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Strömungen bei Naßschneelawinen

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VON E. ROHRER

Mit 8 Bildern ( 249-256 ) und 8 Skizzen Die Beobachtungen kleiner Details bei Naßschneelawinen und besonders die Auswertung kine-matographischer Aufnahmen von Lawinenfronten ergeben interessante Einblicke in das Wesen solcher Schneestürze. Wenn man eine Lawine nur als Ganzes betrachtet und sie nach der Schneemenge in Kubikmetern oder der Art des Anrisses allein beurteilt, kommt man nie hinter die scheinbaren Widersprüche und Geheimnisse dieser imposanten Erscheinungen. Nur Beobachtungen tête à tête mit den sich bewegenden Massen vermögen die oft unbegreiflichen Vorkommnisse zu klären und das eigentliche Wesen der Sache aufzudecken.

Die Auswertung solcher Aufnahmen und Beobachtungen bei Naßschneelawinen gestattet, von der Art der Strömung aus gesehen, ihre Unterteilung in zwei Haupttypen. Der Anriss ist in beiden Fällen gleich, die Geländeform ähnlich, d.h. ein glatter, steiler Hang, und doch sind beide Niedergänge, in erster Linie wirkungsmässig, sehr verschieden.

A. Die Schneeverhältnisse sind aus dem Schicht- und Rammprofil 1 zu erkennen. Im wesentlichen handelt es sich um eine Neuschneeschicht mittlerer Festigkeit auf einer kohäsionsarmen Schwimm-schnee-Unterlage, Verhältnisse also, wie sie im Frühjahr regelmässig zu treffen sind.

Die Loslösung der Lawine erfolgte durch Sprengung mit 240 g Telsit J in 20 cm Tiefe. Die mittlere Geschwindigkeit auf der Beobachtungsstrecke betrug 28 km/h, die Breite des Anrisses auf der Höhe der Sprengstelle 10 m, einige Meter tiefer 60 m.

Beobachtet man die Strömung des Schnees an der Spitze ( Photos 1 und 2 ), so erkennt man, dass die strömende Masse sich vorerst auf die intakte Schneeschicht schiebt; letztere bricht dann unter der Last zusammen und beginnt sich ebenfalls zu bewegen. Schematisch kann diese Art des Vor-greifens etwa nach Skizze 1 festgehalten werden.

Das Wesentliche dabei ist die Tatsache, dass irgendwelche Gegenstände von der Oberfläche zwangsläufig in die Schneemasse hineingedrückt und durch die nachströmenden Massen zugedeckt werden ( Photos 3 und 4 ). Eine Kreisbewegung der Schneemasse in dem Sinne, dass ein Stück der Schneedecke kurze Zeit, nachdem es zugedeckt wurde, wieder an die Oberfläche gelangt, ist meistens leicht festzustellen, doch ist die Zeitdauer hierzu sehr verschieden. Die Länge der Strecke, welche benötigt wird, bis ein gefärbtes Stück wieder an die Oberfläche taucht, ist von der Art und Beschaffenheit des Schnees abhängig. Dabei ist nicht nur die Festigkeit der obersten Schicht massgebend, sondern ebensosehr diejenige der übrigen Masse. Die Kreisbewegung wird hervorgerufen durch die verschiedene Geschwindigkeit der Schneemassen. An der Oberfläche der Lawine ist die Strömung wesentlich schneller als in den tieferen Lagen, also mehr im Innern. Die vorschiessende Spitze wird durch die grosse Reibung an der intakten Oberfläche der Schneedecke verlangsamt, und die von hinten nachströmenden Teile überholen stets die vorderen, weil sie weniger Reibung zu überwinden haben.

Nach flüchtigen Überlegungen könnte man zum Schlüsse kommen, dass ein von der Lawine erfasster Gegenstand nach mehr oder weniger langer Strecke hinten wieder zum Vorschein kommen muss. Dem ist aber in Wirklichkeit nicht so. Betrachten wir nochmals Skizze 1. Der Druck auf irgendeinen erfassten Gegenstand an der Spitze der Lawine ist schräg nach vorn und nach unten gerichtet. Seine Richtung deckt sich nicht mit derjenigen der Strömung der Schneemassen. Je grösser die Angriffsfläche für den Druck bzw. je grösser der Widerstand gegen die drückende Masse ist, desto mehr wird ein Gegenstand ständig in die Tiefe gedrückt und zugleich vorwärts geschoben. Bei Versuchen wurden sehr verschiedenartige Gegenstände im Lawinenhang eingebettet. Spielbälle sind, nachdem sie vorerst zugedeckt wurden, schon nach 4-5 m wieder an der Oberfläche erschienen. Bei ca. 1 m langen Holzrollen brauchte es schon lim, und mit Steinen und Schnee gefüllte Zeltbahnen kamen überhaupt nicht mehr an die Oberfläche, ebensowenig Säcke mit Schnee gefüllt oder Puppen in menschlicher Grosse und mit 70 kg Gewicht. Diese beiden letzteren Gegenstände wurden im ruhenden Lawinenkegel an der Spitze bzw. 2-3 m hinter dieser in der Tiefe, d.h. unter der Höhe der ehemaligen Schneeoberfläche, gefunden.

1b 2c 2x1 Skizze 2 B. Die Schneeverhältnisse sind aus dem Ramm- und Schichtprofil 2 zu erkennen. Auf einer harten Unterlage liegt eine Neuschneedecke mit grosser Plastizität. Die Verbindung der beiden Schichten ist nicht gut. Es handelt sich also um Verhältnisse, wie sie den ganzen Spätwinter hindurch angetroffen werden können.

Die Lawine wurde durch Lostreten mit Ski in Gang gebracht und floss mit einer Geschwindigkeit von 21 km/h durch die Meßstrecke.

Wie die Aufnahmen der Lawinenfront zeigen, wird die oberste Schneeschicht auf der harten Unterlage vorerst vor der Lawine hergeschoben ( Photos 5 und 6 ). Die grosse Plastizität der Schicht bringt mit sich, dass es nicht zu einer einfachen Komprimierung kommt, sondern zu einer Verformung, einer Fältelung. Die Beanspruchung der Schneemasse durch den Schub von oben geht aber über ihre Plastizität hinaus, es kommt zum Bruch der Schicht. Der Widerstand der noch intakten Schneedecke bewirkt dabei eine Art rollende Bewegung, und zwar in rückläufigem Sinne gemäss den Skizzen 2 ( Photos 7 und 8 ).

Das Wesentliche bei dieser Lawinenströmung liegt darin, dass die Bewegung innerhalb der Schneedecke von unten nach oben erfolgt, also die untern Teile der Schicht nach oben kommen.

Rammwiderstand in kg 302010 Temperatur in-°C Rammwiderstand in kg 6050 Temperatur in -°C 4 x I++ x x Neuschnee nass 40 + 4Neuschnee weich Neuschnee mittelhart -O-O-O- Altschnee O-O-O-O mittelhart, groll Korngrosse nicht bestimmbar

cYq/o/o/ö /o/o/o/o/ o/o/o/o/

Altschnee hart, grobkörnig

Allschnee nass, grobkörnig A A A A A A Temperatur Rammwiderstand

Altschnee nass, grobkörnig - Temperatur Rammwiderstand Profil 1 Profil 2 Naßschnee-Lawinen, Typus ASpitze einer Lawine. Man sieht das Vorschießen der Schneemassen auf der ruhenden Decke 2 und 3: Überholen der Spitze durch nachströmende Massen. Die oberste Schicht ist immer die schnellste 4: Von hinten nach vorne gleitende Massen an der Oberfläche Naßschnee-Lawinen, Typus B 5 und 6: Vor der Lawine wird der Schnee geschoben. Er bildet auf der harten Unterlage vorerst Falten 7 und 8: Die Beanspruchung des Schnees ist größer als seine Plastizität. Die Falten brechen, und es entsteht die nach oben gerichtete Bewegung innerhalb der Schicht 249-256 - Photos E. Rohrer Alle von dieser Lawine erfassten Gegenstände werden zwangsläufig an die Oberfläche befördert. Die Lawine hat also « gutmütigen Charakter ». Wenn auch teilweise durch die nachströmenden Massen diese Art der Bewegung etwas verwischt wird, so ist, beziehungsweise bleibt sie doch in ihrer Art in der ganzen Lawine erhalten.

Diese beiden beschriebenen Lawinen bilden Extremfälle, und zwischen ihnen sind alle Übergänge zu beobachten. Bemerkenswert ist vor allem, dass bei grösseren, d.h. langen Lawinen beide Typen nacheinander auftreten können. Z. B. Typus A in den höheren und Typus B in den tieferen Lagen. Je nach dem Strömungstypus, dem der Schneerutsch angehört, sind die Chancen für eine darin verunglückte Person gross oder klein, dass sie selbst wieder herauskommt. Verschiedentlich ist schon beobachtet worden, wie ein Verunglückter lange Zeit oder sogar dauernd auf der Oberfläche der Lawine zu sehen war, in anderen Fällen das Gegenteil. Ebenfalls bekannt sind Fälle, bei welchen man eine erfasste Person vorerst längere Zeit nicht sah, sie dann aber plötzlich wie aus dem Schnee herausgeworfen wurde und nachher freiblieb.

Bei einer Lawine vom Typus B sind wir einen ca. 200 m langen Hang mit dem Schnee hinuntergefahren und konnten auch nicht einen Augenblick einen Druck oder Zug in die Tiefe verspüren - es gelang uns trotz aller Bemühungen nicht, in die Lawine zu kommen. Leider haben wir im Strömungstypus A auch das Gegenstück - hier gelingt es meistens nicht mehr, aus ihr herauszukommen.

Bei Lawinen vom Typus B kommen die Verunglückten meistens mit dem Schrecken davon, bei denjenigen des Typus A in der Regel nur mit grösseren Schäden oder dem Tod.

Fexer Skihochtouren

VON EUGEN WENZEL, ZÜRICH Mit 3 Bildern ( 257-259 ) und 1 Skizze Unter den Skigebieten des Oberengadins, wovon einige international bekannte Namen tragen, nimmt das Fextal einen recht bescheidenen Platz ein. Wenn es einerseits verständlich erscheint, dass sich die Gunst der breiten Massen den berühmten Abfahrten zuwendet, wie sie etwa im Cor-vigliagelände, am Piz Nair und auf der Diavolezza geboten werden, so muss es anderseits befremden, dass in den abseits gelegenen Tälern des Oberengadins seltener Skifahrer angetroffen werden, als es deren Eignung zu alpinem Skilauf vermuten Hesse. Während sich beispielsweise die Gipfel des benachbarten Gebietes von Bivio seit vielen Jahren regen Winterbesuchs erfreuen, gibt es im Fextal Berge, auf die manchmal winterlang keine Skispur führt. Mit der Schilderung von zwei Winterfahrten von Fex aus soll hier die Aufmerksamkeit auf eine Berggruppe gelenkt werden, die in Skifahrerkreisen tatsächHch zu wenig bekannt sein dürfte, obschon sie eine ganze Reihe grossartiger Gipfel aufweist.

Von den beiden ersten Seitentälern des Oberengadins, der Val Fedoz und dem Fextal, ist das letztere unter den Skifahrern durchaus nicht unbekannt. Wenn auch nicht allzuoft, so werden seine grossen Berge wie Piz Fora, Piz Tremoggia und Chapütschin gelegentlich bestiegen und warten mit hervorragenden Abfahrten auf. Val Fedoz allerdings muss im Winter zu den einsamsten Tälern des 18 Die Alpen - 1958 - Les Alpes273 Engadins gezählt werden. Nicht zu Unrecht vielleicht, denn wer sich je einen Einblick in dieses von steilen, unzugänglichen Flanken begrenzte Tal verschaffte, wird wenig Lust verspürt haben, dort im Winter einzudringen und etwas zu unternehmen.

Für uns lag der Fall anders. Im Laufe mehrerer Jahre hatten wir nach und nach alle namhaften Gipfel des Fextales und seiner Umgebung bestiegen und dabei oft genug Gelegenheit gehabt, auch die Berge der Val Fedoz in Augenschein zu nehmen. Es war ganz natürlich, dass wir auch anfingen, uns mit ihrer Begehbarkeit im Winter zu befassen. Besonders lebhaft hatte uns seit langem der Wunsch beschäftigt, dem Piz da la Margna, dem Wahrzeichen des Oberengadins, einen Skibesuch abzustatten. Ebensooft spielten wir auch mit dem Gedanken einer Winterfahrt auf den Fedozgletscher und Besteigungen des Monte dell'Oro und Piz Fora. Von diesen beiden aussergewöhnlichen Skitouren in der Val Fedoz soll im folgenden die Rede sein.

Piz da la Margna 3158,6 m Zu den markantesten, das gesamte Oberengadin beherrschenden Berggestalten gehört der Piz da la Margna, oder wenn wir den gebräuchlichen Namen verwenden wollen: la Margna. Einheimischen wie Gästen ist der Berg mit seinen charakteristischen Umrissen wohlvertraut, und viele Bergsteiger werden ihn dank seiner berühmten Aussicht im Sommer schon bestiegen haben. Es mag nun vielleicht abwegig erscheinen, einem Berg von der Art der Margna einen Skiweg abtrotzen zu wollen, aber uns schien es der Mühe wert, den Versuch zu machen, und der dreimalige Erfolg, der uns seither bei diesem Unternehmen beschieden war, hat unsere Erwartungen vollauf bestätigt.

Von mehreren Bergen der Nachbarschaft hatten wir im Laufe der letzten Jahre feststellen können, dass die winterlichen Anstiegsmöglichkeiten an der Margna gering waren. Am Erfolg versprechend-sten erschien uns anfänglich eine Route durch die gegen Norden gerichtete Mulde von Murtairacc. Wir sahen aber bald ein, dass wir auf diese Weise die Ski nicht viel höher als auf 2600 m benutzen konnten. Zudem hätten wir so die restlichen 500 Meter Höhenunterschied bis zum Gipfel zu Fuss über den Nordostgrat bewältigen müssen ( wie das bei vielleicht schon vorangegangenen Winterbesteigungen ausgeführt worden sein mag ), was sicher nicht der gewünschten Ideallösung einer Winterfahrt auf die Margna entsprochen hätte. Genaue Beobachtung und reifliche Überlegung liess uns schliesslich den kühnen Entschluss fassen, durch die Nordostflanke anzusteigen. War dies durchführbar, so konnte dabei der ca. 2980 m hohe Sattel im Südgrat am Fuss des Gipfelaufbaus mit Ski erreicht werden, und damit wäre das Problem einer Winterfahrt auf die Margna auf eleganteste Art gelöst.

Wohlversorgt mit einem währschaften Frühstück und guten Ratschlägen verlassen wir um 6 Uhr unser heimeliges Quartier, die « Sonne », in Fex. Während sich drüben über dem Silser See die weiten, ostwärts gerichteten Hänge des Piz Grevasalvas allmählich aus der Dämmerung lösen und bläuliches Frühlicht widerstrahlen, überschreiten wir Güve und rutschen am Ausläufer des Muott'Ota entlang zur Alp Petpreir und weiter zum Fedozbach hinab. Eine kleine Brücke erleichtert das Überschreiten der Schlucht, und auf der andern Talseite kann unverzüglich zum Angriff geschritten werden.

Obschon der von der Alp Cadsternam südwärts ansteigende Hirtenpfad nur schwach erkennbar ist, treten die von ihm verfolgten kleinen Geländeerhebungen deutlich genug hervor, um eine gute und sichere Spur anlegen zu können. Diese Spur zieht sich notwendigerweise ziemlich steil durch die nach der Val Fedoz abfallende Flanke « Cavörga » empor. Wir kommen an einem Hirtenunter- stand vorbei, und darüber erwarten uns wieder einige Hänge, die man bei Schneebrettgefahr lieber nicht durchqueren möchte. Auf der nun folgenden überraschend breiten Terrasse vergisst man jedoch ganz, wie jäh dieselbe nach der Val Fedoz abbricht, und gibt sich schon jetzt der Vorfreude der sich hier bietenden rassigen Abfahrt hin.

Nach zweistündigem Anstieg haben wir plötzlich Einblick in die grosse, zum Margnagipfel führende Mulde. Man braucht nicht kleinmütig zu sein, um sich von dieser Hochmulde beeindrucken zu lassen. Das beste ist, man greift unverzagt an. Vorerst ist uns noch etwelcher Spielraum gelassen, die Spur etwas mehr rechts oder links anzulegen, aber weiter oben wird die Bewegungsfreiheit immer mehr eingeschränkt, und zuletzt gibt es nur eine einzige Stelle, die einen sicheren Ausstieg auf das obere Firnfeld erlaubt. Wir atmen erleichtert auf, da wir nun den Weg zum Sattel am Fuss des Gipfelkopfes geebnet finden.

Hatten uns während des bisherigen Aufstiegs hauptsächlich nur die Berge der Val Fedoz, des Fextales und des Berninamassives beschäftigt, so überrascht uns jetzt mit einem Schlag die Aussicht auf das Gipfelmeer der Bergeller Berge. Wenn wir ganz an den Rand des Grates treten, fällt der Blick direkt auf den nahezu elfhundert Meter tiefer liegenden Lago da Cavlocc hinab. Besonders dieser Tiefblick lässt uns erst so recht des schwalbennestähnlichen Standortes unseres Lagers bewusst werden.

Nach kurzer Rast wenden wir uns der letzten Aufgabe, der Erkletterung des Gipfelkopfes zu. Struktur und Steilheit des Südgrates lassen vermuten, dass uns die noch verbleibenden 175 Meter Höhenunterschied allerhand zu schaffen geben werden. Solange als möglich halten wir uns an die Gratkante. Weiter oben werden wir aber doch in die Ostflanke gedrängt, wo uns böse Schneestampferei erwartet. Teilweise versinken wir bis über die Hüften im haltlosen Pulverschnee, und wenn wir endlich Fuss fassen, so stehen wir auf abwärts geschichteten Felsplatten. Wir sind herzlich froh, nach mehreren solcher Quergänge wieder zum Grat aufsteigen zu können. Vorsichtig turnen wir über tückisch verschneite Felsen hinweg und erreichen bald darauf den höchsten Gipfelpunkt.

Im Eifer des Kletterns war uns kaum aufgefallen, dass wir inzwischen von Nebelwolken umhüllt worden waren, und damit werden wir jetzt eigentlich um das Schönste der ganzen Tour gebracht. Ausser einigen kurzen Ausblicken, welche uns durch aufreissende Löcher in der Nebelwand gewährt werden, haben wir von der vielgerühmten Aussicht der Margna nichts. Während wir frierend um den Steinmann herum stehen, kann uns nur der Gedanke aufheitern, dass wir von den Tausenden von Skifahrern, welche das Engadin bevölkern, die einzigen sind, die zu dieser Stunde auf einem der markantesten Berge des Oberengadins stehen. Obgleich dieses an sich erhebende Gefühl eine gewisse innere Wärme zu erzeugen vermag, werden wir durch die von aussen wirkende nebelfeuchte Kälte dazu gezwungen, den Gipfelaufenthalt abzukürzen und den Abstieg anzutreten.

Dieser vollzieht sich bedeutend leichter, da wir nur der ausgetretenen Spur zu folgen brauchen. Der Gefährlichkeit der Verhältnisse in der Ostflanke bewusst, lassen wir höchste Vorsicht walten und sind froh, ohne Zwischenfall unser Skilager zu erreichen. Bevor wir zur Abfahrt ansetzen, wird noch rasch der Vorgipfel erstiegen, von welchem sich ein gutes Bild des Gipfelaufbaus machen lässt.

Mag es einerseits ärgerlich sein, feststellen zu müssen, dass wir nur in der Gipfelregion in einer Nebelhaube steckten, so freut uns anderseits das schöne Licht, das wir nun zur Abfahrt geniessen können. Die Schneeverhältnisse in der grossen Mulde sind hervorragend und lassen die enorme Steilheit fast vergessen. Erst zaghaft, dann immer dreister, reihen wir Telemark an Telemark und stehen nach unglaublich kurzer Zeit schon wieder auf der Terrasse von Cavörga. Auf der nun nordwärts führenden Querfahrt haben wir Gelegenheit, das ganze Oberengadin zu überschauen, das sich jetzt in der Spätnachmittagbeleuchtung in seltener Schönheit zeigt. Am Brücklein des Fedozer Baches müssen wir nochmals die Felle kleben, um uns die Gegensteigung nach Güve zu erleichtern. Kurz nach Sonnenuntergang überschreiten wir den Sattel und wenden uns Fex zu.

Vielerlei stürmt so an einem Tourentag auf einen Menschen ein. Tausend Eindrücke haben ihn stundenlang beschäftigt, doch jetzt, wo ihm zwischen Lärchenstämmen die Lichter der « Sonne » entgegenleuchten, überlässt er Körper und Geist willig einer wohltuenden Müdigkeit. Er sehnt sich nach Wärme und Geborgenheit, und diese werden ihm bald in reichem Mass von Frau Fümm entgegengebracht.

Fedozer Fahrt. Piz Fora 3363 m Nachdem wir im Laufe mehrerer Winter sämtliche Berge des Fexer Gebietes kennen gelernt hatten, verblieb zuletzt nur noch eine Tour in der Val Fedoz. Zwar wussten wir schon lange, dass es möglich und einfacher wäre, den Fedozgletscher vom Fextal aus über die gleichnamige Fuorcla zu erreichen, aber irgendwie stach uns die Neugier, den Anstieg durch Val Fedoz zu versuchen. Wir waren uns der Schwierigkeiten, die sich einer solchen Unternehmung entgegenstellen würden, wohl bewusst, wobei wir insbesondere an die grosse, hinterste Talstufe dachten, aber gleichwohl hatten wir von verschiedenen Beobachtungspunkten aus den Eindruck gewonnen, dass eine Durchstiegsmöglichkeit bestand. Als wir uns schliesslich für die Tour entschieden, wussten wir noch nicht, dass dies die denkwürdigste Skifahrt im Fexer Gebiet für uns werden sollte.

Wie immer bei grossen Touren, die wir von Fex aus unternehmen, können wir mit allem versorgt um 6 Uhr das gastliche Haus verlassen. Weit draussen im Unterengadin kündet sich bereits der neue Tag durch Rötung des Himmels an, wie wir auf bekannter Route über Giivé in die Val Fedoz hinüberwechseln. Diesmal brauchen wir nicht zum Fedozbach abzufahren, wie dies für die Margna-besteigung nötig war. Auf der rechten Bachseite bleibend, geht es hindernislos taleinwärts, und wir wissen, dass uns ein ziemlich eintöniger sich über 5½ km erstreckender Langlauf bevorsteht. Beidseitig ragen felsdurchsetzte Flanken empor, und man würde nicht glauben, dass über diesen Felsen eine begehbare Terrasse zur Margna liegt.

Nach zwei Stunden Marsch haben wir im Talhintergrund erst 200 Meter Höhe gewonnen. Abweisend stellt sich uns jetzt unvermittelt eine über 500 Meter hohe Stufe entgegen. In früheren Jahren mag einmal eine Durchstiegsmöglichkeit im unteren Fedozgletscher bestanden haben. Zur Zeit trifft man das Gletscherende in völlig zusammengebrochenem Zustand an, so dass ein Durchkommen ausgeschlossen ist. Wir steigen also am westlichen Rand des Gletscherabbruchs in eine Rinne ein, in der es aber nur zu bald unerträglich eng und steil wird. Bei einem seitlichen Ausweich-versuch werden wir mit Entsetzen frischer Risse im Schnee gewahr und müssen augenblicklich auf weiteres Spuren verzichten. Über eine mit widrigem Salzschnee überzogene Rippe mühen wir uns nun zu Fuss weiter empor. Der Ausstieg aus dem dräuenden Rachen des Couloirs ist noch so steil und unheilgeladen, dass wir kaum zu atmen wagen. Beim Betreten des sicheren Gletscherbodens wird uns klar, diesen Weg, möge kommen was wolle, im Abstieg auf keinen Fall mehr zurück zu gehen.

Die herrlichen Flächen des Fedozgletschers lassen das eben durchgemachte Abenteuer bemerkenswert schnell vergessen. Einem Vordringen zum Monte dell'Oro und Piz Fora scheint sich kein Hindernis mehr entgegenzustellen. Auf der Gratsenke oberhalb der Fuorcla da Fedoz angekommen, müssen wir aus Zeitmangel den geplanten Abstecher auf den Monte dell'Oro leider fallenlassen. Das braucht uns allerdings nicht allzu leid zu tun, da sich uns von der erreichten Stelle aus die gleiche Aussicht darbietet. Der Anblick der wahrhaft königlichen Gestalt des Monte della Disgrazia allein wiegt die ganze bisher aufgewendete Mühe auf. Nur ungern reissen wir uns von diesem eindrucksvollen Bild los und streben unserem zweiten Ziel, dem Piz Fora, entgegen.

Um keine Höhe mehr zu verlieren, wenden wir uns von der Fuorcla da Fedoz ostwärts und steigen im hintersten Becken des Gletschers so lange an, bis uns eine jäh aufragende Firnwand Halt gebietet. Kurz entschlossen entledigen wir uns der Ski und nehmen den Pickel zur Hand. Glücklicherweise geht das Blankeis bald in Firn über, sonst hätten wir kostbare Zeit eingebüsst. Am Grat angekommen, ist nur noch ein kurzes Stück zu Fuss zurückzulegen, dann wird der Südwestkamm wieder mit Ski begehbar, und wenig später betreten wir nachmittags um halb 4 Uhr den Gipfel des Piz Fora.

Seit langem hat uns das Erreichen eines Zieles nicht mehr so gefreut wie heute. Als wir am Vormittag beim Durchstieg der grossen Talstufe zu viel Zeit eingebüsst hatten, war der Ausgang des Unternehmens ungewiss geworden, und während einiger Zeit stand uns das Schreckbild eines Wiederabstiegs nach der Val Fedoz drastisch vor Augen. Nun können wir erleichtert aufatmen. Die Freude am Gelingen dieser Tour wird noch durch geradezu ideale Witterungsverhältnisse unterstützt. Die übliche Gipfelstunde muss allerdings um die Hälfte gekürzt werden. Es bleibt uns aber genügend Zeit, die eigenartige Stimmung, die solch späten Nachmittagsstunden eigen sein kann, richtig zu gemessen.

Da durch vorangegangene Stürme auch der gegen das Fextal gerichtete Nordgrat blankgefegt worden war, sind wir gezwungen, vorerst zu Fuss abzusteigen. Wir müssen sogar nochmals zum Pickel greifen, um einer blanken Eispartie Herr zu werden und auf führigen Schnee zu gelangen. Schon glauben wir, eine gesicherte Abfahrt vor uns zu haben, als wir wieder auf Eis geraten. Um weiter keine Zeit mehr zu verlieren, entschliessen wir uns für einen horizontalen Quergang im obersten Hang des Güzgletschers, bei dessen Ausführung uns wohl ähnliche Gefühle beschleichen, wie sie etwa einen Seiltänzer über dem Niagarafall bedrängen könnten. Der Clou gelingt. Nachdem wir uns wieder zusammengeschlossen haben, wenden wir uns unverzüglich der nun sicheren und wie immer prächtigen Abfahrt über den Güzgletscher zu. Das vom gegenüberliegenden Tremogiagletscher zurückgeworfene Abendlicht kommt uns sehr zustatten. Wie wir nämlich den Talboden erreichen, ist auch das letzte rote Glühen am Piz Tremoggia verschwunden. Beim Einnachten kehren wir im Hotel Fex ein.

Ein heisser Grogg zur rechten Zeit kann Wunder wirken. Wenn es deren zwei sind und in den nüchternen Magen getrunken werden, können sie einen Skifahrer mutiger machen, als es nötig erscheint, um eine noch bevorstehende Strassenfahrt anzutreten. Glücklicherweise ist das Gefälle im Fextal nicht gross, und überdies ist kurz vor Fex-Crasta noch eine allerletzte Gegensteigung zu überwinden. Unter einem von Sternen besäten Himmel marschieren wir nach mehr als 12 Stunden etwas müde aber hochbefriedigt in unserem Quartier ein.

Es braucht vielleicht nicht darauf hingewiesen zu werden, dass eine Rundtour durch Val Fedoz ins Fextal nicht empfehlenswert ist. Der Piz Fora kann ja viel einfacher von der Fexer Seite bestiegen werden. Mit den beiden geschilderten Touren auf die Margna und den Piz Fora ist jedoch nur wenig über das ganze Fexer Gebiet ausgesagt. Gleicherweise könnte von rassigen Skifahrten auf den Piz Tremoggia, Piz Led, auf den Chapütschin und Piz Corvatsch und ebenso von solchen auf den Piz Lagrev und Piz Grevasalvas berichtet werden. Vielleicht mögen vorstehende Hinweise dazu beitragen, einem noch zu wenig bekannten Gebiet des Oberengadins vermehrten Winterbesuch zu bringen.

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