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So schrieb ich einst in mein Bergtagebuch

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VONE. M. ZIMMERMANN, BERN

Da sitze ich nun zu Hause und fühle mich alt und erledigt, weil ich krank bin und nur noch mit Sehnsucht an all die herrlichen Stunden der Bergeinsamkeit, an all die vielen Drei- und Viertausender, auf denen ich gestanden habe, zurückdenken darf und kann. Niemals mehr werde ich sie in ihrer Grosse und Schönheit erleben, und mir verbleibt nur, in meinen alten Bergtagebüchern zu blättern. Da lese ich, was ich vor vielen, vielen Jahren - und ich zählte damals schon etwas über Vierzig - auf die erste Seite, sozusagen als Einleitung, niedergeschrieben habe:

« Wie sehr habe ich sie immer geliebt, die Berge der Heimat! Sie hatten von jeher eine wunderbare Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Schon als kleiner Kerl wanderte ich dutzendemal auf den nahen Pilatus. Später, lange vor dem ersten Weltkrieg, ich war gerade 15 Jahre alt geworden, war es eine Fahrt mit einem Schulkameraden. In acht Tagen wanderten wir, alles zu Fuss, über den Krüzli-, den Kisten- und den Pragelpass; der Spass kostete jeden von uns ganze 26 Franken! Dreissig Jahre später war ich wieder auf den gleichen Wegen, ganz allein. Mein Schulfreund behauptete, er sei zu alt dazu geworden. Draussen in der Fremde habe ich vierzehn Jahre lang von den Bergen geträumt. Mein ganzes Sehnen, mein ganzes Heimweh konzentrierte sich fast ausschliesslich auf die ferne Bergwelt. Während endlosen, einsamen Fiebernächten im Herzen Afrikas wandelte ich stundenlang über endlos weite Schneehalden, hinauf, hinunter, unermüdlich. Wenn später in den grossen Brüsseler oder Pariser Kinos Bilder von der Heimat - meistens waren es ja Berglandschaften - vor meinen Augen vorüberzogen, dann kollerten mir die Tränen über die Wangen, so dass ich sie verschämt wegwischen musste. Wie konnten die Nachbarn das begreifen?...

Dann endlich kam ich in die Schweiz zurück. Aber ich war älter geworden, und unter meinen Freunden gab es keine Berggänger. Sie waren alle mit Brotverdienen beschäftigt. Darum ging ich allein hinauf. Aber was kann ein unerfahrener Berggänger wohl allein unternehmen? Er bleibt der vorgezeichneten, leichten Passroute oder den Allerweltsbergen verhaftet. Ein richtiges Bergsteigerleben ist ihm verschlossen. Zu den Gipfeln eines Finsteraarhorns, einer Jungfrau, ja, zu all den unzähligen Gipfeln unserer Alpen schaut er mit schauderndem Respekt hinauf und kann sich höchstens nach ihnen sehnen. Jahrelang dauerte dieses Sehnen und der Wunsch nach mehr; der Drang hinauf in die Einsamkeit war stärker und stärker geworden. Ich wollte es jenen gleich tun, die Sonntag für Sonntag mit Pickel und Seil auszogen, um immer neues Bergland zu sehen und zu erobern. Waren eigentlich jene, die da lachend bergan stürmten, besser als ich, hatten sie stärkere Muskeln, waren sie kühner, tapferer? Liebten sie die Berge mehr als ich, der ich in den Voralpen oder den vorgezeichneten Pässen kleben blieb?

Der Alpenclub sollte mir die Fragen beantworten. Er tat es, und es war wunderbar! Ich fand Bergkameraden, grossartige Freunde, und ich las die Bücher von Andreas Fischer, von Dyhrenfurth, von Saladin und von all jenen Bergidealisten, denen ich es gerne, wenn auch in bescheidenerem Masse, gleichtun wollte.

Urweltlich sind die Berge unserer Heimat. Gross und eindrucksvoll und dankbar. Wenn man nach den Mühen eines Aufstieges über harten Fels, über Gletscherrunsen und Séracs oben auf dem höchsten Gipfel steht, so fühlt man sich als König. Ringsherum das wuchtige Panorama. Wie für die Ewigkeit stehen sie verankert da, die Riesen aus Granit und Eis, gespickt mit eindrücklichen Schrunden, zackigen Graten und blauem, trügerischem Gletschereis. Kein Laut ist hörbar! Nichts bewegt sich als die träge dahinsegelnden Wolken. Ein gewaltiger Friede herrscht. Man taucht den Blick in die Unendlichkeit, und nirgends ist der Horizont beengt, man glaubt über ihn hinauszu-sehen. Man kann die Augen zum Himmel erheben und sie im unendlichen Blau versinken lassen. Alle Wirklichkeit ist abgestreift. Man ist frei und losgelöst und gross,... und doch so atomhaft klein in der mächtigen Umwelt.

Und wenn die zürnenden Götter der Bergriesen schleichende Nebelfetzen, bindfadenähnlichen Regen, Hagel, Schnee, Donner und Getöse um die Zacken jagen, fühlt man in sich selbst eine urgewaltige, ungebändigte Kraft. »

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