Mit dem Wanderer Goethe
Von M. Szadrowsky
Vortrag zur 80-Jahr-Feier der Sektion Rätia des S.A.C. 1944 ( Chur ) Dem ungestümen 26jährigen war die berühmte Freiheit der Schweizer fragwürdig vorgekommen: .Frei wären die Schweizer? Frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? Was man dem Menschen doch alles weis machen kann! Besonders wenn man so ein altes Märchen im Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken; nun erschuf ihnen die liebe Sonne aus dem Aas des Unterdrückers einen Schwärm von kleinen Tyrannen durch eine sonderbare Wiedergeburt; nun erzählen sie das alte Märchen immerfort, man hört bis zum Überdruss: sie hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben; und nun sitzen sie hinter ihren Mauern, eingefangen von ihren Gewohnheiten und Gesetzen, ihren Fraubasereien und Philistereien, und da draussen auf den Felsen ist 's auch wohl der Mühe wert, von Freiheit zu reden, wenn man das halbe Jahr vom Schnee wie ein Murmeltier gefangen gehalten wird.
Pfui, wie sieht so ein Menschenwerk und so ein schlechtes, notgedrungenes Menschenwerk, so ein schwarzes Städtchen, so ein Schindel- und Steinhaufen, mitten in der grossen herrlichen Natur aus! Grosse Kiesel- und andere Steine auf den Dächern, dass ja der Sturm ihnen die traurige Decke nicht vom Kopfe wegführe, und den Schmutz, den Mist! und staunende Wahnsinnige. Wo man den Menschen nur wieder begegnet, möchte man von ihnen und ihren kümmerlichen Werken gleich davon fliehen. ' Auch im Wallis empfand Goethe ( 1779 ) die Enge der Siedlungen im Gegensatz zur grossen Natur, z.B. ,die garstige Stadt Leuk ': ,Es sind diese Städtchen meist an die Berge angeflickt, die Dächer mit groben gerissnen Schindeln unzierlich gedeckt, die durch die Jahreszeit ganz schwarz gefärbt und vermoost sind. Wie man auch nur hinzutritt, so ekelt 's einem, denn es ist überall unsauber; Mangel und ängstlicher Erwerb dieser privilegierten und freien Bewohner kommt überall zum Vorschein. ' Die Menschen sind ihm in der grossen Landschaft minder merkwürdig. Doch zweifelt er nicht, ,dass man bei längerem Aufenthalt gar interessante and gute Leute finden würde. Eins glaub'ich überall zu bemerken: je weiter man von der Landstrasse und dem grössern Gewerbe der Menschen abkommt, je mehr in den Gebirgen die Menschen beschränkt, abgeschnitten und auf die allerersten Bedürfnisse des Lebens zurückgewiesen sind, je mehr sie sich von einem einfachen langsamen unveränderlichen Erwerbe nähren: desto besser, willfähriger, freundlicher, uneigennütziger, gastfreier bei ihrer Armut hab'ich sie gefunden.'Nur beiläufig einer aus Goethes Sprüchen in Reimen:
Und wärst du auch zum fernsten Ort, Zur kleinsten Hütte durchgedrungen, Was hilft es dir? Du findest dort Tabak und böse Zungen. ( Klubhütten ?) Auch im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre wird Goethe dem Gebirgler gerecht: »Überhaupt hat das Gebirgsleben etwas Menschlicheres als das Leben auf dem flachen Lande. Die Menschen sind einander näher und, wenn man will, auch ferner; die Bedürfnisse geringer, aber dringender. Der Mensch ist mehr auf sich gestellt, seinen Händen, seinen Füssen muss er vertrauen lernen. Der Arbeiter, der Bote, der Lastträger, alle vereinigen sich in einer Person; auch steht jeder dem andern näher, begegnet ihm öfter und lebt mit ihm in einem gemeinsamen Treiben. ' Der Wirt, den Goethe darüber erzählen lässt, bringt denn auch den Esel des Gebirges gegenüber dem Flachlandesel zu gebührenden Ehren: ,Der Esel ist im Gebirg kein so verächtlich Tier als im flachen Lande, wo der Knecht, der mit Pferden pflügt, sich für besser hält als den andern, der den Acker mit Ochsen umreisst. ' Im Roman Wilhelm Meisters Wander jähre stellt Goethe dem Leser die Gegenden des Hochgebirges dar, ,wo weder Baum noch Gesträuch fortkommt, sondern nur zwischen Felszacken und Schneegipfeln sonnige Flächen mit zartem Rasen sich bedecken. ' ,So schön und gründuftig und einladend' ein Landschaftsmaler dergleichen Stellen .kolorieren'mag, er wird doch unter-lassen,,hier mit weidenden Herden zu staffieren; Menn diese Gegenden geben nur Futter den Gemsen, den Wildheuern einen gefahrvollen Erwerb. ' Goethe will den Lesern den Zustand solcher wilden Gegenden so nah als möglich bringen, indem er das Wort Wildheuer erklärt: ,Man bezeichnet damit ärmere Bewohner der Hochgebirge, welche sich unterfangen, auf Grasplätzen, die für das Vieh schlechterdings unzugänglich sind, Heu zu machen. Sie ersteigen deswegen, mit Steigehaken an den Füssen, die steilsten, gefährlichsten Klippen oder lassen sich, wo es nötig ist, von hohen Felsbändern an Stricken auf die besagten Grasplätze herab. Ist nun das Gras von ihnen geschlagen und zu Heu getrocknet, so werfen sie solches von den Höhen in tiefere Talgründe herab, wo dasselbe, wieder gesammelt, an Viehbesitzer verkauft wird, die es der vorzüglichen Beschaffenheit wegen gern erhandeln. ' Wandertrieb und Naturgeist gehören zu Goethes Wesen wie der Kunst-geist.
Aus der Gesellschaft treibt es den jungen Goethe — er hiess bei den Freunden der Wanderer — in die Natur hinaus: ,Seh ich eine gezeichnete, eine gemalte Landschaft, so entsteht eine Unruhe in mir, die unaussprechlich ist. Die Fusszehen in meinen Schuhen fangen an zu zucken, als ob sie den Boden ergreifen wollten, die Finger der Hände bewegen sich krampfhaft, ich beisse in die Lippen, und es mag schicklich oder unschicklich sein, ich suche der Gesellschaft zu entfliehen, ich werfe mich der herrlichen Natur gegenüber auf einen unbequemen Sitz, ich suche sie mit meinen Augen zu ergieifen, zu durchbohren und kritzle in ihrer Gegenwart ein Blättchen voll, das nichts darstellt und doch mir so unendlich wert bleibt, weil es mich an einen glücklichen Augenblick erinnert, dessen Seligkeit mir diese stümper-hafte Übung ertragen hat. Was ist denn das, dieses sonderbare Streben von der Kunst zur Natur, von der Natur zur Kunst zurück? ' Der junge Wanderer stürmt in die Natur hinaus:
Dem Schnee, dem Regen, Dem Wind entgegen, Im Dampf der Klüfte, Durch Nebeldüfte, Immerzu 1 Immerzu I Ohne Rast und Ruh!
Wir hören Goethes Stimme und Herz, wenn sein Egmont sich aus der Sitzung in die Bewegung stürzt ( er aufs Pferd, wir Bergsteiger auf die Beine ):
.Unleidlich war mir 's schon auf meinem gepolsterten Stuhle, wenn in stattlicher Versammlung die Fürsten, was leicht zu entscheiden war, mit wiederkehrenden Gesprächen überlegten und zwischen düstern Wänden eines Saals die Balken der Decke mich erdrückten. Da eilt'ich fort, sobald es möglich war, und rasch aufs Pferd mit tiefem Atemzuge. Und frisch hinaus, da wo wir hingehören! ins Feld, wo aus der Erde dampfend jede nächste Wohltat der Natur, und durch die Himmel wehend alle Segen der Gestirne uns um-witternEin wunderbar frisches Wortgeschöpf: umwittern! Erdenhaft und geisterhaft zugleich. Erdatem, Nebel, Wolken, Wind, Sturm, Schnee, Sonne umwittern uns Bergsteiger. Das Luftreich, die Atmosphäre hat es dem Jüngling und dem Mann Goethe angetan. .Meteorologie'ist ein Teil seiner Schriften überschrieben. Im Vorwort dazu schreibt er: .Das Abglimmen des Lichtes bei heiteren Abenden, der farbige Rückzug der nach und nach versinkenden Helle, das Andringen der Nacht beschäftigte gar oft den einsamen Müssig-gänger. Bedeutende Gewitterregen und Hagelstürme... erregten entschiedene Aufmerksamkeit, und es sind noch frühe Zeichnungen übrig in seltsamen Wolkengebilden verschiedener Jahreszeiten. Weder dem Auge des Dichters noch des Malers können atmosphärische Erscheinungen jemals fremd werden, und auf Reisen und Wanderungen sind sie eine bedeutende Beschäftigung, Die Alpen - 1947 - Les Alpes7 MIT DEM WANDERER GOETHE
weil von trockenem und klarem Wetter auf dem Lande, sowie zur See von einem günstigen Winde, das ganze Schicksal von einer Ernst- oder Lustfahrt allein abhängt. ' Wochenlang zeichnet Goethe Tag für Tag seine Beobachtungen im Luftreich auf, das Treiben der Wolken in ihrer ,Mannigfaltigkeit, Abgesondertheit, Verbindung und Übergängen '. Dankbar verherrlicht er einen Meteorologen, aus dessen Werk er die Begriffe zum Erfassen der Wolkenmannig-faltigkeit entnehmen konnte, .neuer Lehre herrlichsten Gewinn '.
Goethe hört einen klagen:
Die Welt, sie ist so gross und breit, Der Himmel auch so hehr und weit, Ich muss das alles mit Augen fassen, Will sich aber nicht recht denken lassen.
Goethe weiss Rat:
Dich im Unendlichen zu finden, Musst unterscheiden und verbinden; Drum danket mein beflügelt Lied Dem Manne, der Wolken unterschied.
Sehen wir mit Goethe an einem Novembertag im Leukerbad den Wolken zu: ,Ich bin in die Türe getreten, ich habe dem Wesen der Wolken eine Weile zugesehen, das über alle Beschreibung schön ist. Eigentlich ist es noch nicht Nacht, aber sie verhüllen abwechselnd den Himmel und machen dunkel. Aus den tiefen Felsschluchten steigen sie herauf, bis sie an die höchsten Gipfel der Berge reichen; von diesen angezogen, scheinen sie sich zu verdicken und, von der Kälte gepackt, in Gestalt des Schnees niederzufallen. Es ist eine unaussprechliche Einsamkeit hier oben, in so grosser Höhe doch noch wie in einem Brunnen zu sein, wo man nur vorwärts durch die Abgründe einen Fusspfad hinaus vermutet. Die Wolken, die sich hier in diesem Sacke stossen, die ungeheuren Felsen bald zudecken und in eine undurchdringliche öde Dämmerung verschlingen, bald Teile davon wieder als Gespenster sehen lassen, geben dem Zustand ein trauriges Leben. Man ist voller Ahnung bei diesen Wirkungen der Natur. Die Wolken, eine dem Menschen von Jugend auf so merkwürdige Lufterscheinung, ist man in dem platten Lande doch nur als etwas Fremdes, Überirdisches anzusehen gewohnt. Man betrachtet sie nur als Gäste, als Strichvögel, die, über einem andern Himmel geboren, von dieser oder jener Gegend bei uns augenblicklich vorbeigezogen kommen; als prächtige Teppiche, womit die Götter ihre Herrlichkeit vor unseren Augen verschliessen. Hier aber ist man von ihnen selbst, wie sie sich erzeugen, eingehüllt, und die ewige innerliche Kraft der Natur fühlt man sich ahnungsvoll durch jede Nerve bewegen. ' Goethe wünscht lebhaft, an solchen Orten mehrere Tage zubringen zu können, ,da jede Jahrszeit, Tagszeit und Witterung neue Erscheinungen, die man gar nicht erwartet, hervorbringen muss. ' Der Mensch, ,der so grosse Gegenstände der Natur gesehen und mit ihnen vertraut geworden ist, hat einen Schatz für sein ganzes Leben gewonnen, wenn er diese Eindrücke zu bewahren, sie mit andern Empfindungen und Gedanken, die in ihm entstehen, zu verbinden weiss. ' Das ist ein .Vorrat von Gewürz, womit er den unschmackhaften Teil des Lebens verbessern und seinem ganzen Wesen einen durchziehenden guten Geschmack geben kann. ' Mit Wohltaten überhäuft uns die Natur durch die Elemente: .lüftend, feuchtend, wärmend, glutend. ' Der Kampf der Elemente gegeneinander, der Kampf des Menschen gegen sie alle: wo drängt sich uns beides stärker auf als im Gebirge? In einem versteckten Winkel von Goethes Werken ist darüber Gewaltiges gesagt, gesagt, was wir als Bergsteiger empfinden, aber nicht in Worten bewältigen: ,Es ist offenbar, dass das, was wir Elemente nennen, seinen eigenen, wilden, wüsten Gang zu nehmen immerhin den Trieb hat. Insofern sich nun der Mensch den Besitz der Erde ergriffen hat und ihn zu erhalten verpflichtet ist, muss er sich zum Widerstand bereiten und wachsam erhalten ( auch der Bergsteiger ). Aber einzelne Vorrsichtsmassregeln sind keineswegs so wirksam, als wenn man dem Regellosen das Gesetz entgegenzustellen vermöchte; und hier hat uns die Natur aufs herrlichste vorgearbeitet, und zwar, indem sie ein gestaltetes Leben dem Gestaltlosen entgegenstellt. Die Elemente daher sind als kolossale Gegner zu betrachten, mit denen wir ewig zu kämpfen haben ( auch die Bergsteiger !) und sie nur durch die höchste Kraft des Geistes, durch Mut und List im einzelnen Fall bewältigen. ' Goethe fasst dann die einzelnen Elemente und ihre .Willkür'ins Auge: ,Die Elemente sind die Willkür selbst zu nennen. Die Erde möchte sich des Wassers immerfort bemächtigen und es als Erde, Fels oder Eis in in ihren Umfang nötigen. Ebenso unruhig möchte das Wasser die Erde, die es ungern verliess, wieder in seinen Abgrund reissen ( wir kennen die Rufen und Schluchten !). Die Luft, die uns freundlich umhüllen und beleben sollte ( wie oft tut sie das uns Bergsteigern zuliebe ), rast auf einmal als Sturm daher, uns niederzuschmettern und zu ersticken ( wo ist das gewaltiger als im Gebirge ?). Das Feuer ergreift unaufhaltsam, was von Brennbarem, Schmelzbarem zu erreichen ist '.
Goethe stellt fest: .Diese Betrachtungen schlagen uns nieder, indem wir solche oft bei grossem, unersetzlichem Unheil anzustellen haben'( Bergunglück zum Beispiel ). Dabei bleibt es aber nicht. Goethe fährt fort: ,Herz und Geist erhebend ist dagegen, wenn man zu schauen kommt, was der Mensch seinerseits getan hat, sich zu waffnen, zu wehren, ja seinen Feind als Sklaven zu benutzen'( z.B. der Ingenieur, der eine Rätische Bahn baut ). ,Das Höchste jedoch, was in solchen Fällen dem Gedanken gelingt, ist: gewahr zu werden, was die Natur selbst als Gesetz und Regel trägt, jenem ungezügelten, gesetzlosen Wesen zu imponieren. Wie viel ist nicht davon zu unserer Kenntnis gekommen! ' Der alte Faust nimmt den Kampf auf gegen .zwecklose Kraft unbändiger Elemente ', macht sich daran .das herrische Meer vom Ufer auszuschliessen der feuchten Breite Grenzen zu verengen und weit hinein sie in sich selbst zu drängen '. Wie packt er das an? Er beobachtet und benutzt die Gesetzmässigkeit, der die Flut von Natur aus unterworfen ist. Faust darf das ,her-.; .,t%i ."^.»«.
MIT DEM WANDERER GOETHE rische Geniessen'erleben: Wiesen, Äcker, Dorf und Wald, wo früher die Willkür der Meeresflut allem Wachstum wehrte, grünes Gefilde, Boden für Menschen, »nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen '. Tätig-frei: wenn die Flut wieder ins Land einbrechen will, dann ist ,kühn-emsige Völker-schaft'schnell zur Stelle: .Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschliessen. ' G'mei(n)wärch in Graubünden!
Der Anblick des Rhonetals und des Rhonegletschers tut dem Wanderer Goethe den Blick in eine Eiszeit auf, weckt in ihm den Gedanken ,eines hohen Frostzustandes des Erdbodens ', einer .Epoche grosser Kälte '. Dem schauenden Wanderer geht die Einsicht auf: diese Blöcke sind nicht durch vulkanische Schleuderkraft Hunderte von Meilen weit durch die Luft geflogen. ,Das Eis spielt eine grössere Rolle, als man denkt. ' Die denkende Betrachtung des Gletschers hat ihn tatsächlich .fernsehend' gemacht weit zurück in die Geschichte der Erde, ,Es ist nämlich in der Geognosie ( Erdkunde)* dem menschlichen Geist eine herrliche Pflegerin fortbildender Anschauung eröffnet, die sich bei manchen wahrhaft berufenen Beobachtern oft zu einer wundersamen Höhe steigert und sie in dem naturgemässesten Sinne fern-sehend macht. ' Der Granit hat für Goethe die Würde ,des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur '. ,Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend, kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht,, keine neuere Schicht, keine aufgehäufte, zusammengeschwemmte Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt, du gehst nicht wie in jenen fruchtbaren, schönen Tälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben nichts Lebendiges erzeugt und nichts Lebendiges verschlungen, sie sind vor allem Leben und über alles Leben. In diesem Augenblicke, da die immer anziehenden und bewegenden Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar auf mich wirken,. da die Einflüsse des Himmels mich näher umschweben, werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur hinaufgestimmt. ' Er ergeht sich in Gedanken über die Entwicklung der Erdoberfläche und des Lebens, verliert sich aber nicht im innern Schauen, wendet sich zur Beobachtung: ,Ich kehre von jener schweifenden Betrachtung zurück und sehe die Felsen selbst an, deren Gegenwart meine Seele erhebt und sicher macht. ' Mephistopheles verirrt sich im Gestein:
Wo bin ich denn? Wo will 's hinaus? Das war ein Pfad, nun ist 's ein Graus. Ich kam daher auf glatten Wegen, Und jetzt steht mir Geröll entgegen. Vergebens klettr'ich auf und nieder.
Eine Bergnymphe ruft ihn auf den .Naturfels ':
Herauf hier! Mein Gebirg ist alt, Steht in ursprünglicher Gestalt. Verehre schroffe Felsensteige.
An einer Halde sieht Goethe Tonschieferplatten mit kreuzweis laufenden Quarzgängen: da schätzt er sich glücklich, eine geheimnisvolle Grunderscheinung des Gebirgsbaus ,mit Augen gesehen zu haben, die nicht begriffen, noch weniger ausgesprochen werden kann '. Er macht die Erfahrung, dass der Gehalt der Gebirgsgänge verschieden ist, indem sie nach verschiedenen Himmelsrichtungen streichen, und schreibt in sein Tagebuch: ,Es ist immer schön, wenn man das Unbegreifliche als wirklich vor sich sieht. ' Faust spricht vom .Kristall und seiner ewigen Schweignis*. Die Natur-geister sind, mehr als dem flachen Land, ,dem Felsgebirg gewogen ':
Mit leisem Finger geistiger Gewalten Erbauen sie durchsichtige Gestalten.
Der Kristall verschweigt Geheimnisse, auch das Gebirge: Gebirgesmasse bleibt mir edelstumm.
Goethe beobachtet und bewundert den ,Bildungstrieb'der Natur. Man wird, so schreibt er, ,die Wirkung des Klimas, der Berghöhe, der Wärme und Kälte, nebst den Wirkungen des Wassers und der gemeinen Luft, auch zur Bildung der Säugetiere sehr mächtig finden '. ,Das Tier wird durch Umstände zu Umständen gebildet, durch seine innere Vollkommenheit und seine Zweckmässigkeit nach aussen. ' ,So bildet sich der Adler durch die Luft zur Luft, durch die Berghöhe zur Berghöhe. ' Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres, Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten Mächtig zurück.
Goethe denkt sich das Tier ,als eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist. So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst. ' Faust sieht dem Bergwald das Sehnen nach höhern Regionen an:
Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum, Altwälder sind'sl Dem Naturanschauen Goethes drängte sich ,gewaltig auf, wie jede Pflanze ihre Gelegenheit sucht, wie sie eine Lage fordert, wo sie in Fülle und Freiheit erscheinen könne. Bergeshöhe, Talestiefe, Licht, Schatten, Trockenheit, Feuchte, Hitze, Wärme, Kälte, Frost, und wie die Bedingungen alle heissen mögen! Geschlechter und Arten verlangen sie, um mit völliger Kraft und Menge hervorzuspriessen. Zwar geben sie an gewissen Orten, bei manchen Gelegenheiten, der Natur nach, lassen sich zur Varietät hinreissen, ohne jedoch das erworbene Recht an Gestalt und Eigenschaft völlig aufzugeben. Ahnungen hievon berührten mich in der freien Welt, und neue Klarheit schien mir aufzugehen über Gärten und Bücher. ' Daran schliesst Goethe ,eine ins Ganze greifende Bemerkung ', die uns Bergwanderer angeht nämlich ,dass alles was uns von Jugend auf umgab jedoch nur oberflächlich bekannt war und blieb stets etwas Gemeines und Triviales für uns behält das wir als gleichgültig neben uns bestehend an- MIT DEM WANDERER GOETHE sehen, worüber zu denken wir gewissermassen unfähig werden. Dagegen finden wir, dass neue Gegenstände in auffallender Mannigfaltigkeit, indem sie den Geist erregen, uns erfahren lassen, dass wir eines reinen Enthusiasmus fähig sind; sie deuten auf ein Höheres, welches zu erlangen uns wohl gegönnt sein dürfte. Dies ist der eigentlichste Gewinn der Reisen, und jeder hat nach seiner Art und Weise genügsamen Vorteil davon. Das Bekannte wird neu durch unerwartete Bezüge und erregt, mit neuen Gegenständen verknüpft, Aufmerksamkeit, Nachdenken und Urteil. ' Goethe betont, ,dass es ein Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, dass die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigem Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und doch vorbei-zusehen. ' Wir Bergsteiger nehmen das zu Herzen. Goethe verteidigt seine Einsicht, ,dass eine Idee, ein Begriff der Beobachtung zum Grunde liegen, die Erfahrung befördern, ja das Finden und Erfinden begünstigen könne. ' Rückte ein Forscher mit der .mathematischen Rüstkammer'einer Naturerscheinung zuleibe, dann empfand Goethe, ,dass die Natur ganz und gar vor dem äussern und innern Sinn verschwand'. Ein Aufsatz Leonardo da Vincis über die Ursache der blauen Farbenerscheinung an fernen Bergen und Gegenständen machte Goethe »wiederholt grosse Freude ': Leonardo ist ihm verwandt als ,ein die Natur unmittelbar anschauend auffassender, an der Erscheinung selbst denkender, sie durchdringender Künstler '.
Wir gehen dankbar mit Goethe, wenn er eine einseitig mathematische Naturwissenschaft ablehnt: .Zahl und Mass in ihrer Nacktheit heben die Form auf und verbannen den Geist der lebendigen Beschauung. ' Kleine Wesen werden ihm zu .Heiligtümern '. Sie vergegenwärtigen ihm ,die nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde und so im Kleinsten wie im Grössten durchaus gott- und menschenähnliche Natur '.
Willst du dich am Ganzen erquicken, So musst du das Ganze im Kleinsten erblicken.
Faust dankt in der Einsamkeit des Waldes dem erhabenen Geist, der ihm ,die herrliche Natur zum Königreich'gegeben hat und dazu .Kraft sie zu fühlen, zu geniessen '. Wir Bergsteiger haben allen Grund zu solchem Dank: wie vieles dürfen und können wir geniessen, was Unzähligen versagt ist! .Nicht kalt staunenden Besuch'gewährt Gott Faust. Er lässt ihn in die tiefe Brust der Natur schauen:
Du führst die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und dann der Sturm, der Faust in die sichere Höhle führt und zu den Wundern der eignen Brust. Hören Sie, wie der Dichter mit Worten den Sturm im Bergwald verwirklicht ( solches Verwirklichen im Wort heisst Dichten !):
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste Und Nachbarstämme quetschend niederstreift Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert, Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Auch der Bergsteiger kommt in der Einsamkeit zu sich selber. Faust ist mit Mephistopheles unterwegs nach dem Harz. Der teuflische Begleiter möchte den Berg lieber und schneller auf einem Besenstiel oder einem derben Bock erreichen ( Schwebebahn, Skilift !). Faust erwidert:
Solang ich mich noch frisch auf meinen Beinen fühle, Genügt mir dieser Knotenstock.
Was hilft 's, dass man den Weg verkürztIm Labyrinth der Täler hinzuschleichen, Dann diesen Felsen zu ersteigen, Von dem der Quell sich ewig sprudelnd stürzt, Das ist die Lust, die solche Pfade würzt!
Der Frühling webt schon in den Birken, Und selbst die Fichte fühlt ihn schon; Sollt'er nicht auch auf unsre Glieder wirken?
Und Mephistopheles:
Fürwahr, ich spüre nichts davon!
Er ist der Geist, der stets verneint:
Am besten wär 's, wenn nichts entstünde!
Den Sturm als zerstörende Wut lässt er immerhin gelten und darf ihn mit Goetheversen von höchster Gewalt ausdrücken: Faust:
ie Windsbraut durch die Luft! Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken!
Mephistopheles:
Du musst des Felsens alte Rippen packen; Sonst stürzt sie dich hinab in dieser Schlünde Gruft.
Ein Nebel verdichtet die Nacht.
Höre, wie 's durch die Wälder kracht!
Aufgescheucht fliegen die Eulen.
Hör'I es splittern die Säulen Ewig grüner Paläste.
Girren und Brechen der Äste!
Der Stämme mächtiges Dröhnen, Der Wurzeln Knarren und Gähnen!
Im fürchterlich verworrenen Falle Übereinander krachen sie alle, Und durch die übertrümmerten Klüfte Zischen und heulen die Lüfte.
Die Verse hat der Bergwanderer Goethe dem Teufel auf die Zunge gelegt! Und von Goethe weiss der Erzengel am Anfang der Faustdichtung: auch die Stürme, die brausen und wüten, bilden ,eine Kette der tiefsten Wirkung rings umher '. Die drei Engel preisen den Schöpfer: Und alle deine hohen Werke Sind herrlich wie am ersten Tag.
Goethe ist bewegt ,von einem ernsten Drange, das ungeheure Geheimnis, das sich in stetigem Erschaffen und Zerstören an den Tag gibt, zu erkennen '. Wo bewegt es uns stärker als im Gebirge?
In ,Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde'lässt Goethe ( am Ende der Faustdichtung ) heilige Einsiedler wohnen. Einer preist im Namen des Dichters dankbar ,die allmächtige Liebe, die alles bildet, alles hegt ', Felsenabgrund Bäche Bäume Luft Sturm Blitz:
Wie Felsenabgrund mir zu Füssen Auf tiefem Abgrund lastend ruht, Wie tausend Bäche strahlend fliessen Zum grausen Sturz des Schaums der Flut, Wie strack mit eignem kräftigen Triebe Der Stamm sich in die Lüfte trägt: So ist es die allmächtige Liebe, Die alles bildet, alles hegt.
Ist um mich her ein wildes Brausen, Als wogte Wald und Felsengrund 1 Und doch stürzt, liebevoll im Sausen, Die Wasserfülle sich zum Schlund, Berufen, gleich das Tal zu wässern; Der Blitz, der flammend niederschlug, Die Atmosphäre zu verbessern, Die Gift und Dunst im Busen trug: Sind Liebesboten, sie verkünden, Was ewig schaffend uns umwallt.
Ein Vogel, der zu den gefangenen Jungen zurückkehrt, um sie zu füttern, offenbart wiederum die ewige Liebe: .Beseelte Gott den Vogel nicht mit diesem allmächtigen Trieb gegen seine Jungen, und ginge das Gleiche nicht durch alles Lebendige der ganzen Natur, die Welt würde nicht bestehen können! So aber ist die göttliche Kraft überall verbreitet und die ewige Liebe überall wirksam. ' ( Schluss folgt )