Neue Glarnerfahrten | Club Alpin Suisse CAS
Soutiens le CAS Faire un don

Neue Glarnerfahrten

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Walter Blumer.

Leitereck-Nordwand. 19. Oktober 1930.

Und die Eckstöcke hatten es uns für diesmal angetan. Warum wohl? Weil sie so trotzig herausfordernd in unsere Buden schauen? Mag sein. Am Samstagabend stampften wir auf bekannten Pfaden zur Bächialp empor. Nachdem wir in finsterer Nacht drei Stunden dahingestolpert — man weiss ja, die Steine sind dann besonders heimtückisch —, waren wir sehr zufrieden, als wir uns ins duftige Heu der Alphütten am Mittelstaffel legen konnten.

Ein kalter, klarer Morgen liess in uns keine Zweifel aufkommen. Flink herunter von der Heubühne, und schon begann unser Anstieg gegen den Fluhberg. Wie doch diese tiefausgetretenen Kuhstapfen lasterhaft sind! Ein kleiner, zwei grosse, ein halber Schritt, so ging 's immerzu. Oben auf dem Fluhberg hielten wir in den ersten Sonnenstrahlen Rast. Gerade vor uns standen kalt und abweisend die Eckstöcke. Ursprünglich galt unsere Fahrt dem mittlern Eckstock. Die lebendigen Schutthänge sahen nicht verlockend aus. Rasch ward der Plan umgestellt. Unsere Wahl fiel auf den vordem Eckstock, mit seinen dreissig unheimlich abfallenden Wänden. Einzig zum mittlem Nachbar hinüber zeigt er sich von einer etwas freundlicheren Seite. Doch auch der Übergang vom mittlem Stock erfordert beim grossen Gratturm einiges Können. Wir wollten also über die jungfräuliche Nordwand auf das Leitereck gelangen und von dort die selten erstiegene Ostwand in Angriff nehmen. Um 8 Uhr standen wir am Fusse der Nordwand. Beinahe senkrecht stotzt sie 200 Meter. Wird es gehen? Das Gefühl der Unsicherheit krabbelte mir durch den Rücken hinauf. Probieren kann man ja, der Rückweg steht uns immer noch offen. Also frisch angepackt!

Erst über einige leichtere Felsstufen empor. Das gab wieder neuen Mut. Es geht ja! Aber bald kam es kritischer. Immer mehr wurden wir von der Wand nach links gedrängt. Rechts hatten wir die senkrechte, unnahbare Plattenwand des Vordereckstockes. Ein enger Riss mit guten Griffen liess uns wieder etwa 30 m höher kommen. Am obern Ende des Risses setzte sich Pius auf einen Felspfeiler. « Nur immer hinauf! » Dieser Ruf lockte. Gleich war ich bei ihm. Sechs Meter nach links konnten wir einen langen Kamin entdecken, der sich nach unserem Dafürhalten bis zu einem eingeklemmten Block ersteigen liess. Aber hinüber zum Kamin? Der Riss, durch den wir heraufgeklettert, zog sich auf der Gegenseite des Pfeilers noch einige Meter hinunter, bis zu einigen Tritten, die uns zum grossen Kamin hinüberführten. Mit Händen und Füssen galt es nun zu stemmen in der engen Rinne. Der eingeklemmte Block liess uns leichter durch, als wir von unten schätzen konnten. Er gab unter sich eine Höhlung frei, durch die wir uns gerade durchzuzwängen vermochten, indem wir die Rucksäcke vor uns herschoben. Für mich an zweiter Stelle war es kein Vergnügen, von oben fortwährend mit Steinen und Schutt bedacht zu werden. Am obern Kaminende versperrte ein Überhang den Anstieg, doch schon verstemmte sich Pius in eine Felsspalte zur Rechten, die eine Ausweichmöglichkeit bot. Zaudern — Tasten — Griffesuchen — ein Ruck, seine Absätze verschwanden. Das Seil brachte mich sicher hinauf. Die schlimmste Stelle war überwunden. Über einige Felssätze empor, mit guten, aber spärlichen Griffen, und nun standen wir auf dem Leiter-eckgrat, unmittelbar am Fusse der gewaltig aufstrebenden Vordereckstock-Ostwand. Noch einige Schritte über den Grat, und wir liessen uns beim Steinmann nieder. Zufrieden legten wir uns in die warme Oktobersonne. Prachtvoll der Tiefblick ins Bächital! Den obersten Teil unseres neuen Aufstieges konnten wir überblicken, die tieferliegenden Teile blieben verborgen, zu steil stürzt sich die bisher unberührte Wand ins scheinbar Ungewisse.

Eine Stunde erfreuten wir uns der wonnigen Gipfelruhe. Doch mit unsichtbaren Fäden zog und lockte uns die furchterregende Ostwand. Und alsbald legten wir Hand an. Über die erste Wandstufe auf äusserst spärlichen und schmalen Leisten noch ordentlich rasch empor. Der Einstieg zum Kamin hingegen bot unsern doch etwas ermüdeten Muskeln zu grosse Schwierigkeiten. Ungern genug traten wir den Rückweg an. Ein Jahr später war es uns dann vergönnt, diese schwere Steilwand zu erzwingen. Auf der Südseite des Leiter-ecks erfreuten uns prachtvolle Edelweiss. Über Rasenhänge nach rechts fanden wir bald die Abstiegstelle, die etwas plattige Nische in der Südwand. Und glücklich setzten wir unsern Fuss auf Braunwalds schöne Alpen.

Seither haben wir diese Begehung auf verschiedenen Varianten wiederholt. Immer wieder finden wir Neues, Lockendes. Kurz, es ist unser Weg!

Vrenelisgärtli. 31. Januar 1932.

Der schneearme Winter liess in uns allerhand sommerliche Skipläne aufsteigen. Bei dem anhaltend schönen, klaren Januarwetter 1932 war der Schnee über Berg und Tal ziemlich gleichmässig harstig geworden. Die ganze Woche verlegten wir uns auf das Beobachten des Vrenelisgärtliaufstieges über Guppen. Die oberste Wand war in den steilsten Stellen schneefrei, und nur unter dem Gipfel waren die Bänder bedeckt.

Am Samstagmittag kam die ersehnte Entspannung. Wohlausgerüstet mit Ski, Pickel, Seil und Steigeisen schoben wir gemächlich Guppen entgegen, nachdem wird das Dorf Schwanden geflissentlich umgangen hatten, um nicht zu vielen wissensdurstigen Gemütern in die Hände zu fallen. Beim untersten Guppenstaffel waren wir froh, die gewichtigen Ski von den Schultern zu werfen. Oberhalb der Hütten am Mittelstaffel machten sich kugelige Lawinenreste unliebsam bemerkbar. Unverhofft steckte man in einem Loch drinnen, und das Herausarbeiten wurde nicht mühelos. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir die obersten Alphütten.

Nach der Mahlzeit zogen wir noch eine Spur auf die höchste Kuppe des « Geissers » hinaus, um den einzig schönen Tiefblick in das nächtliche Tal zu geniessen. Wie wir uns umkehren — wir erschrecken — schwarz, gespenster- haft drohend steht wuchtig der himmelstrebende Aufbau des Glärnisch. Die zu Hause so hochtrabenden Gedanken von erster Skibesteigung sinken zusammen zur einfachen demütigen Frage: Lassest du uns durch, uns zwei armselige kleine Menschlein, die sich erfrechen, an deiner winterlich erstarrten Brust zu rütteln? Gleich regt sich daneben auch unser Stolz. Wir sind doch an anderen Orten auch schon hochgekommen! Warum soll es hier nicht gelingen?

Morgenglanz über den Glarneralpen! In der Frühe beim Aufbruch ist doch immer dieselbe Geschichte. Geschlagene zwei Stunden vergehen, bis wir von der Hütte loskommen. So ward es schon halb sieben, als wir unsere Latten schulterten und losstampften, den Heubergen entgegen. Bis gegen den Mittelstock hatten wir mühelosen Hartschnee. Unter dem genannten Vorsprunge durch, auf dem flachern Teil der Heuberge, versanken wir oft bis zu den Hüften. Glücklicherweise lag dieses Stück bald hinter uns. Ein immer steiler ansteigendes Schneefeld zog sich hinauf bis zum Grat unter den « Spissen ». Bis zum Guppengletscher hinauf gab 's nun Arbeit für Hand und Fuss. Die Ski banden wir auf den Rucksack. Mit dieser Last auf dem Buckel wollte jeder Meter höher erkämpft sein. Aber unentwegt immer der Sonne entgegen! Am Fusse des Couloirs setzten wir uns für einige Minuten, um das Schauspiel des Sonnenaufganges zu geniessen. Zwei — drei Strahlen, zehn und gleich Tausende schössen über den jenseitigen Horizont empor. Schweigen!

Weiter! Guter, festgesonnter Schnee erleichterte uns den Aufstieg im langen Schneezuge. Am obern Ende wichen wir wegen Pulverschnees nach links aus auf einige Felsköpfe. Doch diese zeigten sich als sehr heimtückisch. Nirgends konnte der Fuss festen Halt finden. Mit gegenseitiger Unterstützung gelang es, auf ein verfirntes Grätchen hinüberzuqueren. Kurz unter dem Guppengletscher machten wir einen Fotohalt. Vor uns lag der wellig ansteigende Guppengletscher. Ha, wie leicht ging es nun hinan auf den Gleit-hölzern. Wir glaubten uns gehoben. Nun nur noch der Steilhang zur Kanzel und die Schlusswand. Doch der Steilhang bot uns knietiefen Pulver. Zum Steigen mit den Brettern war er zu steil. Oft bis zum Bauch im Schnee stiegen wir unendlich langsam und mühselig vorwärts. Ein Glück, dass es nur eine kurze Strecke war! Am Fusse der grossen Gärtliwand benutzten wir die Rast, um die Hölzer wieder auf dem Sack zu befestigen. Nun begann die reine Felsarbeit. Äusserst vorsichtig mussten wir uns vorwärtsarbeiten, immer auf die Skispitzen und Enden achten, dass sie sich nirgends verfangen konnten. Trotzdem gab es oft einen plötzlichen Stoss, oder die Last zog langsam, aber kräftig nach hinten. Unheimliches Gefühl! Immer tiefer rückte der Gipfel. Nun noch das letzte Schneegrätchen. Endlich! 6 Stunden hatte der Aufstieg verlangt.

Nach einstündigem Aufenthalt nehmen wir unsere Last wieder auf. Bis zum Verbindungsgrat zum Rüchen ging der Abstieg gut vonstatten. Der verwächtete Grat war von trügerischem Harstschnee bedeckt und liess uns bald wieder tief einsinken. Immer näher rückte der Felszacken, der uns noch vom grossen Glärnischgletscher trennte. Es kostete einige Gliederverrenkungen, bis wir die Bretter über den Gratzacken hinaufgeschaukelt hatten. Aber dann begann das befreiende Schwingen. Der langgestreckte Gletscher lag nur allzu rasch hinter uns. Die Hänge um die Glärnischhütte boten den schönsten Frühlings-Sulzschnee.

Punkt 4 Uhr verliessen wir die freundliche Hütte. Oberhalb des grossen Felsbandes, durch welches der drahtseilgesicherte Steig klettert, war die Skiherrlichkeit zu Ende.

Schon im Vorauen, hinten im Klöntal, brach ziemlich rasch die Nacht ein. Im Dauerlaufschritt schoben wir dem See entlang. Durch das Löntschtobel konnten wir noch ein Stück die treuen Bretter benützen, bis uns Kies und Sand kratzenden Halt geboten. Müde, aber vollauf befriedigt trotteten wir Glarus zu.

Bifertenstock-Nordwand. 31. Juli 1932.

Im Eilschritt kamen wir den Bifertengletscher hinunter. Oben an der Schneerunse hielten wir einen Augenblick, schauten zögernd hinab, und gleich gab es eine rasende Schussfahrt. Erst drüben bei der Grünhornhütte fand unser flüchtiger Fuss Ruhe. Der Zweck der Rast war, die Nordwand des wuchtig aufgebauten Bifertenstockes zu studieren, um — das nächste Jahr vielleichtJene Felsbarriere scheint mir kaum überwindlich zu sein. Ja, und oben siehst du genau denselben Riegel, nur nicht so hoch.

Als wir im folgenden Februar den Bifertengletscher mit den Ski unsicher machten, zog immer wieder diese etwa 1200 m hohe Wand unsere Blicke auf sich. Schätzen, abwägen: Steinschlag, Lawinen, Eis? Es wird kaum möglich sein!

Gemächlich stiegen wir am 30. Juli hinauf zur Fridolinshütte. Aller Lasten ledig, unternahmen wir einen Erkundigungsgang hinüber an den Fuss der Bifertenwand zur Schneezunge, die den Einstieg zum Akademikerweg weist. Bis zu diesem Punkte konnte es gut gehen, der Gletscher war noch schön geschlossen und hart. Zufrieden kehrten wir zur Hütte zurück.

Unser Plan stand fest. Wir wollten versuchen, aus dem « Akademiker » heraus nach rechts in der Richtung auf den Gipfel anzusteigen. Sollte dies nicht gelingen, so würden wir auf Punkt 3063 losklettern, also der bekannten Route folgen. Diese Absicht teilten wir am Morgen dem Hüttenwart mit.

Nach einer etwas unruhigen Nacht in der gut besetzten Hütte um 3 Uhr los! Tastend überschritten wir die Moräne, und im ersten fahlen Frühschein querten wir mühelos den Gletscher. Der Tag brach an, als wir das Einstiegscouloir in Angriff nahmen. Schon dieses zwang uns die Steigeisen an die Füsse. Immer rechts an die Felsen haltend, hatten wir die Schneezunge bald hinter uns. Nach links um eine Felsecke zu leichten, allmählich ansteigenden Block-sätzen. Über uns konnten wir das gelbliche Felsband erblicken. Rasch gelangten wir an den Fuss dieses beinahe senkrecht aufstrebenden Wandstückes. Bis zu dieser Stelle hatten wir in leichter Kletterei gut 2 Stunden gebraucht. Nun hinaus aus dem Akademiker! Wortlos begannen wir die immer kitzliger werdende Arbeit. Vor uns reckte sich ein Felsturm. Erst versuchten wir uns an seiner östlichen Flanke. Ein Mauerhaken zeugte davon, dass an dieser Stelle schon geübt worden, wahrscheinlich erfolglos. Das brüchige Gestein bewog auch uns zur Umkehr, um auf der Westseite bessere Verhältnisse zu suchen. Einige Felssätze umgehend, erreichte ich einen erhöhten Kopf, von dem aus ich einen guten Überblick hatte.Vor mir öffneten sich nebeneinander drei Kamine, die Steilwand zergliedernd. Alle schön ausgeplattet. Erst versuchte ich links. Bis zu einem Überhang kam ich noch hoch, wobei mir die Reepschnur den Rucksack nachbrachte. Dann war Halt geboten. Zurück. Der Sack baumelte über Kanten und Sätze nach unten, und als er eine Nische als Sitzplatz benutzte, konnte ich, vorsichtig absteigend, nachfolgen. Von Pius war nichts zu sehen, und ich vermutete, dass er auf der Ostseite doch wieder einen Anstieg gefunden hatte. Ich machte mir daher keine Gedanken, denn das war bei uns schon oft vorgekommen, dass jeder seine Spezialarbeit leisten wollte.

Weiter rechts ansetzend, gelangte ich über schmale, aber gute Griffe zu einer handbreiten Felsleiste. Mitten in der schönsten Arbeit grüsste lachend Pius vom trennenden Felsturm. Von der Ostseite her hatte er ihn äusserst schwierig erstiegen. « Na, warte, der Faden kommt gleich! » Ich versuche es ohne diese Hilfe. Der Rucksack liegt tiefer, mit der Schnur an mich gebunden. Das schmale Gesimse an senkrechter Wand weist etwa zwei Meter nach links zu einem Riss. In der Tiefe der Felsspalte ist ein guter Stein verankert. Aber hinüber? Ein gewagter Spreizschritt, einen Augenblick nichts wie Luft? Nein, das kann ich nicht verantworten, wenn doch von oben Seilsicherung zu erwarten ist! Wieder zurück. Nun stehe ich auf dem Gesimse und äuge nach dem verbindenden Faden. Für Pius ist es nicht leicht, gleich richtig zu werfen, schräg in die Wand hinaus. Doch das Glück ist uns hold, der erste Wurf gelingt. Das Seil zwischen den Zähnen — die Hände haben genug zu fassen, um den Körper in senkrechter Lage zu halten —, turne ich zum Rucksack zurück. Sack auf und wieder empor, gesichert, zum Riss, den ich nach einem schwebenden Moment erreiche. Schwer muss nun geklommen werden, denn Griffe sind keine vorhanden, nur kahle Platten. Dann stehen wir wieder beieinander. Vorwürfe regnen nur so hin und her wegen der Weg-trennung. Frischgestärkt müht sich Pius mit einem unförmigen Stein ab, um ihn als Siegeszeichen auf den Felsturm zu setzen. Das Vorhaben gelingt jedoch nicht. Der Verbindungsgrat zur Spitze ist gar zu schmal.

An einer brüchigen Steilwand können wir uns höher arbeiten. Links ist eine unruhige Trümmerfallschlucht. Das lose Gestein lässt uns vorsichtig abtasten. Unvermerkt eilen die Stunden. Dass es schon gegen Mittag geht, können wir daran ermessen, dass die Tödigänger schon wieder im Abstieg über den Bifertengletscher sind. Auf einer breiten Felsbastion halten wir längere Mittagsrast. Ein Blick nach oben zeigt uns, dass erst die Hälfte des Aufstieges erkämpft ist. Gedanken an ein Biwak steigen unwillkürlich auf. Dies hatten wir jedoch von Anfang an in unsere Rechnung einbezogen.

Der Tiefblick ist überwältigend. Lang streckt sich der Bifertengletscher mit seinen blauen Abbruchen. An seinen Ufern, kaum sichtbare Punkte nur, ducken sich die Grünhorn- und Fridolinshütten. Dann streift der Blick hinein in unsere Wand, zum « Akademiker », den wir hier schön überblicken können.

Da — ein Rollen, ein Donnern durchzittert die Luft. Was ist losAch drüben! Eine mächtige Lawine wälzt sich vom Tödi, schäumt über Wände, zerbricht im Staub, löst sich auf über dem Rötigletscher.

Höher steigen wir. Nach rechts zieht ein weiter, leicht mit Neuschnee bedeckter Schuttkessel, eine Sammelmulde für Stein und Eisfälle. Durch diesen Kessel könnten wir eventuell zum Westabbruch hinausqueren. Die Verlängerung nach Osten geht in ein abschüssiges Schuttbrett über, das auf Punkt 3063 führt. Wir hätten also Auskneifsmöglichkeiten. Uns reizte jedoch die Gerade. Über gut gestuften Fels geht 's bis zum Fusse eines 6 Meter hohen, lotrechten Absatzes. Aussichtslos! Unsere Blicke suchen, hängen sich an jede Ritze... Doch, hier bietet er eine Blösse. Zwei — drei feine Trittchen, dann wieder nichts, oben ein unsicherer, eingeklemmter Block. Es muss gehen! Ein Schulterstand bringt Pius in halbe Höhe. DannLange steht er. Ein krampfhaftes Anziehen, ein Fluch, ich kann aufatmen. Er steht oben. Ja, er oben und ich unten, mit Seil und beiden Rucksäcken. Prachtvolle Situationen! In der Hitze des Gefechtes hatten wir das Elementargesetz vergessen, dass der erste das Seil mitnimmt. Nun werfe ich einfach das Seil nach oben. Das ist aber nicht einfach. In unsicherer Stellung kann ich keinen kräftigen Wurf tun, immer in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren. Auch der Ausweg mit einem angebundenen Stein will nicht gelingen. Nun versuchen wir es anders. Pius bindet seine Hosenträger, den Leibgurt, das Taschentuch, ein Stücklein Schnur zusammen und lässt dieses zweifelhafte Gehängsei über die Wandstufe herunterbaumeln. Meine Aufgabe besteht darin, in halb schwebender Lage das Seil am Taschentuch zu befestigen. Beim zweiten Anlauf gelingt es, unsere Unterlassungssünde wettzumachen. Die Rucksäcke wackeln die Verbindung hinauf, und dann kann ich gesichert folgen. « Wenn ich gewusst hätte, dass du?... Das hättest du wissen sollen! » Wir komplimentieren uns gegenseitig, jeder mit der Versicherung, den andern nie mehr auf eine Bergfahrt mitzunehmen. Lachend nun über eine schwach ausgebildete Wandrippe, die zu einem Schuttband führt. Über uns der letzte Felsriegel, der den Ausstieg zur Firnhaube sperrt, von rechts nach links von einem griffarmen Kamin durchzogen. Die Verbindung von unserem Schuttband zum Fusse des Kamins wird durch einen ungefähr 8 m hohen Trümmerkegel gebildet. Abgespaltene, pyramidenförmige Blöcke fahren bei jeder kräftigen Berührung donnernd zur Tiefe. Ganz leise und behutsam schwindelt sich Pius von Satz zu Satz, jeden fehlerhaften Druck vermeidend. Hinter einem schützenden Block hervor beobachte ich seine Bewegungen und leite das Seil. Jetzt ist er oben am Kamineinstieg. Ich kann folgen, nachdem mir die Säcke vorangebaumelt sind. Mit einem Schulterstand hebe ich Pius zur Stemmarbeit in die Höhe.Von oben fallen fortwährend einzelne Tropfen. Ächzend geht mein Kamerad langsam empor, drückt sich um eine Ecke und verschwindet. Ruck um Ruck kann ich das Seil ausgeben. Immer dichter fällt das unerwünschte Nass, und innert 10 Minuten benetzt ein Wässerlein den Kamin. Der Rucksack-Nachschub löst unheimlich viel loses Material, das pfeifend über und neben mir zur Tiefe schiesst. Ich stehe wie in einem Trommelfeuer. Als letzte Last folge ich. Die Seilhilfe muss ich diesmal in Anspruch nehmen, denn der nasse Fels lässt kein Stemmen mehr zu. Wenn wir nur eine Viertelstunde später hier angepackt hätten, dann wäre diese Stelle nicht mehr zu überwinden gewesen.

430 Uhr. Nun ist aber bald Arbeitsschluss, vermuten wir. Falsch geraten. Die Firnhaube des Gipfels grüsst noch ein gutes Stück über uns. Hinauf! Eine luftige Kletterei leitet zum Eisabbruch. Eine scharfe Eiskante verbindet vom Fels zum Firndach empor. Doch an der Seite entdecken wir heimtückische Risse. Wir halten uns etwas nach rechts unter der Eisbacke. Auf die Westkante des Gipfels hinauszuqueren, will uns auch nicht einleuchten. Fortwährend poltern dort Eistrümnier in einen Trichter, der die Verbindung vermittelt. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns in der Eisflanke hinaufzuhacken. Ihrer enormen Steilheit wegen ist das nicht gerade leicht, und die Sicherung lässt auch zu wünschen übrig. Es gilt rasch zu handeln. Die Sonne will schon verschwinden. Abwechselnd schlagen wir eine Stufenleiter schräg durch die Eisflanke. Eine volle Stunde hält uns dieses letzte Hindernis fest. Dann — endlich treten wir hinaus auf das Firnplateau des Bifertenstockes! Noch etwa 200 Meter über den verfirnten Verbindungsgrat, dann treten wir zum Steinmann hinunter. 7 Uhr abends. 16 Stunden hat uns die Wand festgehalten!

Von Westen her treiben schwere Wolken.

Nach kurzem Beraten wählten wir den Abstieg über den Bänderweg nach Ponteglias. Am Montagmorgen zogen wir hinüber zum Muttsee.

Hinterglärnisch-Südkante. 21. August 1932.

Diesen Sommer musste ich doch endlich meine begonnene Arbeit vollenden. Ich bin nicht gewohnt, nur Halbfertiges zu liefern. Voriges Jahr hatte ich nämlich von Oberblegi aus einen direkten Anstieg auf den Hinterglärnisch gesucht. Bis zum grossen Bächiband hinauf gelangte ich mit Mühe, aber dann zog ich es vor, über das Rad und den Zeinenfirn nach Bächi abzusteigen. Oben im Bande hatte ich Gelegenheit, den zwei famosen Kletterern Bühler und Frey zuzusehen, wie sie den Bächistock über die schwarzplattige Südwand auf einem neuen, schweren Wege zwangen.

Am Morgen bummelte ich zögernd über den Alpboden. Sollte ich das Unternehmen wieder wie letztes Jahr allein beginnen? Gutes Wetter und untätig sein? Zum Baden hatte ich nicht Seil und Steigeisen nach Oberblegi geschleppt. Über Platten und Rasenhänge stieg ich steil empor zum Bande, das von den Heubergen zum Zeinenfirn hinaufführt. Durch den Erosionskessel unter dem Spitzisteinturm querend, gelangte ich auf den schwach ansteigenden Firn. Ich hielt gerade auf die Ecke zu, die hier etwas aus dem Kalkmassiv hervortritt. Ein Schuttband stellt die Verbindung vom Gletscher her. Immer die Kante benützend, konnte ich über rasengepolsterte Sätze gemächlich ansteigen. Ich musste mich beeilen, damit ich die lange Wasserrinne noch in trockenem Zustande durchklettern konnte. Das letzte Jahr hatte mir eine feuchte Erinnerung an diese Stelle gespendet.

Nun war das Schuttband erreicht, das in halber Höhe durch Spitzistein und Nidfurnerturm führt. Nichts als Geröll. Ekelhaftes Steigen! Ein mächtiger, überhängender Wulst bietet hier gebieterisch Halt. Etwa 30 m rechts, gegen die Fallirne des Guppengletscherabbruches, liegt verborgen eine schmale, 50 m hinaufführende Klimmrinne. Ein kitzliger Einstieg geht in sehr schöne Stemmarbeit über. Oben bildet ein sich weitender Trichter den Abschluss. Ein grottenartiges Bild bietet sich hier: von allen Seiten hängt schwarzer, wasserüberronnener Kalkschiefer über. Diesmal wäre ich froh gewesen, wenn etwas mehr Schmelzwasser geflossen wäre. Mein trockener Gaumen lechzte. Hinaus aus diesem steinschlaggefährdeten Krachen! Die linke, senkrechte Wand gestattet ein Entrinnen. Dieser Quergang war die schwerste Stelle des ganzen Aufstieges. Einige kaum fussgrosse Leisten, die etwas abwärts geplattet sind, führen zurück zur Kante. Die Hände finden schöne, aber teilweise etwas schlecht angemauerte Griffe. Wieder auf dem Grat atmete ich erleichtert auf. Die folgenden Blöcke gaben nicht mehr viel zu schaffen. Es war 10 Uhr, als ich mich auf dem grossen Bächiband gemächlich niederliess. Eben stiegen drüben am Bächistock die ersten Steiger über das Gipfelgrätchen.

Nun folgte für mich der unbekannte Teil der Route. An dieser Stelle hatte ich damals die Waffen gestreckt. Zweifelnd suchte ich den vorspringenden Grat ab. Gerade einladend sah die Geschichte nicht aus. Diesmal musste es gelingen. Etwas rechts des vorspringenden, markanten Pfeilers konnte ich anpacken. Einige gelbliche Felsklippen leiteten wieder zum Grat hinauf, den ich ein Stück in sehr brüchigem Gestein verfolgen konnte. Ein Plattenabsatz drängte mich nach links in die Wand hinaus. Gleich öffnete sich über mir ein Kamin mit auswärtsgeschichteten, schwarzen Platten. Die wollten mit Spreizschritten behandelt sein. Quergang nach links wie auf einem städtischen Bürgersteig, breit und vollständig ausgeebnet. Ein kurzes Couloir leitete zurück zur Kante, gerade am Fuss eines kleinen Überhanges. Das Seil musste ausgepackt werden, damit die unentbehrliche « Kugel » ihren Weg zu mir hinauf finden konnte. Dann « schwindelte » ich mich unbeschwert an knappen, weit auseinanderliegenden Griffen über dieses Hemmnis hinauf. Nun konnte ich das letzte kurze Gratstück überblicken. Die Schwierigkeiten waren überwunden. Grosse, lose aufliegende Platten, zur Talfahrt bereit, zierten die Gipfelpartie. Leise tastete ich über dieses Geschiebe zur Spitze. Da erhob sich eine etwa 4 m hohe Wächte. Sie lehnte sich jedoch hübsch nach rückwärts. Einige Tritte wurden geschlagen, und dann konnte ich mich wonniger Gipfelruhe ergeben. Sieben Stunden hatte ich für den Anstieg gebraucht.

Sinnend schaute ich nach einigen Stunden aus dem Motorboot auf dem Klöntalersee hinauf, empor zu den Kalkschroffen des Ruchen. Freie, unerstiegene Wände! Leises Hoffen, leises Sehnen fliegt hinauf. Woher nehmt ihr Berge diese unglaublich schöne, anziehende Kraft?

Feedback