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Obergabelhorn-Südwand

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit 1 Bild ( 76 ) und 1 SkizzeVon Eugen Wenzel

Wenn die Zermatter Führer mit ihnen noch unbekannten Touristen eine Einführungstour planen oder infolge unsicherer Wetterlage zu einer « kleineren » Tagestour gezwungen werden, wählen sie nicht selten das Obergabelhorn. Mit seiner Höhe von 4073 m steht es in der Reihe der Zermatter Viertausender tatsächlich an unterster Stelle und eignet sich dadurch allein schon zu Ein-führungs- oder Einschalttouren.

Etwas hat das Obergabelhorn jedoch allen andern Zermatter Riesen voraus — seine Südwand. Im krassen Gegensatz zur stark vergletscherten Mountet-flanke weist der Gipfel im Süden gegen den Arbengletscher eine ungemein schroffe, etwa 700 m hohe Felswand auf. Mit der Durchkletterung dieser mächtigen Wand wird aus der « kleinen Obergabelhorntour », zu welcher selbst etwa eine Überschreitung vom Trift via Wellenkuppe mit Abstieg über den Arbengrat gezählt wird, eine erstklassige, sehr schwere Kletterfahrt. Fast alle Partien, welche die Südwand bis heute begingen, wichen mehr oder weniger hoch entweder auf den Arbengrat oder dann den Südostgrat aus.

Die Flanke ist ziemlich stark gegliedert und wird von mehreren schräg südwestlich verlaufenden Rippen durchzogen, welche besonders in der oberen Hälfte stark hervortreten und tiefe Couloirs bilden. Dieser Umstand hat wahrscheinlich zum Gerücht beigetragen, die Südwand sei sehr steinschlaggefährlich. Bevor sie jeweilen ausgetrocknet ist, mag das vielleicht zutreffen, aber nachher sind es gerade diese Rippen, welche einen relativ sicheren Anstieg ermöglichen. Während die unteren Wandpartien frei durchklettert werden können, mehren sich weiter oben die Schwierigkeiten, um in der überaus plattigen Gipfelwand so auszuwachsen, dass es einer grossen Unerschrockenheit und felstechnischen Geschicklichkeit bedarf, um sie zu meistern.

Wenn sich zwei Führer vom Schlage Alexander Gravens und Alexander Taugwalders zu einer « Sache » zusammentun, bleibt den « Herren » bestimmt nichts Gescheiteres übrig, als ihrem Plan getrost beizupflichten. Am 23. August 1944 verlassen die zu einer Gemeinschaft vereinten Partien Graven-Sutter und Taugwalder und wir um 03.00 Uhr die Schönbühlhütte.

An Stelle des üblichen schlaftrunkenen Einlaufens tritt heute ein halsbrecherischer Wettlauf auf dem schmalen Moränenweglein gegen Zermatt hinaus. Dreiviertel Stunden später versammeln wir uns auf Arben beim Stein, unter welchem die Führer gestern ihre Seile und andern Dinge versorgten. In merkwürdiger Fremdheit steht der Matterhornkoloss im Nachthimmel. Da glaubt das scharfe Auge meiner Frau eine Partie am Hörnligrat entdeckt zu haben, aber im Glas entpuppt sich das flackernde Licht als kleiner Stern. Hunderte von Jahren vielleicht ist dieser Lichtstrahl im toten Weltraum unterwegs gewesen, um jetzt ein paar Menschen, die selbst noch weltfremd und verlassen in nächtlicher Finsternis dastehen, etwas Lebendes vorzutäuschen. Zu weiteren Träumereien lässt man uns keine Zeit. Schon hüpft der Lichtschein von Gravens Laterne über Rasenpolster und Bäche der Moräne zu.

Südwand Obergabelhorn 6210 BRB 3. 10. 39 Und was für einer Moräne! Ein geradezu klassisches Musterbeispiel dieser von allen Bergsteigern gleich geliebten Schuttrücken. In scheinbar nicht endenwollenden Zickzacks schraubt sich das staubige Weglein auf dem lockeren Schuttfirst bergan, ausgetretene Steine kollern in die undurchdringliche Tiefe, und wer einmal unachtsam neben den Pfad tritt, kommt ins Rutschen. Die Mühsale des Wegs, verbunden mit einer ungewöhnlich hohen Temperatur, machen uns, obschon wir hemdärmelig steigen, mehr als sonst den Schweiss von der Stirne wischen. Die Laternen sind ausgelöscht und auf einem grossen Moränenblock zurückgelassen worden. Auf dem bald darauf erreichten, völlig ausgeaperten Arbengletscher erweist es sich als Nachteil, dass wir Pickel und Steigeisen in Zermatt liessen. Auf unseren der kommenden Kletterei angepassten Vibramsohlen führen wir eigenartige, den unbeholfenen Schritten eines frisch geworfenen Kalbes nicht uuähnliche Tänze auf. Graven hat ein Einsehen und hackt uns an den glattesten Stellen ein paar rettende Stufen. Den in den Arbengletscher hinausragenden Felsriegel überkletternd, kommen wir auf das nach rechts hinaufziehende Firnband am Fuss der Südwand. Auf einem schneefreien, am Ausstieg der vom Arbengrat kommenden Route liegenden Felsen machen wir Marschhalt.

Von einer gedrückten Stimmung, wie sie den Bergsteiger vor schweren Fahrten etwa bewegen, ist heute keine Spur. Die selbstsichere Vertrauens- Seligkeit der beiden Alexander ist derart ansteckend, dass wir der bevorstehenden Kletterei freudig entgegensehen. Bis jetzt dürfen wir auch zufrieden sein. Wetter und Temperatur könnten nicht günstiger sein. Unter den denkbar besten Voraussetzungen steigen wir um 07.00 Uhr in die Wand ein.

Um den Felssporn, der das Ende einer vom grossen Gendarmen im Arbengrat herabkommenden Rippe bildet, zu erreichen, ist vorerst ein abschüssiges Schneefeld zu queren. Ohne Pickel und Steigeisen fordert dieser Quergang auf Vibramsohlen höchste Konzentration. Über die anfänglich losen Felsen klettern wir dann alle gleichzeitig in Richtung auf den grossen Turm im Arbengrat zu. Bald wechseln wir nach rechts ( ostwärts ) auf eine fast in der Fallirne des Gipfels liegende zweite Rippe hinüber, auf der wir in prächtiger Kletterei rasch vorankommen. Der Ausblick auf das inzwischen von der Morgensonne übergossene und immer wuchtiger erscheinende Matterhorn ist einzigartig. In halber Wandhöhe stellt sich uns eine plattige Stufe in den Weg. Schon hier werden manche Südwandbesteiger kleinmütig nach links ausgewichen sein und auf einem leicht zu verfolgenden Schrägband zum Arbengrat hinausgequert haben. Ein alter verrosteter Mauerhaken verrät aber, dass auch andere noch den geraden Weg verfolgten. Dieses Wandstück ist bereits sehr steil, doch finden sich noch gute Griffe und Sicherungsmöglichkeiten. Auf einer bald darauf erreichten, durch ein Schrägband gebildeten Kanzel wäre uns erneut Gelegenheit geboten, westwärts auf den nahen Arbengrat auszuweichen. So etwas wird heute gar nicht in Erwägung gezogen. Die darüber aufstrebende, vollständig senkrechte Wandpartie würde zwar abschreckend genug wirken, um solche Gedanken aufkommen zu lassen. Aber man muss diese Alex I und II klettern sehen. Mit unglaublicher Selbstverständlichkeit meistern sie die schwersten Stellen, und was das Überzeugendste daran ist, man fühlt, dass sie aus eigener, unbändiger Freude klettern. So geführt und begeistert fällt es auch uns leichter, ihnen möglichst gut nachzueifern. Eine von schmalen Leisten unterbrochene Kante erklimmend, stossen wir auf ein etwas breiteres, die Plattenflucht quer durchziehendes Band. Wir verfolgen es nach rechts und befinden uns nun direkt über dem in die Gabel ausmündenden Schneecouloir. Auf luftiger Kanzel schalten wir eine zweite Frühstücksrast ein.

Einen ausgesetzteren Horst können wir nicht finden. Das Felsband ist zwar breit genug, um bequem sitzen zu können, aber die nach oben und unten ansetzenden riesigen Plattenschüsse lassen einem irgendwie klein und nichtig erscheinen. Während Graven und Taugwalder eine neue Teufelei aushecken, suchen wir mit dem Glas die Grate an der Dent Blanche und am Matterhorn ab, wo sich andere Seilschaften auf sonnigen Höhenpfaden bewegen. Wie leicht wäre jetzt ein Auskneifen nach rechts in die Gabel oder am linken oberen Rand des Couloirs entlang gegen den Südostgrat. Das lebhafte Zwiegespräch der Führer lässt unschwer erkennen, dass sie etwas anderes mit uns vorhaben. Mit vielsagendem Blick schmückt sich Alex I mit Kletterhammer und Mauerhaken, womit kein Zweifel mehr übrigbleibt, dass etwas Aussergewöhnliches gespielt wird.

Der so durch nicht misszudeutende Zeremonien eingeleitete Schlussakt unserer Südwand-Besteigung beginnt mit der Verfolgung des Felsbandes nach rechts, bis es in der glatten Wand verläuft. Vom höchsten Gipfel senkt sich ein markanter Pfeiler gegen das Couloir herab. Seine westliche, aus der Wand hervorspringende Kante begrenzt eine auch vom Tal gut erkennbare Verschneidung. Allem Anschein nach ist Graven auf den « wahnwitzigen » Gedanken gekommen, gerade dort auszusteigen. Aber wie, so fragen wir uns, will er die darunterstehende Plattenwand bewältigen, welche allein den Zutritt in diese Verschneidung vermitteln würde? Vorerst werden einige Platten in der Fallirne des Gipfels überlistet. Auf einem unseren weniger geübten Augen nicht aufgefallenen Band findet sich ein letzter Sicherungsplatz.T.augwalder folgt als zweiter auf diesen luftigen Balkon und übernimmt, einige Schritte nach rechts tretend, die Sicherung Gravens.

Wie dieser die darüber ansetzende, nur einige Rauhigkeiten aufweisende Platte bezwingt, ist uns unerklärlich und ein schwer zu überbietendes Meisterstück. Ausser dem metallenen Klang eines eingetriebenen Hakens und den ununterbrochenen Zurufen Taugwalders hören wir nichts. Und wenn wir uns einmal aus der Nische hinausbeugen und den Kopf über den uns deckenden Überhang strecken, sehen wir nur glatte Wand und ein paar Vibramsohlen. Vom ersten Haken traversiert Graven weiter nach links in einen Riss, der als Fortsetzung der vom Gipfel herabkommenden Verschneidung nach unten in der Wand ausläuft. In diesem arbeitet er sich eine Mannslänge hinauf und setzt einen zweiten Sicherungshaken. Der Riss führt nun gerade in die Verschneidung hinauf. Irgendwo findet sich ein annehmbarer Standplatz. Das Seil der Partie Graven-Sutter wird nun fixiert und dient als Halteseil. Jetzt ist Taugwalder an der Reihe. Mit selbstverständlicher Eleganz vollführt er das luftige Manöver der Plattentraverse und folgt seinem Namensvetter ein Stück in die Verschneidung hinauf. Dann werde ich mit aufmunternden Rufen aus der Nische gelockt. Bis zum Platz, wohin Sutter vorher nachfolgen musste und wo er nun auf kleinstem Stand an der Wand klebt, finden sich ab und zu noch spärliche Griffe, doch in der darüber folgenden Platte suche ich vergebens nach solchen. Es bleibt mir keine andere Wahl, als das zu diesem Zweck gespannte Halteseil liebevoll zu umfassen und mich daran hochzuhissen. Mit der einen Hand an diesem Seil hängend, muss ich weiter oben unser eigenes Verbindungsseil aus dem ersten Karabiner klinken. Dann folgt in kläglicher Nachahmung meines Vorgängers der Pendelgang in den Riss und mit der gleichen Anstrengung auch noch der Klimmzug zum zweiten Haken. Hier ereilt mich das Geschick. Es gelingt mir zwar, das Verbindungsseil auszuklinken, aber die Seile sind verdreht. Auf schmaler, abschüssiger Leiste klebend, versuche ich unter auserlesenen Verwünschungen das eine Seil über mich hinweg zu werfen, was aller Anstrengung zum Trotz ganz vergeblich zu sein scheint. Ich weiss nicht, nach wieviel Versuchen das ärgerliche Manöver doch noch gelingt und ich mich endlich mit letzter Kraft über den nächsten Überhang hinaufziehen kann.

Als nächste folgt mit graziöser Leichtigkeit meine Frau, und dann kann endlich der inzwischen fast verzweifelte Sutter von seinem wenig beneidenswerten Standplatz abberufen werden. In gutgriffigen Rissen turnen wir alle zu Graven hinauf, der sich gerade anschickt, das letzte Hindernis zu bewältigen. Während des Wartens werden wir uns erst wieder der eindrucksvollen Ört- lichkeit bewusst, in die wir uns da hineingeklettert haben. Zwischen den Füssen schaut man über eine einzige schaurige Plattenflucht auf den Arbengletscher hinab, und eine Seillänge über unseren Köpfen hängt eine tropfende, unheildrohende Wächte. Auf einen diesbezüglichen Hinweis hat Graven die lakonische Antwort: « Het si bis jetzt ghebt, so wird si au no heben, bis wer ganz dobe sind. » Noch einmal ist ein griffarmer, den Ausstieg verwehrender Block zu überwinden, dann stehen wir auf dem allerhöchsten Punkt des Obergabelhorns. Es ist gerade Mittag.

Unsere Freude kennt keine Grenzen! Dank der Unerschrockenheit und der unbeirrbaren Begeisterung, mit welcher Graven und Taugwalder ans Werk gingen, sind wir wieder zu einem Bergerlebnis gekommen, das nachhaltig und immer in uns weiter klingen wird.

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