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Schweizerische Alpenliteratur vor hundert Jahren

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Eine Skizze.

Es muss Erstaunen erregen, dass'Albrecht Hallers Alpendichtung bei den Dichtern der deutschen Schweiz so wenig tief eingeschlagen hat. Wohl wurde sie eifrig gelesen von Bodmer, Breitinger und Lavater und vielen andern in der Schweiz, aber Schule vermochten « Die Alpen » nicht zu machen. Jene Zürcher gingen an unsern Bergen vorbei, ohne den in ihnen schlummernden dichterischen Stoff zu ahnen. Aber auch der liebenswürdige Salomon Gessner hat von den Alpen wenig zu sagen gewusst; ihn zog das Helle und Liebliche an und nicht das Grossartige. Diesen Geschmack zeigen seine Dichtungen und seine Gemälde. Noch lange währte diese Einseitigkeit, bis endlich David Hess es deutlich aussprach, wie beengend diese Kunstauffassung für die Malerei sei, und wie nötig es werde, aus den Alpen neue Motive mit neuen Linien und Farben zu holen.

Der Bündner Johann Gaudenz von Salis ( 1762-1834 ) war der erste Schweizerdichter nach Haller, dem die Bergwelt wieder etwas mehr bedeutete. Selbst ein Sohn des Gebirges, wusste er wohl, welche Fülle von Schönheit, von Stimmungen, welche moralische Kraft für den Menschen in den Alpen wohnt. Und doch stand er noch zu sehr unter dem Eindruck der weichen landschaftlichen Lyrik eines Gessner und noch mehr eines Matthisson, als dass er ein Dichter der Berge hätte werden können. « Heilig » sind ihm die Alpen gewesen. Dies fühlte er vor allem, als er auf dem Uetliberge von ihnen Abschied nahm vor seiner Reise nach Paris.

« Rauh sei, wie Gletscher, dein Mut, kalt, wenn Gefahr dich umblitzt; Fest wie Felsengebirge und stark wie der donnernde Rheinsturz. » So ruft der scheidende Dichter ins Land, erfüllt von patriotischer Begeisterung. Und als er nach mancherlei Schicksal wiederkehrte in sein « entlegenes Tal, von Fichtenhöhn begrenzt », da griff er auch wieder zum Bergstock. So entstand das frische « Bergreiselied » mit der Eingangsstrophe:

Auf, mutig! die Höh'ist erstiegen!

Ihr Freunde, wo bleibt ihr zurück?

Wie herrlich die Täler dort liegen!

Tief unten verliert sich mein Blick.

Ich atme die süssesten Düfte, Schon wallet viel leichter mein Blut; Schon trink ich ätherische Lüfte Und jauchze und schwinge den Hut!

Das klang vielversprechend. Und wirklich nahte die Zeit, wo der Chorus derjenigen Dichter und Schriftsteller, welche als frohe Wanderer ins Gebirge zogen, grösser wurde.

Heimatluft, durch die « Helvetische Gesellschaft » vorbereitet und gepflegt, regte sich mächtig. Männer traten zusammen, die sich zur Aufgabe machten, « in einfachen Beschreibungen vaterländische Gegenstände, Land und Leute, Natur und Menschenleben, nach bestem Vermögen zu schildern ». In diesem Sinne entstand der lange Zeit bedeutendste schweizerische Almanach, die « Alpenrosen », gegründet im Jahre 1811. Wie Titel und Vorwort verraten, trugen dieselben einen rein nationalen Charakter, und die Bergwelt ist darin ganz besonders berücksichtigt, wenigstens in den ersten Jahrzehnten. Die Begründer dieser Zeitschrift waren die Berner Kuhn, Wyss der Jüngere, der Kupferstecher König, der vielgereiste Meisner und andere, alle ohne Ausnahme eifrige Freunde des Gebirges und seiner Bewohner. Das Jahr 1811 war auch von Bedeutung für den Alpinismus, indem die Königin der Berge, die von dem Dänen Jens Baggesen noch als unersteiglich besungene Jungfrau, von den Gebrüdern Meyer aus Aarau zum erstenmal bezwungen wurde. Bald darauf erlag auch das Finsteraarhorn. Damit war der Bann gebrochen, der jahrhundertelang den Menschen vom Eindringen in unsere Hochgebirgswelt zurückgehalten. Die Reisen in die Voralpen und über die gangbarsten Pässe beginnen sich zu mehren. Davon geben uns Zeugnis eine ganze Reihe von Beschreibungen. Neben der genannten Bernergruppe trat fast gleichzeitig hervor ein Bund von Zürchern; es waren dies: Ulrich Hegner von Winterthur, David Hess und Martin Usteri aus Zürich.

Betrachten wir nun die Einstellung dieser Dichter zu den Alpen.

Ulrich Hegner ( 1759-1840 ) darf in vieler Beziehung als ein Aristokrat der Empfindung und des Gedankens angesehen werden. Mit dieser Vornehmheit verband er im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen eine ausgebildete Beobachtungsgabe. Diese Eigenschaft bewahrte ihn vor Schwulst und Rühr-seligkeit. So besass er ein überaus scharfes und sicheres Auge für die Beurteilung echter und unmittelbarer Alpendichtung und Beschreibung. In seinem Hauptwerk, « Die Molkenkur » ( 1812-1819 ), wünschte er, dass man die Landschaft selbst bekanntgebe und nicht die künstlichen, gefühlskranken Empfindungen über das Land. Dieser strenge und richtige Gedanke darf jederzeit als Kriterium gelten bei der Beurteilung irgendeiner derartigen dichterischen Schöpfung. Von einer Reiseschilderung darf man verlangen eine getreue Darstellung der Landesnatur, von einer Dichtung die unmittelbare Empfindung und Anschauung, frei von jeder überwuchernden Reflexion. Vom Maler gilt dasselbe. Die Persönlichkeit des Dichters und Malers kann sich dabei um so reiner äussern. Mit beissender Schärfe geisselt Hegner die Nachempfinder der Bergpoesie. Hierzu die charakteristische Stelle: « Nun kommen die Nach-empfinder und wollen den Eindruck ebenfalls haben und täuschen sich selbst wie jeder, der nach fremder Empfindung hascht. Sie suchen durch vornehme Redseligkeit und studierte Phantasie zu ersetzen, was ihnen an wirklicher Empfindung abgeht; so entstehen dann die sublimierten Naturschilderungen, deren Farben nicht glühend genug aufgetragen werden können; und so entstand nach und nach die ganze Phraseologie der Alpenempfindsamkeit, fader Wortschaum, die Untiefen des Verstandes zu bedecken, derer, die keine Gedanken haben und mit Gefühlen imponieren wollen. » Die Forderung, welche Hegner an die Reiseschilderung stellte, erfüllte er selbst in seinen « Briefen aus dem bernischen Oberlande » ( 1804 ), die zweifellos zum Besten gehören, was damals darüber gesagt und geschrieben worden ist. Er zeigt sich darin als ein ebenso aufmerksamer Beobachter der Natur wie als Kenner des Volkslebens. Freilich ist von ihm zu Widmanns « Spaziergängen in den Alpen » ein gewaltiger Schritt, den aber hundert Jahre sehr wohl erklären können. Auch die « Berg-, Land- und Seereise » ( 1817 ) verratet den objektiven Betrachter landschaftlicher Schönheiten und den scharfen Beobachter und Kritiker des Reisepublikums. Einzig da, wo Hegner den Sonnenaufgang auf dem Rigikulm schildert, verlässt ihn die kontemplative Ruhe, das Entzücken reisst ihn fort; sein « schauseliges Auge » kann nicht genug fassen, und sein Gemüt durchströmt tiefste Verehrung. Die grossen landschaftlichen Züge interessieren ihn; er hasst das nach Einzelheiten tastende Fernrohr, um im Grossen, ganz ungestört durch kleinliche Neugier, seine Seele sättigen zu können. Er verzichtet daher auf genaue Schilderung, dazu fehle es der Sprache an Mitteln und auch der Malerei. Ein Liebling Hegners war der lebensfreudige, sinnige Martin Usteri ( 1763-1827 ). Gemeinsam fuhren sie etwa im Abendsonnenschein auf die blauen Fluten des dorfumkränzten Zürichsees hinaus, und Usteri sang, erfüllt von Sehnsucht:

« Dort, wo vom Purpur leicht umflort, Die Schneegebirge sich erheben, Dahin, dahin wünscht es zu schweben — O war'ich dort! O war'ich dort! » Auf stiller Bergeshöhe über dem durch Granitgetrümmer niederbrau-senden Bach möchte er ruhen, dort würden alle niedern Leidenschaften schwinden. Die Nähe der Gottheit müsste ihm offenbar werden. Ganz ähnlich empfand Hegner. Und beide spürten Gottes Nähe. Wie die meisten Alpensänger jener Zeit, so besass auch Usteri eine starke Liebe zu den Alpensagen. Mehrere davon hat er poetisch verwertet, so «'s arm Elseli uf der Iseflue » und « Das Bergmännlein auf dem Pilatus ».

Der Dritte im Bunde und Usteris Biograph, David Hess ( 1770-1843 ), schuf, eine bündnerische Volkssage am Ausgang des Prättigau verwertend, die rührende Geschichte zweier bis in den Tod getreuer Liebenden: « Elly und Oswald oder die Auswanderung von Stürvis », 1820. Es fehlte darin an innerer Motivierung. Mensch und Natur erscheinen durchaus nicht verwachsen. Die Stürviser trennen sich von ihrer unwirtlichen Heimat bloss um des allerdings rührenden Unterganges willen, den Elly und Oswald durch Erfrieren im Schnee, nur getrennt durch einen Felsblock, eines in Erwartung des andern, erlitten. Parteikämpfe und Heimatliebe, die sich nicht von der väterlichen Scholle lösen kann, hätten gewiss der ganzen Geschichte viel mehr Untergrund, dramatisches Leben und Wahrscheinlichkeit verliehen. Bedeutend wertvoller ist David Hess in seinem « Kunstgespräch in der Alpenhütte », 1822. Das war ein vortreffliches Pendant zu Hegners Molkenkur, nur mit dem Unterschied, dass es seine Postulate für den Maler bestimmte. Jedoch durften die Gedanken und Anforderungen darin ohne Zwang auch auf die Dichtung angewendet werden. Hess war kein Feind der Idyllenbilder, wie sie die damalige Alpenmalerei pflegte. Er will sie gern anerkennen als « eigene, verdienstvolle Gattung für alle Freunde heiterer Natur ». Aber mit ihnen sind die Themata der alpinen Landschaftsmalerei noch lange nicht erschöpft; sie befriedigen nur « jene sanfteren Organisationen, die sich nie gern aus ihren gemütlichen Träumen erheben mögen ». Niemals aber genügen sie für stärkere Naturen, die kräftigere Nahrung benötigen: « Bilder, erschaffen für den einsamen, ernsten Alpenwanderer, der mit kühnen, festen Schritten in die höhern Regionen der Bergwelt eindringt, und nicht bloss die sanfte, sondern auch die erhabene Schweiz mit den Massen ihrer grandiosen Motive in seine Phantasie aufzunehmen und durch Vorstellungen in einem edlen, einfachen und kecken Stil sich immer wieder zu vergegenwärtigen wünscht. » Das Idyllenbild war eine Einseitigkeit, so gut wie auf dem Gebiete der Dichtung das Hirtenlied. Der süsse Optimismus, der beiden zugrunde liegt, musste seinen alleinseligmachenden Kunstglauben aufgeben. « Der ächte, vielseitige Kunstfreund möchte nicht immer nur lydische Flötentöne, sondern auch zur Abwechslung die Donnermelodien brausender Katarakte und das Getöse stürzender Lawinen vernehmen; gern grosse Schattenmassen im Gegensatz mit einzelnen, sinnig gewählten Lichtpunkten; Wälder von Orkanen gebeugt, Baumstämme vom Blitze zerrissen, brausende Bergbäche, Hochgebirgsgewitter, Kampfszenen aus der wilden Alpennatur. » — Als ein Neuerer steht Hess da mit diesen Anforderungen! Zweifellos hat er auch starken Anklang gefunden, als er das « Lied für Schwizer-Mahler » schrieb:

Italien ischt ä herrlis Land Für d'Chünscht, das lönd mer gelte! Doch hinder öusrer Alpewand Lönd mir au d'Schwiz nid schelte! Da cha der Maler uberai Studiere viel a Berg und Tal.

Im Frühling des Jahres 1806 war in Zofingen eine schweizerische Künstlergesellschaft gegründet worden, welcher Usteri und Hess als tätige Mitglieder angehörten. Was sie suchte war Wärme, Treue, Natur, Wahrheit. Fort mit aller Afterkunst und allen Midasstümpern, war die Losung. Wenn man die Natur verherrlichen und aus ihr künstlerische Kraft schöpfen will, so muss man sie selbst aufsuchen, eifrig studieren. Wo wollte diese junge Malergilde die Quelle, die Nahrung finden zu ihrem Beginnen Y In den Alpen. Sie sind ihr Hort der vaterländischen Kunst. Gottlieb Kuhn rief den Malern zu:

Id's Oberland! Id's Oberland ga mahle! Dert isch e schöni Welt!

Nicht mindern Anteil als die Zürcher nahmen die Berner an der neuen Bewegung. Besonders anregend wirkte Johann Rudolf Wyss der Jüngere ( 1781-1830 ). Als Begründer und fleissigster Mitarbeiter der « Alpenrosen » hat er sich ein bleibendes Verdienst um die schweizerische Literatur erworben. Unser bekanntestes Nationallied « Rufst du, mein Vaterland » stammt von ihm. Er steckte seinen Dichtungen als Hauptziel, des Lesers « Lust an unsrer vaterländischen Natur und Sitte » auszulösen. Jeder Schlendrian war ihm verhasst; ebenso das Verharren im Schlepptau speziell der französischen Literatur. Denn dadurch entstünden eine Menge banaler Mittelmässigkeiten, die, mit ein bisschen sogenannter Teilnahme am Einheimischen ausstaffiert, unrecht- SCHWEIZERISCHE ALPENLITERATUR VOR HUNDERT JAHREN.

mässigerweise als Kunstformen sich ausgeben und gelesen sein wollen. Wyss versuchte mithin lehrhaft — es liegt das ein wenig in schweizerischer Dichter-art — zu wirken. Er liebt das positive Wissen und verpönt alle Sentimentalität und alles Pathos. Ja vielleicht nur zu sehr, sonst hätte er unmöglich Hallers « Alpen » geringer anschlagen können als Peter Josis « Gedicht über unsre lieben und guten Kühe, und schönen und guten Berge in der Talschaft Adelboden im Amt Frutigen ». Als lyrischer Dichter nähert sich Wyss seinem altern Freund Kuhn, ohne ihn aber an Einfachheit und volkstümlicher Unmittelbarkeit der Sprache und des Gefühls zu erreichen. Volkstümlich gelang ihm das « Schwyzer-Heiweh ». Als sein wohl am frischesten empfundenes Gedicht kann das « Berglied » gelten mit dem modern klingenden Schlussreim:

Alpensteigen ist von Art Eine halbe Himmelfahrt.

Wyss war ein begeisterter Alpenwanderer. Wo er konnte, forderte er seine Miteidgenossen auf, die Berge aufzusuchen. An der Zofinger Künstlerversamm-lung rief auch er den Malern zu, sie sollten ins Berner Oberland gehen, dort würden sie wahrhaft Schönes genug finden können. Er selbst zog manchmal zu Fuss über Gebirgspässe. Davon zeugen seine Reisebeschreibungen: « Ein Streifzug ins Siebental », « Ausflug nach Saanen und über den Sanetsch nach Sitten », « Wanderung in das Kiental und nach dem Tschingel », « Das Gadmental und der Sustenpass ». Alle sind lebhaft, anschaulich und enthalten topographische Kenntnisse. Stets zeigen sie auch Wyss'grossen Eifer, Gebirgssagen und verwandte Stoffe zu sammeln. Bitter beklagte er das Verschwinden derselben in gewissen Alpentälern, wo infolge der sich steigernden Berührung mit städtischer Kultur « eine läppische Verschämtheit in bezug auf das alte Einheimische » herrschend werde. Die Frucht seiner Volksstudien und Alpenwanderungen waren seine zwei Bände umfassenden, mit Kupfern von König geschmückten « Idyllen, Volkssagen, Legenden und Erzählungen aus der Schweiz », 1815. Darin ruht eine Fülle Alpendichtung. Wir nennen die kleinen Epen: « Die Schlangenkönigin », « Blüemlisalp », « Der Grenzstreit », « Der Gemsjäger », « Der Kristallgräber ». In der Erzählung « Not und Hülfe » bringt Wyss die weitbekannte Geschichte von der wunderbaren Rettung einer in Graubünden tiefeingeschneiten Hirtenfamilie. Durch seine meisten Erzählungen geht ein religiöser Zug: die Kleinheit und Schwäche des Menschen einerseits, anderseits die Grosse und Güte des Schöpfers. Diesen Grundakkord, der sich im Gebirge leicht aufdrängt, finden wir auch in der Geschichte « Die Schneelawine ». Einer scharfen Charakter-zeichnung seiner Figuren und lebhaften Führung der Handlung war Wyss nicht fähig, ebensowenig war er glücklich in der Verwendung der Landschaft. Sein Hauptverdienst besteht ohne Zweifel darin, dass er in seinen Freunden und Kunstgenossen für die Alpenwelt wirkliches Interesse geweckt hat.

Sein Freund war der ihn als Dichter weit überragende Gottlieb Jakob Kuhn ( 1775-1845 ). Zuerst bekannt wurde er durch die « Drei Volkslieder auf die Feier des schweizerischen Alpenhirtenfestes zu Unspunnen », 1805. Im folgenden Jahre erschienen « Volkslieder und Gedichte », alle in Mundart; 1812 eine « Sammlung schweizerischer Kuhreihen ». Von da schrieb er meist in die « Alpenrosen », die er hatte gründen helfen. Dort oben in dem abseits gelegenen Sigriswil, hoch über dem rechten Thunerseeufer, sehen wir den jungen Geistlichen wirken. Sinnend schaut er hinüber ins matten-und weidenreiche Frutigland und hinauf zum herrlichen, eisbepanzerten Massiv der Blümlisalp, der Rivalin der Jungfrau. In seinem Tagebuch aus jener Zeit bekennt er: « Die Natur um mich her in ihren wechselnden Gestalten entfaltet immer neue Reize, und Gott sei Dank, dass ich mit meinen Augen sehe, mit meinen Ohren höre und mit meinem Herzen empfinde die Herrlichkeit der Schöpfung um mich her! » Mit einem tüchtigen Bergstock und den Waidsack am Rücken wandert der naturfrohe, nie einsame Mann botanisierend über Weide und Felsgrat. Da und dort kehrt er ein in eine Hütte, spricht Schlichtes mit den schlichten Menschen. Die Verschlossenen öffnen ihm Herz und Sinn, weil sie wissen, er versteht sie. Das echt Volkstümliche wird sein Eigentum, er hegt es treu und liebevoll. Und siehe! Seiner Harfe entströmen die schönsten Volkslieder, die vor Meinrad Lienert entstanden sind. Er dichtete aber nicht allein die Worte, sondern er sang oft auch gleich die Melodie dazu, auch diese getragen von schlichter volkstümlicher Empfindung. So erklangen die heute dem Schweizer wohlbekannten Lieder: « Bueb, mir wei uf d's Bergli tribe », « Ha anem Ort es Blüemli gseh », « Der Gemsjäger », « D's Heimweh ». Wie oft ist doch Ursprung und Schönheit der Alpenrose besungen worden! Es möchten wohl nahezu hundert Gedichte über sie zu finden sein. Auch Alpfahrt, Sehnsucht und Heimweh des Alpenbewohners, GemsJägerleidenschaft sind sooft variiert worden, aber keine von den vielen Variationen dieser naheliegenden Stoffe sind so volkstümlich und erfreuen sich so allgemeiner anhaltender Gunst wie diejenigen des Vikars von Sigriswil. Als Volksdichter steht Kuhn, was poetische Auffassung seines Gegenstandes und glückliche Handhabung des Dialekts betrifft, unter den Schweizerdichtern jener Zeit unstreitig voran. Nicht umsonst hat ihn schon die Mitwelt in die nächste Nähe von Hebel gestellt. Die Sagen der Alpen zogen Kuhn sehr an, er fand darin dichterische Motive; so entstand « Das Märlein von der Teufelsbrücke » und die gefühlvolle Ballade « Die Entstehung der Alpenrose ». Er selbst charakterisierte seine Volkslieder aufs treffendste: « Sie erfordern ihren eigenen Ton und ihre besondere Farbe. Es darf darin kein Mann aus höhern gebildeten Ständen, kein eleganter Stutzer aus der Stadt, kein Mädchen sanft wie Mondschein und süss wie Nachtigallengesang auf treten; nur der natürliche Bauernjunge, das ungekünstelte Landmädchen müssen hier sprechen. » Noch war man vor hundert Jahren weit entfernt von einer künstlerisch freien und reinen Alpenerlebnisdichtung. Man hatte sich von gelehrter Tradition und Empfindsamkeit nicht ganz lösen können. Haller war nicht überwunden worden. Aber der Anlauf zu neuer Erkenntnis war getan. Und schon atmete zu dieser Zeit in Zürich ein zartes Menschenkind, das berufen war, der vornehmste Alpendichter zu werden: Conrad Ferdinand Meyer.

Ernst Jenny.

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