Obergabelhorn über den Arbengrat
VON ERNST SCHLUP, KLOTEN
Von der Mountethütte aus werden üblicherweise zwei Routen über den Arbengrat auf das Obergabelhorn befolgt.
Die erstere führt längs dem Roc-Noir bis unterhalb dem Col Durand dem Gletscher entlang. Über eine steile Eiswand gewinnt man den Col Durand und folgt dem Schneegrat über den Mont Durand bis zum Arbenjoch. Dort vereinigt sich diese Route mit der zweiten, der wir gefolgt sind.
Kurz nach Mitternacht, es mag wohl schon gegen 1 Uhr gewesen sein, rüttelte mich mein Seilkamerad Werner Schwarz aus dem Schlaf. Bevor wir uns guten Tag wünschten, warf jeder schnell einen prüfenden Blick durchs Fenster. Ein sternenklarer Nachthimmel und eine fast volle Mondscheibe hiessen uns willkommen. Wir nickten uns gegenseitig kurz zu und verliessen auf leisen Sohlen, soweit das in den Hüttenschuhen möglich ist, den Schlafraum. Die andern vier Bergkameraden, mit denen wir am Tag zuvor das Zinalrothorn bestiegen hatten, schliefen noch. Der Hüttenwart hatte uns schnell einen Morgenimbiss gebraut. Kurz darauf standen wir mit unsern Säcken abmarschbereit vor der Hütte. Die Nacht war ziemlich kalt, und wir entschlossen uns daher, direkt durch den zerschrundeten Hängegletscher, mit seinen wuchtigen Séracs, aufzusteigen und nicht den einfacheren, aber längeren Weg über den Col Durand einzuschlagen. Unten am Gletscher seilten wir uns an, und ich übernahm die Führung für den ersten Teil. Das Anseilen, so belanglos es an und für sich auch ist, bedeutet für mich jedesmal ein Erlebnis eigener Art. Es ist das Gefühl, als drehe ich einen Schalter und wechsle vom Spaziergänger über zum Bergsteiger. Als Spaziergänger frage ich mich dauernd, wie lange ist der Weg, wo ist der nächste Halt, erreiche ich wohl den nächsten Zug. Als Bergsteiger spielt das für mich keine Rolle. Der Spaziergänger ist für sich ja Selbstzweck, während der Bergsteiger ein Teil eines Ganzen ist, einer Partie. Er denkt und fühlt auch nur als Teil des Gefüges, zu dem er gehört. Es gibt keinen schönen Blick, keinen Imbiss, keine Rast und auch keine Gefahr, die er nicht mit seinen Kameraden gemeinsam hat. Das Verbindende ist nicht bloss eine Sicherheitsvorrichtung, sondern Ausdruck einer geistigen Kraft, die stärker ist als die paar Hanffasern.
Mittlerweilen hatten wir den Gletscher gequert und über einen Eishang hinauf einen Einstieg in die Séracs gefunden. Wir mussten uns behutsam über die wenigen noch vorhandenen Schneebrücken hinübertasten und einige Spalten, die unendlich tief schienen, überspringen. Im oberen Teil des Séracs gerieten wir an eine nahezu senkrechte Eiswand. Hier übernahm Werner die Führung und arbeitete sich mit seiner sicheren Eistechnik schnell über den Abbruch hinauf. Erst oberhalb dieses Eisabbruches sahen wir, wie steil und weit es noch war bis zum Bergschrund. Es ist ein schönes Geschenk der Schöpfung an die Bergsteiger, dass so lange und steile und namentlich mühsame Anstiege die Erinnerung an eine Bergfahrt nicht trüben, sondern dass sie, kaum überstanden, schon vergessen sind. Ich weiss nicht mehr, wie viele Stunden vergangen waren, bis wir ohne Zwischenhalt den Bergschrund erreicht hatten. Jedenfalls begann es schon ordentlich zu tagen, als wir nach zuvor vergeblichen Versuchen einen möglichen, wenn auch recht heiklen Überhang gefunden hatten. Oberhalb des Schrundes sahen wir nun endlich den Arbengrat, der unser heutiges Ziel war. Dazwischen aber lag eine ungefähr 300 Meter hohe Eiswand. Wir machten uns gleich an die Arbeit. Werner arbeitete sich mit seinen wuchtigen Pickelhieben unermüdlich aufwärts, und ich versuchte nach Möglichkeiten, eine Sicherung zu finden. Mittlerweile stiegen schon einige Partien, die vom Zermatter Tal aufgestiegen waren, in den Arbengrat ein. Sie lösten leider, wie die nun aufgehende Sonne, Steine, so dass wir dem zunehmenden Steinschlag immer mehr nach links ausweichen mussten und einige ganz heikle Wasserrunsen zu überqueren hatten. Unterdessen machte sich etwa 100 Meter unter uns eine Dreierpartie bereit, den Schrund zu überqueren. Nach mehreren vergeblichen Versuchen entschlossen sie sich unseren Spuren zu folgen. Es war für uns kaum mehr möglich, ohne Gefährdung der nachfolgenden Partie Stufen zu schlagen. Es war aber auch unmöglich, in unseren kleinen Tritten zu warten, bis die andern aufgeschlossen hatten. Einige Meter über uns versprach ein Felsblock, der aus der Eiswand herausragte, einige Sicherheit. Wir mussten, ohne Stufen zu schlagen, versuchen, den Block zu erreichen. Doch ohne Stufen konnten wir bloss die zwei vorderen Zacken der Steigeisen einige Millimeter ins Eis treten. Je näher wir dem Block kamen, um so härter wurde das Eis. Unter uns lagen gute 100 Meter Eiswand und gleich anschliessend ein gähnender Schrund, der bereit war, uns für immer aufzunehmen. Der Block war für mich schon in Griffnähe, als plötzlich das Eis unter meinen Füssen nachzugeben schien. Schnell versuchte ich meinen Pickel einzurammen und wusste zugleich, dass es auf dem steinharten Eis sinnlos war. Ich war schon so in Fahrt, dass ich meinen Fall unmöglich selber bremsen konnte. Ich fing noch einen Blick von Werner auf, der mit seiner Bärenkraft den Spitz seines Pickels einrammen konnte. Gleichzeitig spürte ich einen heftigen Ruck im Seil, wobei aber zugleich ein Stück von Werners Pickel an meinem Kopf vorbei in die Tiefe sauste. Der Ruck des Seils hatte meine Fahrt so stark gestoppt, dass ich wieder zum Stehen kam. Werner balancierte auf einigen wenigen Zacken seines Steigeisens mit einem Stück des gebrochenen Pickels in der Hand. Jeden Augenblick erwarteten wir beide sein Ausgleiten und den endgültigen Absturz. Nach und nach gelang es Werner jedoch, mit dem bloss noch hammergrossen Pickel behutsam einige Ritzen ins Eis zu schlagen und die zwei Meter bis zum Felsblock zu überwinden. Ich konnte nun, gesichert von Werner, gut nachfolgen. Auf dem Felsblock blickten wir uns in die Augen. Worte waren da überflüssig. Für einen Augenblick war es ringsum ganz still, und wir fühlten beide, dass es weder Können noch bewusstes Handeln war, das uns gerettet hatte. Für Werner war es vermutlich sein starker Glaube an eine göttliche Vorsehung, für mich bedeutete es eine Erschütterung meines Glaubens an nur Materielles.
Einige Meter rechts von uns donnerte plötzlich ein Block in die Tiefe. Unter uns begann die Dreierpartie, die die ganze Zeit über gebannt uns zugeschaut hatte, wieder fröhlich Stufen zu - hacken. Auch wir beide schauten wieder nach oben und entschlossen uns, auf 60 Meter anzuseilen, damit wir zur Sicherung immer die weit auseinanderliegenden Blöcke verwenden könnten. Der Eishang hatte an Steilheit nichts eingebüsst, und der Steinschlag vom Arbengrat her wurde immer stärker. Wir waren aber beide überzeugt, dass, wenn es ein erstes Mal ging, wir bestimmt durchstehen würden. Die Dreierpartie unter uns traversierte nun auf unser Erlebnis hin das Steinschlagcouloir Richtung Arbenjoch und wich der Eiswand aus. Um die Mittagszeit waren auch wir auf dem Arbengrat, doch waren wir die letzten. Die 300 Meter Eiswand hatten uns gute sieben Stunden aufgehalten. Mit dem Metakocher und mit Schnee kochte Werner innert kurzer Zeit einen heissen Tee, und wir benützten unsere erste Rast zu einem Imbiss, nach zehn Stunden Aufstieg. Ich ordnete inzwischen die Seile, denn die Fahrt war noch nicht fertig. Wir hatten noch gut 200 Meter Höhenunterschied bis auf den Gipfel des Obergabelhorns. Kurz nach dem Imbiss stiegen wir weiter, und Werner schlug ein starkes Tempo an. Die folgende Kletterei war zum Teil schwierig, aber sehr schön. Einen Überhang am grossen Gendarm, der in der Regel umgangen wird, überwanden wir, indem Werner mich als Steigbaum benützte, an mir hinaufkletterte und eine geraume Weile meinen Schädel als Standplatz benützte! Trotzdem die Zeit drängte, blieben wir mindestens eine Stunde auf dem Gipfel. Beim Abstieg, den wir zeitweise mit der verpönten « Textilbremse » ( Hosenboden-bremse ) sehr schnell hinter uns hatten, überholten wir eine Dreierpartie, die etwas zaghaft arbeitete und unsicher schien. Wir entschlossen uns deshalb, ihr zu warten und empfingen sie im Arbenjoch mit einem Trunk heissen Tees. Da das Eis und der Schnee durch die Sonne ziemlich faul geworden waren, wählten wir den Abstieg über den Col Durand.
Die Überquerung des Mont Durand bei der untergehenden Sonne mit dem eindrücklichen Fern-und Tiefblick gehört zu meinen unvergesslichen Erlebnissen. Unterhalb des Col Durand liegt ein steiler Eisabhang, der in den Bergschrund übergeht. Die Dreierpartie wollte hier unbedingt abseilen, während nach unseren Schätzungen weder die Möglichkeit zur Verankerung des Seiles noch die Länge des Hanges dies zweckmässig erscheinen liess. Wir entschlossen uns, dass Werner, von mir gesichert, den Hang hinunter Stufen schlage. Oberhalb des Abbruches hackte sich Werner einen sichern Stand, und ich folgte nach. Unter Werners Sicherung erkundete ich die Möglichkeit zur Überquerung des 5 Meter hohen Abbruches mit dem ebenso breiten Schrund. Plötzlich brach unter mir der Schnee zusammen, und ich stürzte in die Tiefe. Nach etwa 4 Meter freiem Fall konnte mich Werner halten, der schwere Rucksack hatte mich aber so gedreht, dass ich Kopf unten im Seil hing. Ein heftiger Schlag raubte mir fast das Bewusstsein und riss Werner fast aus seinem Stand. Ein weiterer Eisbrocken hatte sich gelöst und war gerade auf mich gefallen. Ich begann hin- und herzuschwingen, bis ich meinen Pickel am andern Rande des Schrundes einrammen und mich daran hinüberziehen konnte. Werner musste nun etwa 20 Meter nach rechts halten und aus 5 Meter Höhe mit einem gewaltigen Sprung über den Schrund setzen.
Mittlerweilen war es Nacht geworden und die Dreierpartie hatte ihre Bemühungen, abzuseilen, aufgegeben. Im schwachen Licht unserer Taschenlampen folgten sie unseren Spuren bis zu der Stelle, an der Werner abgesprungen war. Nach einer Stunde nutzlosen Diskutierens, und nachdem wir ihnen zur Sicherung ein Seilende hinaufgeworfen hatten, entschlossen sie sich zum Sprung, den alle glücklich überstanden.
Als wir alle fünf unten am Abbruch waren, bemerkten wir Lichter in Richtung der Mountethütte. Ich empfing sogar eine Morsemeldung unserer Kameraden, die sich nach unserem Befinden erkundigten. Die Nacht war stockdunkel, als wir das letzte Stück Weg längs dem Gletscher unter die Füsse nahmen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und die Sterne waren durch einige Wolken verdeckt. Unsere Kameraden markierten mit einem Licht die Stelle, an der wir den Glet- scher verlassen sollten. Der Weg über den Gletscher schien endlos, und immer wieder tauchte plötzlich im Licht der Taschenlaterne eine Spalte auf, die umgangen werden musste. Um 23 Uhr erreichten wir endlich die Hütte. Käthi, unsere Köchin, musste für uns beide allein 6 Liter Tee auf den Tisch stellen, bis wir wieder einigermassen angefeuchtete Kehlen hatten.
Wie wir erst jetzt vernahmen, wurden wir von der Mountethütte aus den ganzen Tag beobachtet, und vermutlich waren wir eine der wenigen Seilschaften, denen der Direktaufstieg auf den Arbengrat durch den Eishang gelungen ist.
Die übliche Route würde vom obern Eisschrund direkt auf die Schneekuppe und dann übers Arbenjoch führen.