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Mit J. W. v. Goethe im «Genfer Jura»

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Lass Dich, lieber Wanderfreund, einmal dazu bewegen, das Juragebirge zu durchstreifen und seine Ruhe und Einsamkeit zu erleben. Hier kannst Du Dich an der Harmonie erfreuen, in der sich Höhenzüge, Weiden, Wälder, Seen, Menschen und Tiere finden. Komm und bereichere Herz und Gemüt an der herben Schönheit dieses bisher so wenig bekannten Gebirgszuges!

Mit J.W. v. Goethe im « Genfer Jura »

VON HERMANN KORNACHER, MÜNCHEN-PASING « Ja, ich komme zurück, und es war wohl der Mühe wert, diese Berghöhen zu erklettern, diese Täler zu durchirren und diesen blauen Himmel zu sehen, zu sehen, dass es eine Natur gibt, die durch eine ewige, stumme Notwendigkeit besteht, die unbedürftig, gefühllos und göttlich ist, indessen wir in Flecken und Städten unser kümmerliches Bedürfnis zu sichern haben und nebenher alles einer verworrenen Willkür unterwerfen, die wir Freiheit nennen. » Für uns zwei, die wir 180 Jahre nach dem Schreiber vorstehender Zeilen - es war der damals dreissigjährige Goethe nach der Rückkehr von seiner zweiten Schweizer Reise - die Gegend rings um den Genfersee unsicher machten, war es dennoch eine köstliche Freiheit. Eine unbeschränkte Freiheit, die uns erlaubte, nach Belieben Berghöhen zu erklettern und in Tälern herumzuirren oder auf einer Wiese zu liegen und stundenlang in den blauen Himmel zu schauen.

Was kann man in Genf schon anderes tun, wenn der Völkerbundspalast zur Genüge besichtigt ist, wenn auch die ausgesuchten kulinarischen Genüsse im Hotel « Beau Rivage » nicht mehr reizen können und wenn schliesslich der Allbeherrscher Mont Blanc wegen der beharrlichen Dunstglocke über der Stadt auch mit dem hervorragendsten Fernrohr nicht auszumachen ist? Man steigt auf den Aussichtsberg der Genfer, den 1300 m hohen Salève, und lässt sich auf heimatlich anmutenden Bergwiesen eine kräftige Brise um die Nase wehen. Für Leute, die auch dann noch nicht genug haben, ist der Schweizer Jura da, dessen höchster Punkt, die 1720 m hohe Crêt de la Neige, der nächstgelegene Skiberg der Genfer ist.

Genf, den 27. Oktober 1779.

« Die grosse Bergkette, die von Basel bis Genf Schweiz und Frankreich scheidet, wird, wie Ihnen bekannt, Jura genannt. Die grössten Höhen davon ziehen sich über Lausanne bis ungefähr über Rolle und Nyon... Da wir hörten, dass die Dole ( 1680 m ), der höchste Gipfel des Jura, nicht weit von dem oberen Ende des Tales liege, da auch das Wetter sich aufs herrlichste anliess... so wurde dahin zu gehen beschlossen. Wir packten einem Boten Käse, Butter, Brot und Wein auf und ritten gegen achte ab. » So der Geheimrat und Minister Goethe. Wir Kinder des 20. Jahrhunderts beschlossen so ziemlich das gleiche. Nur dass wir mit dem Dampfross nach St-Cergue, dem Ausgangspunkt für eine Besteigung der Dole, gelangten. Aber es ist ein recht malerisches Dampfross, feuerrot angestrichen und winzig klein die drei Wagen mit der vorsintflutlichen Lokomotive vorne dran. Kaum ist dann das zum mondänen Kurort sich entwickelnde Dorf verlassen, fühlt man sich schon wieder in heimatliche Gefilde versetzt: Alpwiesen, Kuhglockengeläute, Fichtenwälder, ein holperiges Strässchen mittendurch, Himbeersträucher zu beiden Seiten und halbhoch an der Tallehne eine blechgedeckte Alphütte samt obligatem Morastgürtel. Sogar die Waldschneise mit Sessellift fehlt nicht, wenn auch der Betrieb zurzeit eingestellt ist. Und eins gibt es hierzulande noch im Übermass: gelben Enzian! Darum sind hier auch die Enziangräber unterwegs. Immer wieder begegnen wir sonnenverbrannten Arbeitern, die mehr als daumendicke, bis zu einem Dreiviertelmeter lange Enzianwurzeln in riesige Säcke füllen. In meterhohen, halbrunden, sorgfältig durch Fichtenzweige abgedeckten Haufen liegen da Hektoliter von Enzianschnaps in fester Form am Wegrand. Es ist die fleischige Wurzel des gelben Enzians, nicht die des blauen Frühlingsenzians, wie man es auf irreführenden Flaschenetiketten immer wieder sieht. Ob auch der gescheite Herr Geheimrat Goethe seinerzeit auf diesen harmlosen Schwindel hereingefallen ist?

« Unsere Pferde zogen auf der Strasse voraus nach St-Cergue, und wir stiegen die Dole hinan. Es war gegen Mittag, die Sonne schien heiss, aber es wechselte ein kühler Mittagswind. Wir betraten endlich den oberen Gipfel und sahen mit grösstem Vergnügen uns heute gegönnt, was uns gestern noch versagt war. Das ganze Pays de Vaud lag wie eine Flurkarte unter uns... Vom Le-maner See hatte sich der Nebel schon zurückgezogen. Vor allem aber behauptete der Anblick über die Eis- und Schneeberge seine Rechte. Der Mont Blanc, uns gegenüber, schien der höchste, die Eisgebirge des Wallis und des Oberlandes folgten... Wir setzten uns vor kühler Luft in Schutz hinter Felsen, liessen uns von der Sonne bescheinen, das Essen und Trinken schmeckte vortrefflich. Wir sahen dem Nebel zu, der sich nach und nach verzog. Jeder entdeckte etwas, oder glaubte etwas zu entdecken... » Wir jedoch konnten, als wir endlich - gleichfalls zur Mittagszeit - den Gipfel erreicht hatten, nichts entdecken. Weder den Mont Blanc noch die Eisgebirge des Wallis und des Oberlandes. Nur nach Westen war der Blick frei, und von da her konnte uns auch die Sonne bescheinen, die 180 Jahre früher den grossen Olympier an der gleichen Stelle beschienen hatte. Wie er damals, so sassen wir vor kühler Luft in Schutz hinter Felsen und liessen uns das mitgebrachte Essen nicht weniger vortrefflich schmecken. Wir hatten 's immerhin selber heraufgetragen!

Ein aufgeregtes Summen und Brummen, wie von wütenden Wespen oder Hornissen, liess uns aus der geniesserischen, wohlverdienten Siesta hochschrecken. Schräg über uns bewegte sich etwas im Kreis: ein Radargerät! « Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt... » Ob man damit, durch den Nebel hindurch, der uns nach Osten hin die Sicht verwehrte, auch den Mont Blanc sehen könnte, und die Grandes Jorasses, und die beiden Drus? Noch einmal wurden wir aufge- schreckt: im Kessel unter dem langgestreckten Gipfelaufbau der Dole knallte und krachte es wie in Kriegszeiten, Maschinengewehrsalven hämmerten ihr Echo in die bislang vornehm-stille Berglandschaft, dazwischen das dumpfe Krachen von Granatwerfern. Sollte das eine zweite Kanonade von Valmy werdenDann war 's plötzlich wieder still, wie wenn ein Spuk verflogen wäre. Ein vorsichtiger Blick über den Kamm hinunter in den grünen Alpkessel beruhigte uns einigermassen: Schweizer Miliz beim Scharfschiessen! In der Nähe des immer noch kreisenden Radarschirmes sass ein Hauptmann und starrte durch sein Fernglas unentwegt auf das soldatische Ameisengewimmel hinunter. Als dann für Minuten einmal der Nebelvorhang nach Osten hin sich hob und undeutlich ein paar schneebedeckte Gipfel, noch weit überm Genfersee, auszumachen waren, hob er unmerklich sein Glas. Hier war wahrhaftig ein anderes Schauspiel zubereitet:

« Und immer wieder zog die Reihe der glänzenden Eisgebirge das Aug und die Seele an sich. Man gibt da gern jede Prätention ans Unendliche auf, da man nicht einmal mit dem Endlichen im Anschauen und Gedanken fertig werden kann. Die Sonne wendete sich mehr gegen Abend... doch wir gingen nicht eher abwärts, als bis die Sonne im Weichen den Nebel seinen Abendhauch über den See breiten liess. Wir kamen mit Sonnenuntergang auf die Ruinen des Fort de St-Cergue. » Unser eigener Abstieg war ein Gang in den Abend. Je tiefer wir kamen, desto besser konnten wir Seeufer und Städte und die Berge im Hintergrund unterscheiden. Doch der Monarch selber hatte wieder kein Mitleid mit uns. Er liess auch nicht den kleinsten Zipfel seines weissen Mantels sehen. Nur die Wolken, die ihn unseren Blicken verbargen, leuchteten im Abendrot. Als wir in Nyon, der alten Römerstadt am Genfersee, in den Schnellzug umstiegen, war es schon beinahe dunkel.

Drei Tage später schlugen wir unser kleines, gelbes Zelt im Tal von Chamonix auf. Den Brevent bestiegen wir im strömenden Regen, Aiguille de I'M und Petit Charmoz hatten im dichtesten Wasch-küchennebel auch nichts Besonderes zu bieten. Der Fels war kalt, die Luft unfreundlich, die Stimmung dementsprechend. Mürrisch und ohne Hoffnung zogen wir uns ins Zelt zurück. War der ganze Aufwand nun der Mühe wert? Ich konnte lange nicht einschlafen. Kurz vor zwölf Uhr liess ich noch einmal den Reissverschluss am Zelteingang nach oben schnurren und streckte den Kopf in die Nacht hinaus, drehte ihn nach links, drehte ihn nach rechts. Dann ein Blick nach rückwärts, über den Zeltgiebel hinweg, Richtung Mont Blanc: Da war er! Endlich liess er sich sehen! Aber war er das auch wirklich, oder täuschte mich nur eine Wolke?

Chamonouny, den 4. November 1779.

Abends gegen neun:

« Nur die grossen Massen waren uns sichtbar. Die Sterne gingen nacheinander auf, und wir bemerkten über den Gipfeln der Berge rechts vor uns ein Licht, das wir nicht erklären konnten. Hell, ohne Glanz wie die Milchstrasse, doch dichter, fast wie die Plejaden, nur grosser, unterhielt es lange unsere Aufmerksamkeit, bis es endlich, da wir unseren Standpunkt änderten, wie eine Pyramide über den Gipfeln aller Berge hervorragte und uns gewiss machte, dass es der Gipfel des Mont Blanc war. Es war die Schönheit dieses Anblicks ganz ausserordentlich. Vor ihm sahen wir eine Reihe von Schneegebirgen dämmernd auf den Rücken von schwarzen Fichtenbergen liegen und ungeheure Gletscher zwischen den schwarzen Wäldern herunter ins Tal steigen. » Genau so an diesem Abend, oder vielmehr: in dieser Mitternachtsstunde. Ich kroch aus dem Zelt und überzeugte mich, dass es wirklich die Gipfelkalotte des Mont Blanc war und keine Wolke. Mit einer unbändigen Freude im Herzen schlüpfte ich wieder ins Zelt, verschloss sorgfältig den Eingang, denn es würde nun sicherlich eine kalte Nacht geben. Morgen werden wir aufsteigen! Und übermorgen werden wir auf dem Mont Blanc stehen!

Leukerbad, den 9. November 1779.

« So hat auch der Mensch, der solch grosse Gegenstände der Natur gesehen hat und mit ihnen vertraut geworden ist, einen Schatz für sein ganzes Leben gewonnen. Er hat, wenn er diese Eindrücke zu bewahren, sie mit anderen Empfindungen und Gedanken, die ihm entstehen, zu verbinden weiss, gewiss einen Vorrat von Gewürz, womit er den unschmackhaften Teil des Lebens verbessern und seinem ganzen Wesen einen durchziehenden guten Geschmack geben kann. » Und es war wohl der Mühe wert!

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