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Mont Blanc de Cheilon-Nordwand

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON KURT DIEMBERGER, KRIENS ( LUZ. ) UND SALZBURG

Mit 4 Bildern ( 119-122 ) Der Bergsteiger, der ins Wallis kommt, wird unwillkürlich zunächst seine Schritte nach Zermatt lenken. Kein Wunder, denn dort steht das Matterhorn!

Er wird diesen wunderbaren Berg besteigen und von seinem Gipfel aus einen weiten Blick über all die vielen Berge des Wallis bis weit hinüber zum Mont Blanc tun. Sein nächstes Ziel werden dann die umliegenden Viertausender sein, er wird der Monte Rosa-Gruppe einen Besuch abstatten, wird vielleicht die Dent Blanche besteigen und das Zinalrothorn oder sich hinaus ins Mischabelgebiet wenden, wo der Dom als höchster, ganz auf Schweizer Boden stehender Berg aufragt und die Gipfel des Nadelgrats zu einer Überschreitung einladen. Mag sein, dass ihn im Westen der Grand Combin, dieser einsame Viertausender des Unterwallis, für eine Frühjahrsskitour lockt - aber in den meisten Fällen wird es ihn gleich weiter zum fernen Mont Blanc hinüberziehen, im Bewusstsein, das Wallis ja nun bereits genügend gut kennengelernt zu haben...

Es gibt gar nicht so wenige Bergsteiger, die so denken, und so kommt es, dass die Berge zwischen Dent d' Hérens und Grand Combin ein ziemlich ruhiges Dasein führen. Um so schöner ist es daher, wenn man in eines dieser Täler kommt und vorbei an kleinen Dörfern, die noch einen ganz ursprünglichen Eindruck machen, hinauf zu Gipfeln steigt, die zwar nicht so bekannt, aber darum nicht weniger schön sind.Weit zieht sich auch das Val d' Hérens hinein in diese Bergwelt. Am Ende eines Seitentales, des hochgelegenen Val des Dix, steht ein ganz seltsamer Berg. Sieht man ihn von Norden, so erweckt er den Eindruck einer riesenhaften Pyramide, und seine steile Wand scheint ein von der Natur ganz regelmässig konstruiertes gleichseitiges Dreieck zu sein. Es ist der Mont Blanc de Cheilon.

Schon seit geraumer Zeit hatte es dieser eigenartige Berg Max Eiselin und mir angetan. Natürlich wollten wir den direkten Weg zum Gipfel gehen - über die Nord wand. Diese Wand soll übrigens erst zweimal durchstiegen worden sein, das erstemal in direkter Linie bis zum Gipfel durch Ludwig Steinauer und Gefährten. Soweit uns bekannt war, sollte die Wand im oberen Teil die Schwierigkeit der Matterhornnordwand haben und ungewöhnlich steil sein -ja, das glaubten wir gerne, wenn wir die eng aneinanderliegenden Höhenschichtlinien auf der Landkarte betrachteten.

Es ist ein ziemlich weiter Weg von Luzern bis dorthin, besonders wenn man wenig Zeit für Bergfahrten hat. Aber schliesslich hatten wir wieder einmal genug von Schreibtisch und Gartenaussicht, setzten uns ins Auto und fuhren dem Wallis zu...

Den Talgrund des Val des Dix füllt ein mächtiger Stausee. Er ist gut 5 Kilometer lang. In ca. 2400 Meter Höhe zieht ein breiter Fahrweg seinem westlichen Ufer entlang. Dort sind wir jetzt. Über uns hängen schwere Wolken, und von Zeit zu Zeit regnet es. Schliesslich gewinnt aber doch die Sonne die Oberhand, und als wir nach etwa einer Stunde das Ende des Sees erreicht haben, stehen nur noch einzelne Wolkenfische am Himmel. Auf schmalem Pfad steigen wir weiter über die grünen Hänge, bis auch wir in die Sonne kommen. An den Blumen und Gräsern hängen noch die Regentropfen und blitzen im Licht. Alle Farben bekommen einen warmen Ton, denn es ist spät am Nachmittag, und die Sonne steht tief. Nur die Fläche des Stausees bleibt gleichmässig graugrün.

Von der Dammkrone aus konnten wir unseren Berg schon ein wenig durch die Wolken kommen sehen. Nun sind wir sehr gespannt, wie er aus der Nähe ausschauen wird. Es gilt nur noch die Anhöhe vor uns zu erreichen, und wir beschleunigen unsere Schritte. Aber da liegt immer wieder eine neue Bodenwelle, ein anderer Buckel vor uns, der die Sicht nicht freigibt. Endlich - über einem letzten Buckel - taucht er vor uns auf, ganz nahe: der Mont Blanc de Cheilon!

Flach streicht die Abendsonne über die vielen feinen Schneerippen der Nordwand. Die Felspfeiler und Felsinseln werfen lange Schattenbilder. Wir stehen stumm und schauen zu diesem prachtvollen Berg auf. Dann mustern wir die Wand... « Sausteil schaut das schon aus. » Wir haben Zeit und setzen uns hin, suchen etwas Essbares aus dem Rucksack und betrachten eingehend die Wand.

Während wir bereits im Schatten sitzen, taucht die Abendsonne sie allmählich in ein prächtiges Rot. Einige Wolken ziehen die Flanke hinauf und steigen über den Berg empor. Komisch, das Bild kommt mir bekannt vor. Aber warumDann muss ich plötzlich lachen; denn mir kommt eine Geometriestunde in den Sinn - vor vielen Jahren. Der Mathematiklehrer hatte gerade mit grossem Eifer auf der Tafel ein gleichseitiges Dreieck konstruiert, und wir hatten es im Heft nachgezeichnet. Damals ging es gerade gegen das Frühjahr zu, und so sah ich den weissen Wolken nach, die draussen vor dem Fenster langsam auf die Berge hinzogen. Ja, und auf einmal waren eben die Wolken auch in meinem Heft, segelten um das Dreieck, dem einige Schraffierungen schnell das Aussehen eines Berges gaben. Während ich gerade noch überdachte, wie ich wohl die weitere Umgebung gestalten könnte, war es plötzlich aus... weil der Mathematiklehrer, mit dem ich nicht auf übermässig gutem Fuss stand, meine « künstlerische » Tätigkeit entdeckt hatte.

Ei, und nun steht dieser Berg vor uns, und morgen werden wir mit unseren Schritten die Fallirne in das Riesendreieck zeichnen. Das wird wohl einen ganzen Tag dauern. Oder länger?

Auf alle Fälle wird das morgen eine spannende « Geometriestunde »...

Es ist zwei Uhr nachts, als der Hüttenwart der Cabane de Dix in den Schlafraum tritt und uns weckt. Etwas verschlafen stolpern wir hinunter in die Gaststube, packen die letzten Sachen zusammen und trinken noch etwas Heisses. Dann treten wir hinaus.

Am Himmel zeigt sich nicht das kleinste Wölkchen, und es ist sehr kalt. Im hellen Mondlicht brauchen wir die Lampe nicht aufzudrehen. Mächtig ragt direkt vor uns die Masse des Berges. Er erscheint jetzt völlig unnahbar, und der Mond verleiht ihm ein gespenstisches Aussehen. In einem weiten Bogen betreten wir von rechts her den Gletscher. Wir wollen zunächst einen markanten Felskopf erreichen, der der Wand am rechten unteren Ende vorgelagert ist. Über ihn hinweg dürfte es den einzig guten Zustieg zum Wandfuss geben, denn links sperrt ein hoher Sérac-Riegel jeden Weg. Da wir keine Anstiegsbeschreibung haben, sind wir auf das angewiesen, was wir sehen. Auf jeden Fall sind wir sicher, dass wir hinter dem Felsvorbau irgendwie in das Gletscherbecken unterhalb der Randkluft hinuntergelangen können. Wie, das werden wir allerdings erst sehen, wenn wir dort oben sind. Wir überschreiten den Gletscher, der nur wenige Spalten aufweist, und steigen einen Firnhang empor, der mit zunehmender Neigung zum Felskopf hinaufzieht.

Es ist noch immer Nacht, als wir oben ankommen. Es ist gar nicht weit in das Gletscherbecken hinunter! Am besten seilen wir uns gleich hier an. Während wir alles herrichten, wird es im Osten langsam lichter. Ein schneidend kalter Wind erhebt sich und lässt die Finger klamm werden. Aber es ist Ostwind - ein gutes ZeichenMax verursacht ein etwas zu kurz geratener Steigeisenriemen noch eine Weile Kummer; schliesslich lässt er kurzerhand eine Öse aus - nachdem das Steigeisen genau angepasst ist, sitzt es trotzdem wie angegossen.

Rasch wird es nun hell.

Klar sehen wir den Weg über uns - nur in der Gipfelwand wird man wohl erst an Ort und Stelle sagen können, wo es am besten durchgeht. Bis dort hinauf steigen wir über die mitten in der Wand eingebettete Eisflanke an, die links und rechts von Felsinseln und Plattenzonen flankiert ist. Sie wird nach oben zu immer steiler, ganz allmählich, wie eine riesige flache Schale - und verliert sich dann in der mächtigen Schlusswand. Diese bäumt sich noch wenig unterhalb des Gipfels fast senkrecht auf.Überhänge, verschneite Platten, feine Schneeadern... Pulverschnee? Das würde uns dort oben gerade noch fehlen! Ein etwas beklemmender Eindruck.

Wir erreichen das Gletscherbecken und steigen über kleinere Lawinenkegel zum Bergschrund an. Er ist weit offen; wir finden aber eine Stelle, bei der die Kluft sich gut überwinden lässt.

Dann sind wir in der Wand.

Es geht gut. In den Lawinenbahnen kommt zwar das graue harte Eis durch. Aber dazwischen sind immer wieder verfirnte Rippen stehengeblieben, auf denen wir nun höherklimmen. Manchmal sind sie nur kurz, und man muss hinüber zur nächsten Rippe wechseln. Einmal links, ein andermal rechts. Es ist ein amüsantes Spiel, den besten Weg zu finden. Nach jeder Seillänge wird ein Standhaken geschlagen. Dann kommt der andere nach, geht vorbei und voraus bis zum nächsten Stand. Das gibt jedesmal gut 70 Meter. Rasch gewinnen wir an Höhe.

Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Ihr Licht passt so recht zu unserer Freude über den prächtigen Weg. Sicherlich wird es auch oben hinaus nur « halb so wild » sein, wenn es doch hier so gut geht! Vielleicht sind wir zu Mittag auf dem GipfelJedesmal, wenn der erste einen Stand hackt, kommt eine Wolke glitzernder Kristalle die Wand herunter, rauscht vorbei und verschwindet als immer feiner werdender Schleier in der Tiefe. Klein und ganz verloren steht unten auf einem Hügel am Rande des Gletschers die Hütte. Jede Unebenheit der Moräne modelliert das Licht deutlich heraus. Einige unbedeutende Felszacken am östlichen Ufer werden zu riesigen Schattenfingern, die weit über den ganzen Gletscher greifen. Je höher wir kommen, desto mächtiger wächst im Osten die Dent Blanche heraus. Wild gezackt ist ihr Nordgrat.

Steiler wird nun die Wand, immer steiler. Blicken wir hinunter zum Bergschrund, so erscheint uns die Flanke dort unten flach. Wir erinnern uns deutlich, dass wir vor zwei Stunden diese Neigung als ganz « anständig » empfunden hatten.

Wenn Max voraus ist, sehe ich beim Hinaufschauen nur noch die Beine, den Rucksack und das Seil, das weit herunterhängt, ehe es den Schnee berührt. Wir sind nun auf einer Schneerippe, die ohne Unterbrechung zum Beginn der Felsen hinaufzieht. Sie ist etwa einen Meter breit, und, Eishaken in der Linken, Eisbeil in der Rechten, wir kommen auf ihr gut höher. Der Schnee wird zunehmend lockerer, und mit gemischten Gefühlen blicken wir zu einem gewundenen Couloir empor, das rechts über uns in den Plattenpanzer der Gipfelwand führt und den einzig möglichen Weg darstellt. Jetzt, wo wir uns den Felsen nähern, bäumt sich aber auch die Eisflanke noch erheblich mehr auf. Bei jedem Schritt merken wir, dass unter dem Schnee, der immer dünner wird, das blanke Eis liegt. Oft ändert sich der Untergrund im Verlaufe weniger Meter, und im Zickzack versuchen wir, die beste Möglichkeit auszunützen. Noch geht es ohne Stufen.

Es ist etwa 9 Uhr, als wir den Beginn eines plattigen Felspfeilers erreicht haben, der hier, von kleinen Schneefeldern unterbrochen, gipfelwärts zieht. Wir haben nun bereits mehr als die Hälfte der Wand hinter uns. Der Grat, der rechts die Wand begrenzt, ist merklich näher gekommen. Er ist es, dessen Schatten am Nachmittag hier weit hereinreicht, so wie jetzt am Morgen der Pfeiler seinen Schatten wirft. Wenn wir nur nicht gleich ganz schlechten Schnee treffen...

Wir halten, knapp rechts des Pfeilers, auf einen gefrorenen Wasserfall zu, der gerade über uns über eine Wandstufe hereinhängt. Links davon ist ein grosser Block, der wie ein Balkon vorspringt. Oberhalb wird es sicher einen gut begehbaren Schneepfeiler haben - wenn wir nur erst einmal bis dorthin gekommen sind. Nur noch langsam geht es aufwärts, und dann kommt, was wir befürchtet haben loser Pulverschnee auf Blankeis!

Mit aller Wucht schlägt die Linke den ganz kurz genommenen Haken immer wieder in die steile Fläche, die Rechte stützt mit dem Beil den Körper von der Wand ab, und die Vorderzacken der Zwölfer graben sich ins Eis - ein bisschen nur, doch es genügt noch; gerade noch. « Zwei Meter! » tönt es von unten. Seil ist gleich aus - ich habe nichts dagegen. Einen Griff herausgehackt und einen Haken hinein - so! Dann arbeitet das Beil einen Stand aus dem Eis, und die Schollen sausen hinunter, wo Max sich eine Seillänge tiefer an die Wand drückt, um möglichst wenig abzubekommen. Man ist schon froh, den Steinschlaghelm aufzuhaben!

Max ist da, steht neben mir in der Stufe. Wie gehen wir weiter? Ob vielleicht doch der Fels über uns zur Linken gangbar ist? Sonst bleibt uns nur ein heikler Quergang nach rechts hinauf, wo sich das Couloir fortsetzt. Versuchen wir es einmal links oben. Dort scheint oberhalb einer überhängenden Felsbank ein Band auf den Pfeiler hinauszuziehen...

Mit dem Band ist es nichts - es ist eine steile verschneite Platte. Aber hier und zehn Meter links schaut es viel besser aus, als wir dachten. Bis dahin allerdings, denn dann muss ich für den Weiterweg ganze Ladungen von Schnee wegräumen, um irgendwie zu einem Griff zu gelangen. Vorsichtig tue ich einen Schritt, irgendwo finde ich Halt mit den Eisen - ich sehe nicht wo und bin froh, als ich gleich darauf einen Sicherungshaken anbringen kann. Dann geht die Wühlerei weiter. Kein Stand! Aber ein Riss - die Arme hinein, der Fuss. So. Das geht. Aber noch immer kein Stand. Weiter. Gleich muss es besser werden« Was ist los! » ruft Max von unten. « Nichts », schrei ich schnaufend hinunter und gebe acht, dass ich nicht aus dem verschneiten Riss herausrutsche. Endlich, ein Felskopf — die Pfeilerkante ist erreichtAber du lieber Himmel - wohin bin ich da geraten! Nichts als lauter verschneite Platten, 70° steil. Wenn man die Eisen abziehen würde? Unsinn, wo doch immer wieder die Schneeauflage zwischen den freigeblasenen Stellen kommt. Nein, das wäre ein ganz hoffnungsloser « Verhauer »!

Resigniert schaue ich in die Runde. Rechts drüben der Quergang, den wir vorhin vermeiden wollten. Er schaut von hier recht einfach aus. Freilich, das ist ja oft so, dass es dort leichter ausschaut, wo man gerade nicht ist - aber hier herüben ist nun einmal wirklich nichts zu wollen. Also wieder zurück. Zunächst kommt Max ein Stück nach, schlägt 2 Haken heraus und steigt, von mir von oben gesichert, hinüber an den Beginn des Quergangs. Jetzt kann ich hinunter, und gleich darauf geht Max weiter. Wir sind etwas bedrückt: fast zwei Stunden hat uns dieser « Verhauer » gekostet. Um so flotter soll es jetzt vorangehen. Ja rasch! Aber das ist leichter gesagt als getan. Schon höre ich, dass die Eisen von Max unter dem Schnee auf blossem Fels scharren. Platten! Max kommt etwas zurück, steigt 2 Meter ab, macht einen neuen Versuch. Gespannt verfolge ich jede seiner Bewegungen. Ein wenig Seilzug kann ich geben, aber das hilft dort drüben nicht mehr viel. Max steigt noch einen Meter ab, dann quert er. Ich halte den Atem an, mache in Gedanken jeden Schritt mit. So -jetzt den Block dort nimm - der aus dem Schnee ragt! Er hat ihn! Ich atme auf: das Ärgste liegt hinter ihm. Nun steigt er wieder aufwärts. « Fünf Meter noch! » rufe ich hinüber. Bald darauf schlägt Max einen Stand aus dem Eis des Couloirs und sichert mit zwei Haken. « Ein komfortabler Standplatz », denke ich mir, als ich wieder bei ihm bin. Es ist Mittag, und wir essen eine Kleinigkeit, stehend, und tun einen kräftigen Schluck aus der Teeflasche. Auf dem Gletscher unten sind die Schattenzeich-nungen verschwunden, nur in den Spalten ist es dunkel. Wir sehen gerade von oben her in sie hinein.

Gottseidank sind wir hier wieder im Eis. Hoffentlich reicht es noch weit hinauf. Denn das wissen wir nun, dass das allersteilste Blankeis hier noch immer besser ist als der abwärts geschichtete verschneite Fels. Max geht weiter. Schlägt einige Stufen. « Hier wird das Eis schon wieder ganz dünn, und sauschlecht ist es auch! » ruft er hinunter. Halbmeterweise läuft das Seil aus. Kein Wunder, die Rinne hat schätzungsweise gegen 70 Grad Neigung, und die Eisdecke ist hier durch die Ausaperung so dünn geworden, dass das Eisbeil immer wieder auf den Fels schlägt, ein Fels, der infolge der Bearbeitung durch das Eis meist glatt und hakenfeindlich ist. Eine Seillänge weiter oben scheint es wieder etwas besser zu werden! Und so furchtbar weit kann der Gipfel ja nicht mehr sein. Fast eine halbe Stunde lang arbeitet Max sich höher. Sein Standhaken hält nicht viel, denn er steht am Fels an. Vorsichtig gehe ich weiter. Es ergeht mir nicht viel besser. Schwarzes Eis, Pulverschnee, Fels, der immer wieder durchkommt, und die Zeit, die dahinzustürmen scheint, ohne dass man es gewahr wird. Langsam, furchtbar langsam kommen wir höher. Dabei scheint die Gipfelschneide über uns doch schon so nahe! Es können nur noch ein paar Seillängen sein...

Schräg fällt die Sonne in die Wand. Von tief unten ziehen Wolken langsam über die Flanke herauf. Es wird Abend. Unentwegt steigen wir weiter, aber es ist ein meterweises Vordringen. Die Schneide über unseren Köpfen, die wir schon so nahe wähnten, ist wieder etwas näher gekommen. Nur noch ein paar Seillängen...

Aber das haben wir ja vorhin auch schon gedacht, vor - ich weiss nicht mehr wann - aber zwei Stunden sind sicher vergangen seither. Hier irgendwo haben die Erstbegeher biwakiert. Wo - ist mir allerdings schleierhaft. Ich sehe nicht einmal ein f ussgrosses ebenes Plätzchen - es ist alles abschüssig. Vielleicht weiter oben.

WeiterWie Spinnenfüsse reichen noch ein paar meterbreite Eisschläuche in die Felsen der Schlusswand hinein. Drei Seillängen noch! Die sollten wir schon noch schaffen, ehe es finster wird. Ein Biwak hier verbringen, müsste schon etwas Elendes sein! Wir wählen den rechten von zwei Eis-schläuchen. Aber nach 15 Metern geht es in dem Schlauch nicht mehr weiter. Ich durchwühle den Pulverschnee: Ist denn nirgends ein Griff? Da, ein Spalt für einen Fuss. Aber damit ist es endgültig hier aus. Nun - links ist ja eine Parallelrinne - da wird es wohl irgendwie weitergehen. Hilft nur ein Quergang! Ein breiter Riss vor mir? Der kommt wie gerufen! Wertvoll, dass ich hier eine gute Zwischensicherung anbringen kann. Ein Haken, der hält! Und hinein in die Rinne... Etwa zehn Meter weiter oben kann ich dann einen Standplatz einrichten. Gerade als Max nachkommt, verschwindet die Sonne endgültig hinter einer leuchtenden Wolkenbank. Ungern denken wir an ein Biwak in dieser Steilwand angesichts des Gipfels. Wir hoffen auf Glück. Max geht weiter, verschwindet über mir hinter einer Felskante. Nur meterweise kann ich das Seil ausgeben... es ist noch immer nicht leichter geworden. Von Max selbst höre ich nichts, nur von Zeit zu Zeit kommt ein Schauer von Eisbrocken und Schnee über die Kante hinunter. Ich drücke mich an die Wand und warte. Langsam bricht die Dämmerung herein. Blaugrau ist der Gletscher unten am Wandfuss geworden. Im Tal blinken die ersten Lichter.

Wieder hagelt es Eisstücke, eine Ladung Pulverschnee rauscht hinterdrein, verschwindet in der Tiefe - dann ruft Max von oben. Ich gehe nach.

Die nächste Seillänge bringt mich in die Dunkelheit. Nur noch ein schwacher heller Streifen am westlichen Himmel gibt einen schwachen Schimmer. « Da oben links ist ein Biwakplatz! » ruft Max. Eine Platte, ein paar Meter Blankeis, dann hab ich den Felskopf erreicht. O nein, der ist so klein, dass nicht einmal einer darauf sitzen kannEs ist ganz dunkel geworden. Nur die nächste Umgebung kann ich noch ausnehmen. Einem Scherenschnitt ähnlich sind über mir die Zacken der Gipfelschneide. Biwakieren? Aber wo? Oder lieber mit der Stirnlampe weiterOb es noch weit ist, kann ich nicht erkennen. Nur dass ich hier am Anfang einer neuen Rinne bin. Ich taste mich weiter. Da ist Schnee - guter Trittschnee! Vorsichtig weiter. Der Schnee ist etwas locker, aber gut zum Steigen. Hier ein Zacken! Max soll nachkommen, er hat die Lampe. Das muss doch noch gehen!

Max kommt, stapft einige Meter hinauf zu einem besseren Platz und sichert mich nach. Nun kann er gut den Rucksack öffnen. Wir drehen das Licht an - der Kegel zeichnet einen grossen runden Fleck auf einen Felszacken der Gipfelschneide So naheHöchstens noch vierzig Meter. Und die Felsstufen da hinauf sind gar nicht schwer. Gewonnen, doppelt gewonnen! Ich kann es kaum erwarten, die Lampe auf dem Helm zu haben. Während dann in ihrem grellen Schein ein Block nach dem andern vor mir auftaucht, male ich mir im stillen aus, was für Augen wir morgen früh wohl gemacht hätten, wenn wir eine Seillänge unterhalb des Gipfels ein jämmerliches Biwak bezogen hätten -. Noch ein paar Meter! Beim Teufel, muss ich jetzt noch mit dem Vorderzacken in einer Ritze hängenbleiben ?! Ein Ruck, er ist frei! Es folgt der letzte Block, die Schneide, und es ist geschafft!

Gleich darauf ist auch Max da. Wir drücken uns die Hände, setzen uns hin und freuen uns zunächst einmal. Freuen uns, dass wir dem Biwak da unten entkommen sind, dass wir jetzt endlich die Steigeisen, die wir den ganzen Tag an den Füssen hatten, ausziehen können, dass wir uns hinsetzen können, hinunterschauen zu den Lichtern und wissen: Jetzt sind wir auf dem Mont Blanc de Cheilon, und seine grosse Wand liegt unter uns!

Dann kramen wir aus dem Rucksack alles noch Essbare heraus und sind angenehm überrascht, dass auch in der Flasche noch etwas Tee ist. Das tut gutUnd der Schein unserer Lampe schafft rund um uns einen heimeligen Kreis.

Mit etwas ungeschickten Beinen überklettern wir die Zacken der Gipfelschneide. Man muss sich erst wieder an das Gehen ohne Steigeisen gewöhnen. Wir wissen, dass uns ein kurzer Grat hier zunächst auf einen hochgelegenen Gletscher führen muss und steigen so langsam in der Dunkelheit über das Blockwerk hinunter. Dann betreten wir den Gletscher und finden auch sogleich die Spur des Normalweges. Wir sind unseren Vorgängern sehr dankbar, denn so kommen wir mühelos und ohne suchen zu müssen, tiefer. Wohltuend dringt es uns ins Bewusstsein, dass die gespannte Aufmerksamkeit der vergangenen Stunden nun unnötig geworden ist und dass wir nur noch auf einem angenehmen und leichten Weg hinunter zur Hütte zu marschieren brauchen. Es ist auch gleichgültig, ob wir da eine Stunde früher oder später ankommen. Wir gehen einfach hinunter bis wir dort sind, auf einem Weg durch eine wunderbar klare Nacht.

Eine angenehme Müdigkeit befällt uns, und als wir auf dem folgenden Blockgrat angekommen sind, strecken wir uns auf einem bequemen Plätzchen etwas hin. Es ist sehr schön: Über uns der Himmel in all seiner Pracht. Die Sterne blinken. Manche scheinen ganz nahe, andere wieder weit entfernt zu sein. In ihrem vielfältigen Gefunkel lassen sie ein wenig die Tiefe des Raums erahnen. « Womit man das Bild wohl vergleichen könnte? » denk ich mir. Vielleicht mit einem ungeheuren samtenen Kissen mit vielen Tausenden verschieden tief steckender Nadeln mit goldenfunkelnden Köpfen? Ich muss lächeln! Wozu Vergleiche? Da oben ist er ja selbst, der Sternhimmel - erhaben über alle kleinen Worte und über alle Unterschiede in den Ansichten der Menschen... Irgendwo fällt ein Stein und weckt mich aus meinen Gedanken. Ich sage zu Max, dass wir wieder weitergehen sollten. Und bald sind wir wiederum im Abstieg über das Blockwerk. Etwas später geht der Mond auf, und die Schattenlinien der Berge fallen auf den Gletscherboden unter uns. Im Westen schimmert der Grand Combin. Wir steigen hinunter zum Gletscher und kommen auf einen Sattel. Hinter uns eine schlanke Silhouette gegen den Himmel - La Ruinette.Vor uns geht es hinunter auf den Gletscher des Val des Dix. Wieder haben wir die Spur vor uns und folgen ihr im hellen Mondlicht. Langsam rückt wieder die Gestalt unseres Berges in unser Blickfeld. Er sieht mächtig und unnahbar aus - wie gestern; wir freuen uns und denken daran, wie wir vor bald vierundzwanzig Stunden auf ihn zugeschritten sind. Wir hören das Gurgeln der Schmelzwässer am Rande des Gletschers und streben den Moränenhügeln zu, treffen wieder die Schneeflecken und den Bach, über den wir schon einmal in der Nacht gegangen sind, und um 2 Uhr nachts setzen wir uns auf die Mauer vor der Hütte und ziehen die Schuhe aus. Wie sind wir froh, dass uns nur noch ein Anstieg bevorsteht: Die Stiege hinauf zum Schlafraum.

Es ist ein strahlender Morgen; besser gesagt, es ist eigentlich schon Vormittag, als wir vor die Hütte treten. Unter einem frischen blauen Himmel dehnt sich breit der Schneescheitel der Pigne d' Arolla, klein und nett steht im Osten die Aiguille de la Tza, und talauswärts ragen die wilden Türme der Aiguilles Rouges auf. Weit drüben im Osten sehen wir noch den Gipfel des Matterhorns. Ein leichter Wind streicht um die Hütte, und die gelben und orangenfarbenen Blumen, die in reicher Zahl auf dem Hüttenhügel wachsen, nicken mit den Köpfen. Es ist Alpenmohn. Da und dort summt eine Biene von Blüte zu Blüte. Wir schauen ihnen zu, schauen von Zeit zu Zeit zu unsrer Wand hinauf und summen auch - irgendein Lied. Und es scheint uns, als ob an diesem herrlichen Tag auch die Luft und alles um uns mitklingen würde; auch die Berge und die strahlenden Gletscher. Dann schauen wir nach, ob das Seil trocken ist. Ja, es ist trocken. Und da sind unsere alten getreuen Haken - manche von ihnen haben eine komische Form, und ein paar Hammerschläge werden ihnen nicht schaden. Dann packen wir die Rucksäcke. Ein « Au revoir! » dem Hüttenwart, und wir steigen über die Moränenhalden zum Gletscher hinunter. Während wir dem See entlang wandern, drehen wir uns immer wieder und wieder um. Weit hinten im Tal grüsst der Mont Blanc de Cheilon. Wir grüssen zurück und freuen uns am Erlebnis, das uns dieses Tal und sein wundersamer Berg schenkte.

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