmannes, dass die Infanterie der Sammelkübel für nicht protegierte junge Männer war. Meine Militärfreudigkeit war mit einem Schlag vernichtet, und ich gelobte, mir in der Folge die grösste Mühe zu geben, den Weg des geringsten Widerstandes zu beschreiten, ohne mit dem Strafreglement in Konflikt zu kommen Das ist mir restlos gelungen, abgesehen von einer Straf kantonnements-wache, die mir von einem Kompagniekommandanten ungerechtfertigt diktiert worden ist, der in Erwartung eines grösseren Türks am Bötzberg seiner Nerven nicht mehr Meister war. Und das in Friedenszeiten, bloss bei einer Übung. Und die persönliche Karriere? werden Sie fragen. Numme nit gsprängt, seit mä z'Bern unter de Laube, aber gäng ä chlei hüü. Sie war eine extraordinäre, wie sie nicht jedem Nur-Infanteristen zuteil wird. Vom Patrouillenführer zum Gefreiten vorrückend wurde ich schliesslich zum Corporalis infanteristis honoris causa, auf gut deutsch zum Infanterie-korporal ehrenhalber, befördert. Die breiten, baumwollenen Bändel auf den Ärmeln des Waffen-rockes waren das sichtbare Zeichen meiner militärischen Tüchtigkeit. Ob der Militärschneider die Korporalschnüre zu weit hinten angenäht hatte? Das ständige Nach-vorn-Drehen der Ellbogen verursachte mir Achselschmerzen und ging in der Folge so weit, dass eine Luxation der Achsel zu befürchten war. Diese Dekoration erfolgte auf dem Gotthard, den das Basler Landwehrbataillon bewachen musste. Die bergungewohnten Basler Milizen machten lange Gesichter, als wir anfangs Oktober 1914 auf dem Lucendropass Quartier bezogen, und konnten meine Freude darüber nicht begreifen. Unser Zugführer versuchte seine Untergebenen mit der Umgebung an Hand der 100000er Karte bekannt zu machen. Doch seine Kartenkenntnisse reichten nicht so weit wie die Karte. Mit der Hand zur Blindenhorngruppe zeigend erklärte er diese als die Berge bei Zermatt. Der Richtung nach, die er mit dem Maßstab festlegte, stimmte es. Unter vier Augen machte ich ihn auf den Irr- tum aufmerksam mit dem Erfolg, dass ich von da an die Orientierungen und bei Ausmärschen die Führung übernehmen musste. Es war für mich eine grosse Freude, den bergtüchtigeren Teil des Zuges auf den Piz Lucendro führen zu dürfen. Ein Lichtblick in meiner Karriere.

Weniger erfreulich waren Rencontres mit andern Zugführern. Eines Tages ging die Havas-Meldung herum, der General sei im Anzug. Fatalerweise war ich an jenem Tag mit meiner Gruppe einem andern Zug zugeteilt, dessen Führer das Inspizieren und Kontrollieren als die wichtigsten Obliegenheiten eines Heerführers betrachtete. Schon nach der Tagwache begann die Fummlerei, der sich eine ins kleinste Detail gehende Auslegeordnung anschloss. Jeder Datei wurde einer hochnotpeinlichen Inspektion unterzogen. Die Nervosität des Inspizierenden steigerte sich zusehends gegen den Schluss des Zuges, an dem ich meine Siebensachen ordonnanzgerecht ausgelegt hatte. Bei mir angelangt, bohrten sich die Augen des grossen Strategen zuerst in den Mageninhalt meines entleerten « Affen » und dann wie ein grosses Fragezeichen in mein Gesicht. Es herrschte grosses Schweigen; eine Stille vor dem Sturm. Ich fühlte, dass ein Gewitter sich zusammenzog, und gab mir alle Mühe, Ruhe zu bewahren. Einen Grund für diese gespannte Sachlage konnte ich nicht feststellen. Die drei Nadeln waren mit Loch nach oben im Nadeletui; der Grünspan im Käppi war verschwunden, weil ich die Messingösen, die ihn erzeugten, herausmanipuliert hatte; die Patronentaschen waren leer, seitdem der letzte Stumpen im Hosensack vorübergehend Quartier bezogen hatte. Alles wichtige Punkte einer totalen Landesverteidigung. Gern hätte ich den Grund des Verhaltens meines Vorgesetzten gekannt. Aber mit zusammengepressten Lippen schaute der zürnende Donar bald auf den militärischen Plunder, bald in mein Gesicht. Ich musste mich zusammennehmen, um meinen Gleichmut nicht zu verlieren. Aber ich hielt Stand. Endlich öffneten sich die schnauzlosen Lippen des Inspizienten, und mit nicht zu überbietender Schnippigkeit stellte er die vorwurfsvolle Frage an mich: « Korporal, sin si marschbereit? » « Jawohl, das bin i », war meine selbstbewusste Antwort. « Sie si nit marschbereit », tönte es mit vor innerer Erregung zitternder Stimme. Jetzt kam Feuer ins Dach. « Wenn eine marschbereit isch, so bin ich 's », gab ich mit absichtlicher Überhebung zurück. « Sie si nit marschbereit. » « Doch i bin 's. » Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Slogans, bei dem sich die Soldaten die Patronentaschen in den Magen drückten, um nicht lachen zu können, deutete mein Gesprächspartner mit hoch in die Hüften gestemmten Fäusten auf meine Marschschuhe mit überlegener Selbstgefälligkeit: « Ihri Schuhbändel si z'kurz. » Damit glaubte er mich gebodigt zu haben, und als sichtbares Zeichen seines vermeintlichen Sieges stiegen seine gut gepolsterten Achseln noch höher. Das letzte Wort war aber noch nicht gesprochen und gehörte, wie mein Gegenpartner aus der Praxis wissen konnte, wie üblich dem Delinquenten, und mit erzwungener Gelassenheit gab ich zurück: « Das si Läderbändel; die tuet me chnüpfe und denn hebe sie der ganz Tag, au wenn me muess furtspringe. » Das war der Schluss der Inspektion, die sowieso für die Katze gewesen war, da weit und breit kein General sich zeigte. Ich hatte das Gefühl, 1:0 geputzt zu haben. Die Baumwollbändel hatten zwei silberne Galons besiegt. Meine Kameraden bestätigten, als der Zugführer klein und hässlich in der Versenkung verschwunden war, meinen Sieg und freuten sich unbändig über meinen Erfolg.

Einen weiteren, noch bedeutenderen Gutpunkt durfte ich für mich buchen anlässlich eines grossen Türks im Kappelborn. Unser Zug hatte die Aufgabe, die Stelle zu besetzen, wo Aare und Strasse am nächsten des Abhanges des Kappelborns liegen. Offenbar, um mich zu brüskieren, übertrug mir als dem Wegsucher der Kompagnie der Zugführer eingedenk der zu kurzen Schuhbändel die Aufgabe nicht, die Stelle zu suchen. Er wollte seine Kunst im Rekognoszieren zeigen. Der Erfolg war, wie nicht anders zu erwarten, erstaunlich. Mit zwei guten Gängern des Zuges verschwand er im Eiltempo in westlicher Richtung mit dem Befehl: « Wachtmeischter, füehre sie mir der Zug no. » Mir kam die Sache nicht ganz geheuer vor, als der Wachtmeister dieselbe Richtung einschlagen wollte. Wir konsultierten die Karte und stellten fest, dass die Stelle in direkt südlicher Richtung von unserem Standort lag. Es bedurfte meiner ganzen Überredungskunst, um den Wachtmeister zu überzeugen, dass der Zugführer mit seinen beiden Opfern eine um 90 Grad falsche Richtung eingeschlagen hatte. Nach einigem Hin und Her führte der Wachtmeister den Zug der Karte entsprechend südwärts. In einer guten Viertelstunde hatten wir die vorgeschriebene Stelle erreicht und besetzt. Vergebens warteten wir auf den Zugführer. Statt seiner ertönte viel-hufiges Pferdegetrampel; eine grössere Eskorte von Goldfasanen war im Anzug. Der Wachtmeister meldete den Zug und dessen Aufgabe, und aufatmend durfte er aus dem Mund eines mit goldenem Eichenlaub gezierten Militärs vernehmen, dass er die Aufgabe richtig gelöst habe. Der Tag ging zur Neige, als wir die Meldung vom Gefechtsabbruch und die Aufforderung erhielten, nach Oensingen zum Sammelpunkt des Bataillons zu marschieren. Den Zugführer haben wir an jenem Tag nicht mehr gesehen. Aber nachdem wir in Mümliswil Quartier bezogen hatten, rückten seine beiden Begleiter an. Sie gingen fast auf den Knien, fluchten und schimpften über die Irrfahrten im halben Gäu herum. Die älteren Jahrgänge der verehrten Leser werden durch meine Schilderungen an eigene in dieser Richtung liegende Erlebnisse erinnert werden, und die jüngeren haben Gelegenheit, die Bilanz zwischen einst und jetzt zu ziehen. Ich bin ganz überzeugt, dass diese ein bedeutendes Aktivum für das Jetzt ergeben wird.

Nach dem, was ich bis jetzt aus alter Zeit berichtet habe, könnte man meinen, ich hätte nur Militärdienst geleistet. Mein Bedarf in dieser Richtung war eingedenk des Ausspruchs des Aus-hebungsoifiziers und meines in jener ominösen Stunde abgelegten Gelöbnisses bald gedeckt. Die damit verbundenen Strapazen, denen ich nie aus dem Weg ging, betrachtete ich als ein Training für Bergtouren und waren daher leicht zu ertragen.

Auch aus diesem Betätigungsfeld möchte ich aus alter Zeit etwas hören lassen. In Tourenberichten alter Ordonnanz stiess man häufig auf das Wort « Hüttenidyll ». Immer wenn ich es gelesen, habe ich mich gefragt, ob nicht hinter diesem Ausdruck der alpinen Literatur ein verstecktes Märtyrertum stecke? Ob nicht die Absicht bestand, das Mitgefühl der Leser zu erschleichen und als anspruchsloser Mensch Bewunderung zu ernten. Ich weiss unter meinen vielen bekannten Bergsteigern keinen, der, nach längerem Aufenthalt in Clubhütten alter Währung nach Hause zurückgekehrt, sein Himmelbett abgebrochen und an seiner Stelle etwas moderndes Stroh oder Bergheu in einer Ecke des Schlafzimmers ausgebreitet hätte, um auch fürderhin ein idyllisches Lager zu haben. Als besonders idyllenhaft sind mir die Zapporthütte am Rheinwaldhorn und die Grünhornhütte am Tödi in lebhafter Erinnerung.

An einem schönen Sommertag stiegen wir vom Rheinwaldtal zur Zapporthütte an. Als die Hütte in Sicht kam, stellten wir fest, dass eine grössere Schafherde bei der Hütte lagerte. Jeder, der nicht ein kompletter Laie in Viehzucht und Alpwirtschaft ist, weiss, dass, wo Schafe sich aufhalten, es nicht gerade nach Air-fresh riecht. Wo man sich setzen will, liegt schon einer, aber ohne Kopf und Fuss. Offenbar war die Hüttentüre einmal offengestanden; denn auch im Innern fanden sich währschafte Spuren dieser vierbeinigen Wollbündel. Das war wirklich ein Idyll. Draussen die Verkörperung der Unschuld; drinnen ein Hütteninventar, das, quantitativ betrachtet, als genügend bezeichnet werden konnte, aber, qualitativ besehen, auch die primitivsten Ansprüche unterbot: eine der beiden Pfannen ungereinigt, rostig, die andere mit einem Loch. Das Besteck, meist weniger als mehr gewaschen, machte einen vorsintflutlichen Eindruck und schien aus der Arche Noah zu stammen. Das Lagerheu, das einer Teemischung vom Kräuter-pfarrer Künzli ähnlich sah, roch nach allem, nur nicht nach Blumenduft. Der feuchtmodrige Ge- ruch in der Hütte wurde durch den vor der Hütte in konzentrierter Form lagernden und sich stets erneuernden Schafsgestank übertönt. Die Wolldecken bestanden meist aus Löchern; diese waren die saubersten Stellen an ihnen. Glücklicherweise war das Wetter sonnig, so dass sich mit Durchzug bald eine Luftverbesserung konstatieren liess, vorausgesetzt, dass nicht eine durch Gewöhnung bedingte Selbsttäuschung vorlag. Dieses war das erste vielbesungene Hüttenidyll; das zweite folgt alsobald.

Ein älterer Verwandter im Glarnerland hatte mich überreden können, mit ihm eine Tödibesteigung zu unternehmen. Ich hatte einige Bedenken, weil mein Begleiter schon 70 Jahre alt war. Da er aber ein geübter Bergsteiger war, der die Glarner Berge fast restlos bestiegen hatte, durfte ich es wagen, mit ihm die Tour zu unternehmen. Um nach dem Aufstieg zur Grünhornhütte gut ausruhen zu können, bezogen wir am frühen Nachmittag daselbst Quartier. Nachdem wir die muffig riechenden Wolldecken auf dem Dach der Hütte gesonnt hatten, schien sie uns trotz der nackten Steinwände ziemlich behaglich, als die Wärme des Ofens den kleinen Hüttenraum erfüllte. Mein alter Begleiter legte sich zur Siesta auf die warmen Decken, während ich mit dem Dritten im Bunde, der im Zähneausreissen hoffentlich tüchtiger war als im Gehen auf zerrissenem Gletscher, den Weg rekognoszierte und über den untersten Bruch Stufen schlug. Als wir von unserer Arbeit, deren Früchte wir dann am frühen Morgen ernten konnten, zur Hütte zurückkamen, empfing uns der Zurückgebliebene in sichtlicher Erregung mit der Meldung, dass es in der Hütte von Mäusen wimmle.Von Ruhe sei keine Rede gewesen. Die feinpelzigen Vierbeiner seien auf den Decken herum-gesprungen, an den Wänden hochgeklettert und hätten sich am Brot gütlich getan. Mit Holzschuhen als Wurfgeschossen bewaffnet bezogen wir Gefechtsstellung. Bald krachte da ein Holzschuh an der Wand, bald dort auf dem Lagerheu. Es schien fast, als hätten wir die Viecher mit unseren Geschossen geweckt. Der Erfolg war negativ; wir mussten die Strategie ändern. Aus der Defensive gingen wir zum Angriff über, weil dieser die beste Verteidigung sein soll. Auch in unserem Fall hat sich das Schlagwort bewährt. Wir schafften bei offener Hüttentür das Heu beiseite und stocherten mit den Pickelspitzen in Löchern, Spalten und Ritzen herum. Bei dieser Operation stellte der Dritte seinen ganzen Mann. Während einige der braunen Nager die offene Tür zur Flucht benützten, wurden andere das Opfer brutaler Gewalt. Ein im hintersten Winkel liegendes Nest mit acht nackten Jungen wurde ruchlos aufgeschaufelt und über die Felsen auf den Bifertengletscher hinunterbefördert. Die Nacht verlief nach dieser « Operation Mäusetot » relativ ruhig, und bei ihrer Kürze störte uns das gelegentliche Piepsen der Reserve nicht sonderlich. Höchstens gab es zu geistreichen Reflexionen Anlass, da wir nicht wussten, ob wir es als Ausdruck des Mitleidens mit den fehlenden Genossen und Genossinnen oder aber als Schlachtruf: « Auf in den Kampf, Torero! » betrachten sollten. Sei dem, wie es wolle. Bis die Kampfeinheiten wieder erstellt, die Lücken in der Kampffront ausgefüllt waren, war die Zeit der Tagwache gekommen, und die tapferen Helden verliessen mit geschwellter Brust den Schauplatz ihrer Tat.

In meiner Jugendzeit hat man mir erzählt, dass es Regen gebe, wenn man einen Wurm töte. Als ich aber beim Umspaten des Gartens am laufenden Band Würmer zerschnitt und keine drohenden Wolken sich türmen sah, hegte ich Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser Prophezeiung. Ob es bei Mäusen anders ist? Fast könnte man es annehmen; denn nach gelungener Besteigung, die in Anbetracht des Bergveteranen sich lange ausdehnte, überraschte mich ( meine beiden Begleiter waren der überstandenen Strapazen wegen in der Fridolinshütte zurückgeblieben ) in der wilden Limmernschlucht ein Gewittersturm, wie ich ihn vorher und seither nie erlebt habe. Einige Zeit glaubte ich, meine letzte Stunde sei gekommen Ich befand mich mitten in dem Hexenkessel. In nächster Nähe fuhren die Blitze nach allen Richtungen wie wild dahin und liessen die nachtdunkle Gegend gespensterhaft aufleuchten. Unheimlich rollte der Donner, vielfach verstärkt durch das von allen Wänden widerhallende Echo. Sintflutartiger Regen, vermischt mit Hagelschlossen, prasselte auf mich nieder. Nirgends war ein Unterstand, nirgends ein schützendes Dach. In stumpfer Resignation eilte ich fürbass. Endlich, im Schutz der gedeckten Panthenbrücke, liess ich die Elemente sich austoben. Noch heute, nach 40 Jahren, kommen mir bei heftigen Gewittern die nackten Mäuse-kinder der Grünhornhütte in den Sinn, obwohl durch die ausgestandene Angst inmitten des Hochgewitters meine Tat zur Genüge gesühnt war.

Heute gehören solche Hütten mit ihren idyllischen Verhältnissen der Vergangenheit an. Ein Hüttenwart waltet als Rattenfänger, oft auch als Schlangenfänger, und sorgt für die Instandhaltung des Inventars. Allerdings nur in der sicheren Erwartung eines ansehnlichen Trinkgeldes übernimmt er auch die Koch- und Reinigungsarbeiten. Diese das Hüttenidyll eher beeinträchtigenden als erhöhenden Inventarstücke gab es zu meiner Zeit nur ausnahmsweise. Auch die Proviantver-sorgung war unsere Sache; in schweren Rucksäcken buckelten wir ihn zur Hütte. Dass die Menus nicht so lukullisch waren, wie das heute der Fall ist, wird niemanden verwundern. Da zu meiner aktivsten Zeit keine Seilbahnen zur Verfügung standen, waren die Anstiege zu den Hütten mühsam und beschwerlich. Der Proviant wurde weniger nach dem Gaumen als nach dem geringsten Gewicht und dem kleinsten Volumen gewählt. Einer meiner verschiedenen Begleiter war ein begeisterter Anhänger von dürren Landjägern; ein anderer hatte sich den Bouillonwürfeln verschrieben. Dass ein unbändiger Durst ein steter Begleiter war, braucht kaum erwähnt zu werden. Etwas Absinth, von dem wir stets bei uns hatten, musste das Schnee- und Gletscherwasser entkeimen und trinkbar machen. Glücklicherweise waren Anno dazumal noch nicht so viele Elektrizitätswerke in Betrieb, sonst hätte man uns für den Energierückgang während unseres Aufenthaltes in den Bergen verantwortlich gemacht.

Mit einem solch grenzenlosen Durst kamen wir über den Beichpass aus dem Aletschgebiet, wo wir zehn Tage verbracht hatten, ins Lötschental. Das hellgetünchte Kirchlein von Blatten leuchtete weit ins Tal hinein. Noch heller aber strahlte in unserer Erinnerung die in ihrer Nähe liegende Wirtschaft zur Alpenrose. Sie war uns von früheren Touren bekannt, und der Gedanke an den einstmals geschlürften Fendant liess uns die Schritte beschleunigen. Während der letzten zwei Stunden hatte die Absinthflasche Ruhe, und der leicht fächelnde Wind von Westen her schien das Bukett des Fendants in unsere Nüstern zu wehen. Dieses edle Nass war der einzige Gesprächsstoff, sofern überhaupt noch gesprochen wurde.Vergebens versuchte die total vertrocknete Kehle ein lüsternes Schnalzen hervorzubringen. Es blieb beim Versuch; denn die Spucke war uns längst ausgegangen. Der Jüngste und meist der Durstigste von uns war vorausgeeilt, und als wir im Alpenrösli unsere Anker warfen, stand der erste Liter, allerdings schon ziemlich angeschlagen, auf dem Tisch der kleinen Gartenlaube. Wie das erste Glas des kühlen Tropfens zischend durch die Kehle floss, wurde man schlagartig ein anderer Mensch, und der musste auch noch ein Glas haben. Wir tranken wie die Kamele in einer abgelegenen Oase, sangen fröhliche Lieder und liessen ein quietschendes Grammophon ältester Ordonnanz laufen. Die Dorfjugend wurde durch unser feuchtfröhliches Treiben angelockt und, durch ihren ungehemmten Applaus angefeuert, spielten wir den Plattenvorrat mehrmals durch. Aus dem gewaltigen Trichter entwichen die Töne der Donauwellen, offenbar aufgenommen bei einem Gewitter, wie ich es in der Limmernschlucht erlebt hatte, oder es sang der alte Bergmann vor seiner Einfahrt in Schacht und Stollen die herzerweichenden Worte:

Lebet wohl, ich fahre nieder, Lebet wohl, kehr ich wohl wieder.

Der Durst war gestillt; die Wogen der Begeisterung schienen abzuebben. Da machte einer von uns am Wandkalender die fatale Entdeckung, dass es der 1. August war. Un gefeiert, als gute Patrioten, durften wir diesen Tag nicht zur Neige gehen lassen. Es wurde weiter getrunken, nun aus Patriotismus. Mit dem Blick zu dem hoch über uns thronenden Bietschhorn stimmten wir « Wo Berge sich erheben » an; die Schuljugend sang mit, und erneut fing das Meer der Begeisterung an zu gischten und zu branden und steigerte sich zu einem eigentlichen Sturm. Die Gartenlaube schien zu schwanken, der Tisch schief zu stehen, und nur die feiernde, dreiköpfige Festgemeinde glaubte die einzig feststehende Angel der Welt zu sein. Mit der sinkenden Sonne und dem aufgehenden Mond kehrte allmählich Stille ein, und brüderlich umschlungen wie die Eidgenossen beim Rückzug von Marignano, aber nicht blutbefleckt und grimmig, sondern weinselig und weltzufrieden bezog die abgekämpfte Schar Quartier. Und das Bietschhorn, ins Silberlicht des Vollmondes eingetaucht, schien zu lächeln, als die drei Bergkameraden wortlos, aber mit Tränen in den Augen, seine Pracht bestaunten.

Länger als beabsichtigt hielt der Fendant die fröhlichen Zecher in den weichen Betten. Erst spät, ja viel zu spät, als die Augustsonne schon hoch stand, traten wir den Aufstieg zur Mutthornhütte an. Vorsorglicherweise hatten wir die Feldflaschen mit durststillendem Nass füllen lassen. Aber der Nachdurst und der durch die Bruthitze erzeugte neue Durst waren mit dem Inhalt bald zu Ende. Leicht beschwingt, mit hohlem Klang baumelten die leeren Flaschen am Rucksack. Unsere einzige Hoffnung war die Absinthflasche. Wohl rieselten unzählige Schmelzwasser über die Felsen hernieder; aber im vorgelagerten Geröll versickerten sie spurlos. Wortlos stolperten wir wie schuld-beladene Büsser die steinige Wegspur zum Petersgrat hinan. Bei einer Rast hatte ich meinen Kameraden aus der « Fledermaus » zitiert: « Verfluchter Champagner, verdammter Schnaps. » Als wir endlich den Gletscher erreicht hatten und Wasser fassen konnten, machte ich die Feststellung, dass ich innerlich immer noch murmelte: « Verfluchter Champagner, verdammter Schnaps. » Bei Sonnenuntergang erreichten wir die Mutthornhütte, hungrig und durstig und zornig dazu. Tee, viel Tee, sehr viel Tee wurde gekocht und getrunken, und mit weniger Begeisterung und vaterländischen Gefühlen wurden die harten Lager bezogen. Jeder fühlte es; aber keiner sprach es aus: Es war dennoch ein herrlicher Abend gewesen in der kleinen Gartenlaube im Alpenrösli.

Im vergangenen Sommer bin ich nach langen Jahren wieder einmal im Lötschental in Blatten gewesen. Eine modern bestuhlte Gartenwirtschaft hat die einfache Gartenlaube verdrängt. Statt der herzerweichenden Töne des Grammophons ertönten aus dem Lautsprecher eines Radios Jazz-und Schlagermelodien. Keine Schulkinder lauschten diesen Klängen und applaudierten mit freudestrahlenden Gesichtern. Ich war allein; aber ich hatte das Gefühl, meine Bergkameraden seien bei mir, obwohl sie schon vor vielen Jahren zu den grossen Heerscharen abberufen worden sind. Stille Wehmut erfüllte mein Innerstes, die auch der Blick zum sonnenumwobenen Bietschhorn nicht zu lindern vermochte, im Gegenteil. Denn was einst leicht zu erreichende Ziele waren, sind heute nur noch Wünsche, die erstrebt, aber nicht mehr erfüllt werden. Wie ich so einsam sass und sann, fing es in mir an zu klingen, was ich einst als Student feuchtfröhlich, aber mit andern Gefühlen, gesungen habe:

Es hatten drei Gesellen Ein fein Kollegium.

Es kreiste so fröhlich der Becher In dem kleinen Kreise herum.

Da starb von den dreien der eine; Der andre folgt ihm nach.

Und es blieb der dritte alleine In dem öden Jubelgemach.

Und als die Stunde gekommen Des Zechens und der Lust, Da tat er die Gläser füllen Und sang aus voller Brust:

Ich trink euch ein Schmollis ihr Brüder. Was sitzt ihr so stumm und still? Was soll aus der Welt denn noch werden, Wenn keiner mehr trinken will?

Da klangen der Gläser dreie; Sie wurden mählich leer. Fiducit, der fröhliche Zecher, Der trank keinen Tropfen mehr.

Diese etwas wehmütig resignierte Stimmung, in die ich durch die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit versetzt worden war, wurde noch gesteigert durch die Enttäuschung, die das modernisierte Lötschental mir verursachte.

Vor dem Bau der Lötschbergbahn war das Lötschental ein vom Verkehr nicht berührtes Eiland. Zwischen den beiden Gabelketten der Berner Alpen liegend, beiderseits flankiert von bedeutenden Bergketten mit markanten Gipfeln wie Bietschhorn, Aletschhorn, Breithorn, Grosshorn, war es nur durch die enge Lonzaschlucht mit dem Wallis verbunden. Dieser Abgeschlossenheit verdankte es die Erhaltung seiner Eigenheit als Landschaft sowie seiner Sitten und Gebräuche. Wer den steilen Anstieg durch diese Schlucht nicht scheute, betrat bei Ferden eine neue Welt. Ein sanft-ansteigender Talboden, in dem einzigartige Dörfchen zerstreut lagen, breitete sich vor ihm aus. Auf einem holperig gepflasterten Saumweg, der, von rauhen Holzplanken beidseitig flankiert, in stetem Auf und Ab der wild schäumenden Lonza folgte oder durch die engen Siedelungen sich schlängelte, konnte man stundenlang in stiller Beschaulichkeit taleinwärts wandern. Das Klingen kleiner Schellen kündete das Nahen einer Saumkolonne an. Breitgebastet drängten die Maultiere den Wanderer an die Wegplanken. In die buntblumigen Wiesen waren scheinbar wahllos Getreide-und Kartoffeläckerchen gestreut, so dass der Talboden wie die Palette eines Malers aussah. Zur Zeit der Heuernte war die Luft erfüllt vom herrlichen Duft des Heues, das die Männer in weissen Tüchern in die Gaden trugen. Die Frauen, dunkel gekleidet, mit schwarzem, gefranstem, unter dem Kinn geknotetem Kopftuch, trugen die duftende Last in weit nach hinten ausladenden Hütten heimwärts. Mit beiden Händen die Hutte unten fassend, suchten sie die Achseln zu entlasten. Schöne, freundliche Gesichter, aber auch solche, in die harte Arbeit tiefe Furchen gelegt hatte, wurden von den schweren Lasten beschattet. Leichtfüssig, meist barfuss trippelten die Trägerinnen nach freundlich erwidertem Gruss vorbei. Und dann die Dörfchen. Planlos waren die Häuser ineinandergeschachtelt. Wohnhäuser wechselten mit Ställen und Gaden. Überall ein stark nach Kuhdünger neigender Erdgeruch, etwas gemildert durch den Duft, der den Heugaden entströmte. Braungebrannt und wetterhart standen die Häuser zu beiden Seiten des schmalen Saumweges, und inmitten des Häusergewirrs stand erhaben die weissgetünchte Kirche oder Kapelle, an die sich die Häuser, Schutz und Hilfe suchend, schmiegten. Ein Bild friedlicher Ruhe und hastloser Beschaulichkeit, aber auch ein Abbild der Gläubigkeit der Bewohner.

So war es einst. Mit der Eröffnung der Lötschbergbahn mehrten sich die Besucher; aber erst der Bau einer Autostrasse vernichtete schlagartig das Idyll Lötschental. Auf der breiten Strasse, die in die Dörfchen arge Breschen geschlagen und manches schöne Häuschen beseitigt hat, fahren in stetem Hin und Her die Autos. Komfortable Ferienhäuser, dem Baustil des Tales möglichst angepasst, die protzig über den einfachen Lötschenhäusern stehen, wecken das früher unbekannte Gefühl des sozialen Unterschiedes: arm und reich. Die ehemals uniformierte Kleidung der Frauen ist am Verschwinden. Modern angezogen verrichten die Frauen ihre Arbeiten auf dem Feld. Statt der Saumkolonnen poltert der schwere Lastwagen durch die Landschaft. Mit Motorenkraft werden die Lasten vom Feld heimgeführt. Die Kinder spielen nicht mehr mit aus Holzstäbchen mit viel Phantasie und wenig Kunst selbstgemachten Tierchen auf den harten Steinplatten; auf Trottinet und Velo gondeln sie auf der Strasse herum. Und der Erdgeruch in den Dorfgassen wird durch die Auspuffgase der Motoren ersetzt. Um nicht als rückständig angesehen zu werden, erwähne ich, dass ich als Freund unverfälschter Natur gesprochen habe, und den volkswirtschaftlichen Wert der Lötschentalstrasse voll anerkenne. Die Technik ist eben stärker als die Natur, und wenn letztere sich gelegentlich aufbäumt und sich ihrer Versklavung zu entledigen sucht, wird sie durch neue Errungenschaften des menschlichen Genies wieder auf die Knie gezwungen. Töricht wäre es, dieses Weltgeschehens wegen den Kopf hängen zu lassen und als Hyperpessimist sich durch die unabwendbaren Eingriffe des überklugen Menschen in die göttliche Schöpfung die Freude daran nehmen zu lassen. Darum halte ich es mit Goethe, der in einem Epigramm schreibt:

So wälz'ich ohne Unterlass, Wie Sankt Diogenes, mein Fass. Bald ist es Ernst, bald ist es Spass, Bald ist es Lieb, bald ist es Hass; Bald ist es dies, bald ist es das. Es ist ein Nichts und ist ein Was. So wälz'ich ohne Unterlass, Wie Sankt Diogenes, mein Fass.

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