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Schönes Puschlav!

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Von Adolf Däster ( Eine kleine Ferienplauderei aus glücklichen ZeitenAarau )

Vor dem zu Ende gegangenen Weltkriege waren kleinere Rundreisen vom Engadin ins romantische Bergell, von dort durchs schöne Veltlin und endlich durch das vom Verkehr etwas abgelegene Puschlav zurück während der Sommerszeit üblich. Mit meinem Freunde Ferdinando, einem gebürtigen Puschlaver, verbrachte ich zunächst einige unbeschwerte Ferientage im alten Salispalast in Soglio. Ohne grosse Schwierigkeiten gelangten wir in Castasegna, der untersten Ortschaft des Bergells, über die Grenze und fuhren mit dem italienischen Postauto nach der ersten grössern Ortschaft, Chiavenna. Ungefähr auf halbem Wege steht ein einsamer Kirchturm nahe der Strasse, umgeben von einem Trümmerfelde; dort stand einst die am 4. September 1618 von einem Bergsturze verschüttete reiche Stadt Plurs. Heute erhebt sich auf den Trümmern der untergegangenen Ortschaft das italienische Piuro. Die Landschaft hat schon ganz südlichen Charakter. Auf den Höhen bis weit hinauf erblickt man herrliche Rebgelände, dazwischen altersgraue Dörfer, halbzerfallene Ruinen und weisse Kirchen.

Nach kurzem Aufenthalt in Chiavenna ( Cläven ) bestiegen wir die elektrische Bahn, um durch das an landschaftlichen Schönheiten reich gesegnete Veltlin nach Tirano zu gelangen. Wer die Bündner Geschichte kennt und weiss, wie zur Zeit der Gegenreformation Mord und Grauen das wertvolle, von den Grisonen als Untertanenland regierte Tal heimsuchten, staunt heute über die gepflegte Gegend, die grossen Ortschaften, die prachtvollen Kirchen, Schlösser und Paläste. Die Rebgelände dehnen sich bis weit in die Wälder hinauf aus, und im Tale unten gedeihen fruchtbare Obstbäume. In Tirano ( Hauptort des Veitlins ist Sondrio ) besichtigten wir die prachtvolle Kirche der Madonna di Tirano mit ihren herrlichen Stukkaturen, Gemälden und Holzschnitzereien. Das Gotteshaus ragt als weithin sichtbares Wahrzeichen über die Stadt und ihre Umgebung hinaus. Bald schritten wir bei der ersten schweizerischen Ortschaft des Puschlaus, Campocologno, über die Landesgrenze und wanderten fröhlich und wohlgemut bergan nach dem hübsch gelegenen Dorfe Brusio, mit grossem elektrischem Kraftwerk, dann weiter zum idyllisch eingebetteten Bergsee von Le Prese. Der Abend an jenem See war einzigartig. Es war Vollmondzeit und die Stimmung am verträumten Ufer des stillen Gewässers unvergleichlich.

Als langjähriger Besucher des Puschlavs darf der Schreiber dieser Zeilen bekennen, dass dieses einzigartige Tal zu denjenigen Alpenlandschaften zu zählen ist, welche von der Natur überaus reich ausgestattet worden sind. Es hat sich hier in der Tat die sanfte Lieblichkeit der Alpenwelt mit der Erhabenheit des Hochgebirges glücklich verbunden. Auf beiden Seiten gehen rauhe Bergpfade hinüber in lombardische Nachbartäler, die meisten gegen Westen. Wandert man längs des Sees weiter, so grüsst drüben auf steiler Felswand die kühn gelegene Kirche San Romerio. Dort oben ist die Rundsicht imposant, aber direktes Klettern über den Pfad der Felspartie hinan zur uralten Kultstätte ist nur für sehr geübte Bergsteiger, die keinen Schwindel kennen, ratsam. Sehr gut ausgeruht zogen wir am folgenden Tage weiter nach der Hauptstadt des Tales, Poschiavo. Mit gewissem Stolz führte mich mein Freund durch die alten Gassen, zeigte mir prächtige Kirchen und Patrizierhäuser, verschwiegene Winkel. Die ganze politische Gemeinde Poschiavo zählt ca. 3600 Einwohner, mehrheitlich Katholiken. Neben einem Augustinerinnenkloster steht die St. Viktorskirche mit hübschem Portal und uraltem romanischem Glockenturm; das Gotteshaus ist mit grossen Kosten renoviert worden; man darf es ohne Zweifel als eine der schönsten Kirchen des Kantons Grau- bünden bezeichnen! Die evangelische Pfarrkirche, die nur auf einer Seite — und zwar fast oben an der Decke —, Fenster besitzt, ist mit einer herrlichen, neuen Orgel ausgestattet. In frühern Jahrhunderten besuchten die Evangelischen bewaffnet die Gottesdienste, um sich bei Überfällen zu verteidigen. Das Gotteshaus erwies sich als eine Art Kirchenburg, wie solche auch in Ungarn vorhanden sind. Das Puschlav hatte in frühern Jahrhunderten auffallend viele Hexenprozesse; sind doch im Jahre 1672 allein 20 Hexen verbrannt wordenIm Puschlav bestand im 16. Jahrhundert die erste Buchdruckerei Graubündens, in welcher Schriften von Dr. Martin Luther, Ulrich Zwingli, Erasmus u.a. in italienischen Übersetzungen gedruckt und nach Italien verbreitet wurden. Ein päpstlicher Nuntius und ein spanischer Gesandter in Mailand verlangten vergebens vom bündnerischen Bundestage die Unterdrückung dieser Presse. Herrliche Berge locken den Wanderer und Bergfreund zu leichtern und schwierigeren Touren. Mein Freund und ich begnügten uns mit der Erkletterung des Sassalbo, 2692 m; doch war diese Bergfahrt zufolge der herrlichen Aussicht bis weit in die Lombardei hinein sehr lohnend.

Das Puschlav hat von der Berninapasshöhe bis zur Veltliner Grenze eine Länge von 8 Wegstunden. Seinen Namen hat Poschiavo von der Lage am Fusse der Berge; in seinem alten Wappen sind zwei Schlüssel, « chiavi », ins Kreuz gelegt. Um dieses prächtige Tal, wo Süd und Nord sich begegnen, wurde seit Jahrhunderten hart gestritten. Mehr als einmal annektierten es die Herzöge von Mailand; doch die Bewohner suchten immer ihren Glücksstern in Chur und ergaben sich anno 1408 unter besondern Bedingungen dem Bistum. Dieser Zustand dauerte bis 1537, in welchem Jahre sich das Tal mit nur 1200 Gulden loskaufte und ein selbständiges Hochgericht der rätischen Republik wurde.

Nur allzu rasch hiess es vom gastfreien Hause meines Freundes und vom schönen Tale mit seinen lieben und freundlichen Bewohnern Abschied nehmen, und die Berninabahn entführte uns durch verschiedene Kehrtunnels und an überraschenden Aussichtspunkten und wunderbaren Partien der rätischen Hochgebirgswelt vorbei auf Alp Grüm ( 2095 m ü. M. ). Wie prächtig nehmen sich an dieser Stelle der Kranz der weissen strahlenden Gipfel und die Gletscherwelt des Piz Palü aus!

Nach kurzer Rast bestiegen wir wieder die Berninabahn und bewunderten staunend eine Welt von Fels und Eis und Schnee! In raschem Wechsel zog Herrlichkeit an Herrlichkeit vorüber. Der Sprung vom Süden nach dem Norden ist hier überraschend, eindrucksgewaltig: im unteren Puschlav der blaue See von Le Prese, Wiesen und Gärten — hier oben die gewaltigen Berggipfel mit ewigem Schnee! Wer diese Kontraste einmal selber miterlebt hat in so raschem, ja verblüffendem Wechsel, vergisst sein Leben lang nicht die wundervolle Fahrt über den Bernina.

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